Einleitung
Das Konzept der gesellschaftlichen Differenzierung ist ein klassischer Ansatz der westlichen Soziologie, aber auch anderer Nachbarwissenschaften wie der Kulturanthropologie. Es ebnet einen Königsweg für die sozialwissenschaftliche Erklärung und Theoriebildung: Die meisten Klassiker der Soziologie - ob Emile Durkheim, Norbert Elias oder Niklas Luhmann - haben ungeachtet ihrer paradigmatisch unterschiedlichen Ansätze mit analytischen Kategorien des Differenzierungskonzepts operiert, wenn sie Theorien über die Struktur und die Entwicklung moderner Gesellschaften auszuarbeiten suchten. Im Kern bezeichnet das Konzept eine Steigerung der sozialen Arbeitsteilung, die das Aufbrechen traditioneller Strukturen innerhalb einer Gesellschaft fördert.
Trotz der Multidimensionalität und vielversprechenden Möglichkeiten des Differenzierungskonzepts gesellschaftsstrukturelle Entwicklungen zu analysieren, hat sich die Differenzierungstheorie kaum evolutionären Prozessen in Regionen der arabischen Welt gestellt. Weder die systemimmanenten Eigenschaften sich entwickelnder arabischer Gesellschaften noch die Ursachen, die den Übergang von einem Gesellschaftstyp zum anderen bewirken, sind systematisch ins Blickfeld des soziologischen Differenzierungskonzepts geraten. Es ist jedoch unverkennbar, dass langfristige Transformationen nicht nur in westlichen, sondern auch in arabischen Gesellschaften stattfinden.
Dieser Beitrag will einen Schritt in diese Richtung machen. Er beschäftigt sich mit gesellschaftlichen Differenzierungsvorgängen in Marokko und ihre Auswirkungen am Beispiel des Familienrechts. Denn gerade das marokkanische Familienrecht kann aufgrund seiner erfolgreich verlaufenden strukturellen Entkopplung von religiösen Inhalten als ein Musterbeispiel für einen Differenzierungsverlauf in arabischen Gesellschaften angesehen werden. Zur systematischen Erschließung dessen wird die geschichtliche Entwicklung des Familienrechts in drei Phasen zerlegt:
Familienrecht im Wirkungskreis des islamischen Rechts im vorkolonialen Marokko
Zum Verhältnis von Familienrecht und Protektorat (1912-1956)
Geburt des modernen Familienrechts in Marokko ab 1956
Familienrecht im vorkolonialen Marokko
Die sozialwissenschaftliche Forschungslage zum Familienrecht in der vorkolonialen Phase in Marokko erweist sich als lückenhaft. Laut dem marokkanischen Philosophen Mohammed Abed al-Jabri sei die marokkanische Geschichte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch nicht kritisch erforscht worden.
Die Eheschließung und Familienbildung im vorkolonialen Marokko dienten nicht nur der Institutionalisierung, sondern erfüllten zudem die Funktion der sozialen Stabilität und schützten vor der sogenannten Fitna, dem sozialen Chaos. Diese Vorstellung beruhte auf der Sorge vor den scheinbar unkontrollierten Kräften der weiblichen Sexualität, die als eine Gefahr für die islamische Gemeinschaft (Umma) erachtet wurden, falls sie nicht in einem ehelichen Rahmen "kontrolliert" würden.
Rechtsordnung in den Städten:
Das Zentrum Marokkos lässt sich als traditionell und statisch beschreiben. Die Regierung des Sultans zeichnete sich durch relative Homogenität aus; sie bestand lediglich aus einem Minister, Palastmeister, Schriftführer, Boten und um die Städte herum stationierte Soldaten.
Eine umfassende Beschreibung aller Zuständigkeitsbereiche der Scharia würde den Rahmen sprengen. Allerdings kann man zusammenfassend feststellen, dass alle rechtsrelevanten Handlungen in den Wirkungskreis der Scharia fielen. Geprägt wurde sie im Wesentlichen von der malikitischen Rechtsschule, deren Inkorporierung in Marokko in das 8. Jahrhundert zurückreicht. Seitdem tauchten die heiligen Texte des Koran und der Sunna als Rechtsquellen auf und wurden von den islamischen Rechtsgelehrten gelehrt und praktiziert. Diese Gelehrten wiederum nahmen innerhalb der Justizeinrichtungen eine besondere Stellung ein und waren in Moscheen und Lehreinrichtungen (an deren Spitze die Universität Al-Qarawiyyin in der Stadt Fez) repräsentiert. Die heiligen Texte stellten in den damaligen Lehreinrichtungen die wichtigsten Lehr- und Lerninhalte dar. Dagegen nahmen andere Wissenschaften wie Philosophie oder Logik eine untergeordnete Stellung ein.
Rechtsordnung in den Berber-Stämmen:
Die Stämme lassen sich über die gemeinsame Genealogie als ein System der Verwandtschaft beschreiben. Sie bildeten keinen einheitlichen Organismus, sondern bestanden aus vielen strukturell einander ähnlichen Segmenten. Jeder Stamm verfügte über ein bestimmtes Territorium als Basis seiner politischen und ökonomischen Macht und Ausdruck seiner Einheit. Zudem waren sie abhängig von der Viehzucht und Landwirtschaft und waren durch eine schwache Arbeitsteilung unter dem Primat von Alter und Geschlecht differenziert. Die segmentäre Differenzierung der sozialen Ordnung in den Stämmen bestimmte auch das Familienrecht: So war die Eheschließung und Familienbildung "Privatsache" eines jeden Stammes.
Das Familienstammesrecht bestand aus regionalen Bräuchen und Gewohnheiten und war neben der Scharia ein wichtiger Teil der geltenden Rechtsordnung. Der Stammesrat brachte das Recht zur Geltung und konnte alle ihm vorgelegten rechtsrelevanten Fälle autonom entscheiden. Dabei besaß das männliche Geschlecht eine uneingeschränkte Autorität. Beispielsweise waren Frauen vom Stammesrat ausgeschlossen und durften ihr Erbe nicht selbst verwalten. In den Atlasgebieten durften die Frauen nach dem Tod des Ehemannes sogar nicht einmal erben.
Zum Verhältnis von Familienrecht und Protektorat
Eine Strukturveränderung in der marokkanischen Sozialordnung kann man erst während der Kolonialzeit beobachten. Eine allmähliche Modernisierung und Industrialisierung des Landes kam in Gang.
Seit 1913 kann man feststellen, dass sich auf der Grundlage des französischen Rechts ein vom islamischen Recht getrenntes Straf- und Zivilrecht entwickelte. Es entstanden gerichtliche Verfahrensformen mit entsprechenden Gerichtsbarkeiten. Neue und auf bestimmte Rechtsbereiche spezialisierte Gerichte wurden errichtet und durch die französische Gerichtsverfassung geregelt. Außerdem wurden neue Gesetze erlassen, die bis heute Anwendung finden, wie etwa das Vertrags- und Beurkundungsgesetz.
Dieser Dualismus lässt sich auch im Bereich der Bildung beobachten. Die koloniale Verwaltung modernisierte zwar die islamische Universität Al-Qarawiyyin, veränderte sie jedoch strukturell nicht: Wie Jahrhunderte zuvor bildeten dieselben Lehr- und Forschungsmethoden und dieselben Curricula die Grundlagen der Universität. Parallel dazu wurden neue, moderne Bildungseinrichtungen gegründet, die sich nach der Unabhängigkeit Marokkos rasch im ganzen Land verbreiteten und nach europäisch-säkularem Vorbild organisiert waren. Beispielsweise gab es bis zum Jahre 1936 nur einen marokkanischen Absolventen der Rechtswissenschaften im ganzen Land. Im Gegensatz dazu waren im Jahre 1959 1725 Studierende an der Juristischen Fakultät in Rabat eingeschrieben.
Diese Entwicklungen im Rechts- und Bildungsbereich sind prägnante Beispiele dafür, wie in Marokko die Grundlagen für die Entwicklung und Ausgestaltung von modernen Funktionsbereichen wie Wissenschaften, Recht oder Bildung geschaffen wurden. Die Sozialordnung, die sich aufgrund dieser Veränderungen herauskristallisierte, hat zu einer Neuorganisation der geschlechtlichen Arbeitsteilung geführt. Dementsprechend spezialisierte sich das Familienleben, während das Ehe- und Familienrecht im Zuständigkeitsbereich der Religion blieb. Dadurch entstand ein Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch auf Modernität und der Schwierigkeit, diesen Anspruch ohne islamischen Identitätsverlust zu verwirklichen. Beispielsweise sah das marokkanische Familienrecht eine klare geschlechtliche Arbeitsteilung nach klassisch-islamischem Ideal vor, in dem der Ehemann für den öffentlichen und die Ehefrau für den häuslichen, privaten Bereich zuständig waren. Aber durch die zunehmende Beteiligung der Frau am Arbeitsmarkt nahm ihre soziale Rolle im öffentlichen Raum enorm zu, während ihre rechtliche Stellung unverändert blieb. Die postkoloniale Geschichte ist von diesem Dualismus und der Suche nach einem Ausweg daraus geprägt. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in den zahlreichen Initiativen des marokkanischen Staates wider, das Familienrecht zeitgemäß zu gestalten.
Geburt des modernen Familienrechts
Betrachtet man die Entwicklung des Familienrechts seit der Unabhängigkeit am 6. September 1956, so drängt sich der Eindruck auf, dass die Mechanismen und Einflussfaktoren dieses Prozesses nicht systemimmanent waren. Sie lassen sich vielmehr auf äußere Einflüsse zurückführen. Wie in der Kolonialzeit erfolgten gesellschaftliche Differenzierungsvorgänge auch in der postkolonialen Phase nach demselben Schema: induziert von außen durch die Monarchie und durch globale Strukturmuster westlicher Prägung.
So war unmittelbar nach der Unabhängigkeit ein königliches Dekret erlassen worden, um das Familienrecht in Gesetzesform zu kodifizieren, woraufhin zum ersten Mal sechs Gesetzbücher entstanden, die das Familienrecht im gesamten Land vereinheitlichten. Die Inhalte der Gesetze beruhten jedoch weiterhin auf den religiösen Quellen der Scharia. Diese übertrugen Männern und Frauen unterschiedliche Rechte und Pflichten. Sie waren nicht gleichberechtigt. So durfte der Ehemann beispielsweise ohne jegliche Angabe von Gründen und ohne ein gerichtliches Verfahren seine Frau verstoßen, während die Ehefrau die Scheidung nur aus geregelten Gründen beantragen durfte. Im Laufe der Zeit kam es zu erheblichen Bedenken gegen eine solch patriarchalische Auslegung der Scharia. Viele Diskurse beschreiben das kodifizierte Familienrecht daher als eine unveränderte Wiederholung in einer sich wandelnden Gesellschaft.
Dieser Prozess beschleunigte sich mit der Integration des Landes in globale Strukturen. Die globalen Einflüsse berührten nicht nur den öffentlichen Bereich, sie durchdrangen auch die Privatsphäre und das Familienleben. Seit der Mitgliedschaft Marokkos in den Vereinten Nationen im November 1956 ist eine wachsende Einbindung des Landes in das internationale Rechtssystem zu beobachten. Dieses internationale, säkularisierte Rechtssystem bietet einen Referenzrahmen, auf den sich Menschenrechts- und Frauenorganisationen in Marokko berufen können. Vor diesem Hintergrund hatten sie im Frühjahr 1992 eine Aktion gestartet mit dem Ziel, eine Million Unterschriften für die Gleichberechtigung zu sammeln.
Erst mit der Liberalisierungswelle und der neuen Geschlechterpolitik König Mohammed VI., der seit 1999 das Land regiert, wurden die Forderungen der marokkanischen Frauenbewegung aufgenommen. Im Jahre 2001 setzte er eine Beratungskommission aus Juristen und religiösen Rechtgelehrten ein, welche ihm einen ersten Reformvorschlag vorlegte. Die Änderungen zielten darauf, die säkularen universellen Normen unter Achtung der religiösen Besonderheiten des Landes in das nationale Familienrecht zu integrieren. Am 10. Oktober 2003 schließlich gab der König das neue Familienrecht bekannt. Vor allem die Frau verbesserte ihren formalen Rechtsstatus und findet mehr Anerkennung, wie die folgenden Sachverhalte aus der neuen Familiengesetzgebung zeigen:
Anders als im klassisch-islamischen Familienrecht wurde die gängige Praxis der Verstoßung abgeschafft. Das Scheidungsrecht gewinnt nun säkulare, zivilrechtliche Konturen, da die Scheidung in staatlichen Familiengerichten geregelt wird (Art. 78).
Die hierarchische Familienstruktur ist durch eine gleichberechtigte Verantwortung der Ehepartner im Haushalt und in der Familie ersetzt (Art. 51).
Die Frau braucht keinen Vormund mehr bei der Eheschließung (Art. 25).
Das Mindestheiratsalter für die Frau ist wie beim Mann auf 18 Jahre heraufgesetzt; Ausnahmen sind nur mit richterlicher Genehmigung möglich (Art. 20).
Zudem ist die Polygamie sehr stark eingeschränkt und nur in äußersten Ausnahmefällen möglich (Art. 40).
Unmittelbar nach der Bekanntmachung des neuen Familienrechts wurden im marokkanischen Rechtssystem säkulare Familiengerichte eingerichtet. Um eine entsprechende Rechtspraxis der neuen Familiengesetzgebung zu gewährleisten, erhalten die Richter zusätzliche Weiterbildungsmaßnahmen. Zudem wird der Versuch unternommen, den Zugang zur Justiz zu stärken. Dadurch konnte der strukturelle Dualismus im Rechtssystem Marokkos, der das Land seit der Kolonialzeit prägte, zum großen Teil überwunden werden.
Schlussbetrachtung
Die Evolution des Familienrechts in Marokko eignet sich besonders gut, die Besonderheiten der Differenzierungsvorgänge in der marokkanischen Gesellschaft aufzuzeigen. Aus den Ergebnissen lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen:
Die gesellschaftliche Entwicklung in Marokko deutet darauf hin, dass die Bildung moderner, säkularer Strukturen im öffentlichen Bereich formal zumindest relativ schnell verlaufen ist. Die koloniale Verwaltung hat die in Europa ausgebildeten Strukturen sukzessive auf Marokko übertragen. Durch die Integration des Landes in globale Strukturmuster wurde die zunehmende funktionale Differenzierung beschleunigt; anders als in Europa, wo die Ausdifferenzierung der Funktionsbereiche von innen heraus erfolgte und dafür Jahrhunderte in Anspruch nahm.
Im Gegensatz zur gesellschaftlichen Entwicklung in Europa verliefen Differenzierungsvorgänge in Marokko nicht mit systemeigenen Mitteln, sondern wurden von außen herbeigeführt - wie man deutlich an der Zentralisierung Marokkos und am Transfer moderner Funktionsbereiche seit der Kolonialzeit sehen kann. Diese Entwicklung wurde in der postkolonialen Phase durch die Monarchie und durch die Inklusion Marokkos in globale Strukturen fortgesetzt und ist bis heute noch nicht abgeschlossen.
Abschließend ist festzuhalten, dass die Evolution des Familienrechts in Marokko als Beleg dafür gesehen werden kann, dass sich die Regelungen der Scharia und universelle Menschenrechte keineswegs widersprechen müssen, sondern miteinander vereinbar sind. Insofern lässt sich die soziale und rechtliche Diskriminierung der Frau vielmehr mit den patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen erklären, die bestimmte Auslegungen der heiligen Texte artikulieren.