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Gesellschaftliche Differenzierungsprozesse und Wandel des Frauen- und Familienrechts in Marokko | Arabische Welt | bpb.de

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Gesellschaftliche Differenzierungsprozesse und Wandel des Frauen- und Familienrechts in Marokko

Kamal El Guennouni

/ 13 Minuten zu lesen

In Marokko lässt sich seit der Unabhängigkeit eine strukturelle Entkopplung des Familienrechts von religiösen Inhalten beobachten. Eine zentrale These ist, dass die Mechanismen dieser Entwicklung durch äußere Eingriffe herbeigeführt wurden.

Einleitung

Das Konzept der gesellschaftlichen Differenzierung ist ein klassischer Ansatz der westlichen Soziologie, aber auch anderer Nachbarwissenschaften wie der Kulturanthropologie. Es ebnet einen Königsweg für die sozialwissenschaftliche Erklärung und Theoriebildung: Die meisten Klassiker der Soziologie - ob Emile Durkheim, Norbert Elias oder Niklas Luhmann - haben ungeachtet ihrer paradigmatisch unterschiedlichen Ansätze mit analytischen Kategorien des Differenzierungskonzepts operiert, wenn sie Theorien über die Struktur und die Entwicklung moderner Gesellschaften auszuarbeiten suchten. Im Kern bezeichnet das Konzept eine Steigerung der sozialen Arbeitsteilung, die das Aufbrechen traditioneller Strukturen innerhalb einer Gesellschaft fördert. Gesellschaftliche Differenzierung ist ein geschichtlicher Prozess, in dem sich bestimmte Funktionsbereiche (wie Politik, Recht, Bildung) und soziale Rollen über einen längeren Zeitraum nach funktionalen Gesichtpunkten in der Weise ausdifferenzieren, dass sie sich zunehmend auf bestimmte Interessen spezialisieren und ein Mindestmaß an Autonomie erhalten.

Trotz der Multidimensionalität und vielversprechenden Möglichkeiten des Differenzierungskonzepts gesellschaftsstrukturelle Entwicklungen zu analysieren, hat sich die Differenzierungstheorie kaum evolutionären Prozessen in Regionen der arabischen Welt gestellt. Weder die systemimmanenten Eigenschaften sich entwickelnder arabischer Gesellschaften noch die Ursachen, die den Übergang von einem Gesellschaftstyp zum anderen bewirken, sind systematisch ins Blickfeld des soziologischen Differenzierungskonzepts geraten. Es ist jedoch unverkennbar, dass langfristige Transformationen nicht nur in westlichen, sondern auch in arabischen Gesellschaften stattfinden.

Dieser Beitrag will einen Schritt in diese Richtung machen. Er beschäftigt sich mit gesellschaftlichen Differenzierungsvorgängen in Marokko und ihre Auswirkungen am Beispiel des Familienrechts. Denn gerade das marokkanische Familienrecht kann aufgrund seiner erfolgreich verlaufenden strukturellen Entkopplung von religiösen Inhalten als ein Musterbeispiel für einen Differenzierungsverlauf in arabischen Gesellschaften angesehen werden. Zur systematischen Erschließung dessen wird die geschichtliche Entwicklung des Familienrechts in drei Phasen zerlegt:

  • Familienrecht im Wirkungskreis des islamischen Rechts im vorkolonialen Marokko

  • Zum Verhältnis von Familienrecht und Protektorat (1912-1956)

  • Geburt des modernen Familienrechts in Marokko ab 1956

Familienrecht im vorkolonialen Marokko

Die sozialwissenschaftliche Forschungslage zum Familienrecht in der vorkolonialen Phase in Marokko erweist sich als lückenhaft. Laut dem marokkanischen Philosophen Mohammed Abed al-Jabri sei die marokkanische Geschichte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch nicht kritisch erforscht worden. Thematisiert sei entweder eine national eingefärbte Geschichte, die die Gegensätze und Kämpfe im Land ausblende, oder eine nichtnationale Geschichte, die von französischen Historikern unter Einfluss der kolonialen Verwaltung dokumentiert sei. Die unzureichende Forschungslage berührt insbesondere die Geschlechterthematik und kann ebenso auf die kaum institutionalisierte Geschlechterforschung an den marokkanischen Universitäten zurückgeführt werden - was wiederum als ein gesellschaftsstruktureller Ausdruck der Tabuisierung geschlechtlicher Beziehungen betrachtet werden kann. Intimbeziehungen waren immer Gegenstand moralischer Bedenken in der arabischen Welt und gelten bis heute weitgehend als tabuisierter Bereich. Erörtert wurden von einigen Ethnologen und Soziologen einzig Aspekte, die das Familienrecht und die Ehepraxis betreffen.

Die Eheschließung und Familienbildung im vorkolonialen Marokko dienten nicht nur der Institutionalisierung, sondern erfüllten zudem die Funktion der sozialen Stabilität und schützten vor der sogenannten Fitna, dem sozialen Chaos. Diese Vorstellung beruhte auf der Sorge vor den scheinbar unkontrollierten Kräften der weiblichen Sexualität, die als eine Gefahr für die islamische Gemeinschaft (Umma) erachtet wurden, falls sie nicht in einem ehelichen Rahmen "kontrolliert" würden. Insofern war die Ehe nicht gegenüber Instanzen der öffentlichen Gewalten, sondern gegenüber der islamischen Gemeinschaft zu legitimieren. Die Familie zeichnete sich durch eine patriarchale und agnatische Struktur aus, in der die Polygamie sowohl in allen sozialen Schichten als auch Regionen weit verbreitet war. In juristischer Hinsicht existierte keine allgemeingültige Rechtsreferenz für das Familienrecht und die Ehepraxis. Eine Reihe religiöser und ungeschriebener Gewohnheitsrechte organisierte die eheliche Institution. Dieser Rechtspluralismus herrschte vor allem bei den Berber-Stämmen. Die rechtsplurale Struktur war unmittelbar mit der politischen und sozialen Ordnung dieser Stämme verbunden. Die zentrale Regierungsgewalt versuchte landesweit islamische Rechtsnormen einzuführen, tastete aber gleichzeitig die traditionellen Rechtsstrukturen der Stämme nicht an. So schaffte das Zentrum (Regierungsgewalt) eine Koexistenz zwischen dem universalistischen, islamischen Recht und dem partikularen Gewohnheitsrecht der Peripherie (den verschiedenen Regionen). Systematisch ließen sich zwei Rechtsformen unterscheiden: eine in den Städten, im Zentrum des Landes und eine zweite in den ländlichen Regionen in den Stämmen, der Peripherie des Landes.

Rechtsordnung in den Städten:

Das Zentrum Marokkos lässt sich als traditionell und statisch beschreiben. Die Regierung des Sultans zeichnete sich durch relative Homogenität aus; sie bestand lediglich aus einem Minister, Palastmeister, Schriftführer, Boten und um die Städte herum stationierte Soldaten. Das Treffen rechtsverbindlicher Entscheidungen basierte ausschließlich auf dem islamischen Recht, der Scharia, auf deren Grundlage Verstöße gegen das Recht festgestellt und Unrecht beseitigt werden konnten. Das Familienrecht wurde unmittelbar aus den Hauptquellen der Scharia, dem Koran und der Sunna, entnommen und galt in diesem Sinne als heilig. Die Scharia regelte nicht nur die Eheschließung und Scheidung, sie durchdrang auch alle Bereiche des ehelichen Zusammenlebens und des Erbrechts.

Eine umfassende Beschreibung aller Zuständigkeitsbereiche der Scharia würde den Rahmen sprengen. Allerdings kann man zusammenfassend feststellen, dass alle rechtsrelevanten Handlungen in den Wirkungskreis der Scharia fielen. Geprägt wurde sie im Wesentlichen von der malikitischen Rechtsschule, deren Inkorporierung in Marokko in das 8. Jahrhundert zurückreicht. Seitdem tauchten die heiligen Texte des Koran und der Sunna als Rechtsquellen auf und wurden von den islamischen Rechtsgelehrten gelehrt und praktiziert. Diese Gelehrten wiederum nahmen innerhalb der Justizeinrichtungen eine besondere Stellung ein und waren in Moscheen und Lehreinrichtungen (an deren Spitze die Universität Al-Qarawiyyin in der Stadt Fez) repräsentiert. Die heiligen Texte stellten in den damaligen Lehreinrichtungen die wichtigsten Lehr- und Lerninhalte dar. Dagegen nahmen andere Wissenschaften wie Philosophie oder Logik eine untergeordnete Stellung ein. Zugang zu diesen vormodernen Lehreinrichtungen hatten lediglich Männer aus der einflussreichen arabischen Oberschicht.

Rechtsordnung in den Berber-Stämmen:

Die Stämme lassen sich über die gemeinsame Genealogie als ein System der Verwandtschaft beschreiben. Sie bildeten keinen einheitlichen Organismus, sondern bestanden aus vielen strukturell einander ähnlichen Segmenten. Jeder Stamm verfügte über ein bestimmtes Territorium als Basis seiner politischen und ökonomischen Macht und Ausdruck seiner Einheit. Zudem waren sie abhängig von der Viehzucht und Landwirtschaft und waren durch eine schwache Arbeitsteilung unter dem Primat von Alter und Geschlecht differenziert. Die segmentäre Differenzierung der sozialen Ordnung in den Stämmen bestimmte auch das Familienrecht: So war die Eheschließung und Familienbildung "Privatsache" eines jeden Stammes.

Das Familienstammesrecht bestand aus regionalen Bräuchen und Gewohnheiten und war neben der Scharia ein wichtiger Teil der geltenden Rechtsordnung. Der Stammesrat brachte das Recht zur Geltung und konnte alle ihm vorgelegten rechtsrelevanten Fälle autonom entscheiden. Dabei besaß das männliche Geschlecht eine uneingeschränkte Autorität. Beispielsweise waren Frauen vom Stammesrat ausgeschlossen und durften ihr Erbe nicht selbst verwalten. In den Atlasgebieten durften die Frauen nach dem Tod des Ehemannes sogar nicht einmal erben. Derlei Praktiken haben eine vorislamische Tradition und konnten in vielen Fällen ohne Rücksicht auf das islamische Recht durchgesetzt werden. Denn ökonomisch wie auch politisch waren die Stämme autonom und entzogen sich der Herrschaft der zentralen Regierungsgewalt. Erst im Laufe der Kolonialzeit dehnte sich die Zentralgewalt allmählich auf sämtliche Regionen Marokkos aus. Im Jahre 1934 gelang es der Kolonialmacht, unter Einsatz militärischer Mittel die Stammesstrukturen weitgehend zu zerstören und die Stämme unter staatliche Herrschaft zu bringen. Alle Stämme verloren ihre Autonomie, und Marokko wurde zum ersten Mal in seiner Geschichte zentralisiert.

Zum Verhältnis von Familienrecht und Protektorat

Eine Strukturveränderung in der marokkanischen Sozialordnung kann man erst während der Kolonialzeit beobachten. Eine allmähliche Modernisierung und Industrialisierung des Landes kam in Gang. Die koloniale Verwertungslogik erforderte nicht nur Investitionen in die Infrastruktur; auch die islamische Rechtsordnung des Landes geriet ins Wanken. So betonte auch Ludwig Feuerbach: "Wohin Napoleons Gesetzbuch kommt, da entsteht eine neue Zeit, eine neue Welt, ein neuer Staat." Diese generalisierende Aussage erweist sich in diesem Kontext in fast allen gesellschaftlichen Bereichen als haltbar - außer dem Bereich des Familienrechts. Viele marokkanische Historiker weisen übereinstimmend darauf hin, dass das Familienrecht im Gegensatz zu allen anderen staatlichen Institutionen und Stammesstrukturen keine Veränderungen oder Anpassungen während des Protektorats erfahren hat. Dadurch bildeten sich zwei unterschiedliche Rechtsordnungen heraus: eine säkular-westliche und eine islamische, deren Wirkungsmacht sich allerdings nur noch auf das Familienrecht beschränkte. Diese gesellschaftliche Entwicklung trat übrigens nicht nur in Marokko auf, sondern ist auch in anderen islamischen Gesellschaften zu beobachten, in denen die Modernisierung von außen oktroyiert oder herangetragen wurde.

Seit 1913 kann man feststellen, dass sich auf der Grundlage des französischen Rechts ein vom islamischen Recht getrenntes Straf- und Zivilrecht entwickelte. Es entstanden gerichtliche Verfahrensformen mit entsprechenden Gerichtsbarkeiten. Neue und auf bestimmte Rechtsbereiche spezialisierte Gerichte wurden errichtet und durch die französische Gerichtsverfassung geregelt. Außerdem wurden neue Gesetze erlassen, die bis heute Anwendung finden, wie etwa das Vertrags- und Beurkundungsgesetz. Die islamischen Gerichte konnten nur noch Rechtsfragen über Heirat, Scheidung und Erbschaften behandeln. In ländlichen Gebieten verlief der Prozess ähnlich, denn auch die Stämme verfügten über eigenständige Rechtsinstitutionen und Gesetze. Dabei stützte sich die koloniale Verwaltung auf zwei Instrumente: die Bildung moderner Strukturen wie die Ersetzung des Stammesrates durch französische Gerichtshöfe und die Beibehaltung des Familienrechts, da dieses ihre Interessen nicht unmittelbar berührte.

Dieser Dualismus lässt sich auch im Bereich der Bildung beobachten. Die koloniale Verwaltung modernisierte zwar die islamische Universität Al-Qarawiyyin, veränderte sie jedoch strukturell nicht: Wie Jahrhunderte zuvor bildeten dieselben Lehr- und Forschungsmethoden und dieselben Curricula die Grundlagen der Universität. Parallel dazu wurden neue, moderne Bildungseinrichtungen gegründet, die sich nach der Unabhängigkeit Marokkos rasch im ganzen Land verbreiteten und nach europäisch-säkularem Vorbild organisiert waren. Beispielsweise gab es bis zum Jahre 1936 nur einen marokkanischen Absolventen der Rechtswissenschaften im ganzen Land. Im Gegensatz dazu waren im Jahre 1959 1725 Studierende an der Juristischen Fakultät in Rabat eingeschrieben. Der Zugang zu den von der kolonialen Verwaltung etablierten modernen Strukturen stand ausschließlich Mitgliedern der arabischen Oberschicht in den Städten offen. So dienten diese modernen Einrichtungen in erster Linie zur Rekrutierung autochthoner Eliten.

Diese Entwicklungen im Rechts- und Bildungsbereich sind prägnante Beispiele dafür, wie in Marokko die Grundlagen für die Entwicklung und Ausgestaltung von modernen Funktionsbereichen wie Wissenschaften, Recht oder Bildung geschaffen wurden. Die Sozialordnung, die sich aufgrund dieser Veränderungen herauskristallisierte, hat zu einer Neuorganisation der geschlechtlichen Arbeitsteilung geführt. Dementsprechend spezialisierte sich das Familienleben, während das Ehe- und Familienrecht im Zuständigkeitsbereich der Religion blieb. Dadurch entstand ein Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch auf Modernität und der Schwierigkeit, diesen Anspruch ohne islamischen Identitätsverlust zu verwirklichen. Beispielsweise sah das marokkanische Familienrecht eine klare geschlechtliche Arbeitsteilung nach klassisch-islamischem Ideal vor, in dem der Ehemann für den öffentlichen und die Ehefrau für den häuslichen, privaten Bereich zuständig waren. Aber durch die zunehmende Beteiligung der Frau am Arbeitsmarkt nahm ihre soziale Rolle im öffentlichen Raum enorm zu, während ihre rechtliche Stellung unverändert blieb. Die postkoloniale Geschichte ist von diesem Dualismus und der Suche nach einem Ausweg daraus geprägt. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in den zahlreichen Initiativen des marokkanischen Staates wider, das Familienrecht zeitgemäß zu gestalten.

Geburt des modernen Familienrechts

Betrachtet man die Entwicklung des Familienrechts seit der Unabhängigkeit am 6. September 1956, so drängt sich der Eindruck auf, dass die Mechanismen und Einflussfaktoren dieses Prozesses nicht systemimmanent waren. Sie lassen sich vielmehr auf äußere Einflüsse zurückführen. Wie in der Kolonialzeit erfolgten gesellschaftliche Differenzierungsvorgänge auch in der postkolonialen Phase nach demselben Schema: induziert von außen durch die Monarchie und durch globale Strukturmuster westlicher Prägung.

So war unmittelbar nach der Unabhängigkeit ein königliches Dekret erlassen worden, um das Familienrecht in Gesetzesform zu kodifizieren, woraufhin zum ersten Mal sechs Gesetzbücher entstanden, die das Familienrecht im gesamten Land vereinheitlichten. Die Inhalte der Gesetze beruhten jedoch weiterhin auf den religiösen Quellen der Scharia. Diese übertrugen Männern und Frauen unterschiedliche Rechte und Pflichten. Sie waren nicht gleichberechtigt. So durfte der Ehemann beispielsweise ohne jegliche Angabe von Gründen und ohne ein gerichtliches Verfahren seine Frau verstoßen, während die Ehefrau die Scheidung nur aus geregelten Gründen beantragen durfte. Im Laufe der Zeit kam es zu erheblichen Bedenken gegen eine solch patriarchalische Auslegung der Scharia. Viele Diskurse beschreiben das kodifizierte Familienrecht daher als eine unveränderte Wiederholung in einer sich wandelnden Gesellschaft. Tatsächlich läuft die Sozialstruktur seit der Kolonialzeit auf immer umfassendere Differenzierungsvorgänge zu, die zu einer zunehmenden Spezialisierung im Arbeitsmarkt und zur Inklusion der Frauen im Bildungssystem führten. Im Ergebnis wurde ein erheblicher Teil der Frauen aus ihren traditionellen Geschlechterrollen herausgelöst.

Dieser Prozess beschleunigte sich mit der Integration des Landes in globale Strukturen. Die globalen Einflüsse berührten nicht nur den öffentlichen Bereich, sie durchdrangen auch die Privatsphäre und das Familienleben. Seit der Mitgliedschaft Marokkos in den Vereinten Nationen im November 1956 ist eine wachsende Einbindung des Landes in das internationale Rechtssystem zu beobachten. Dieses internationale, säkularisierte Rechtssystem bietet einen Referenzrahmen, auf den sich Menschenrechts- und Frauenorganisationen in Marokko berufen können. Vor diesem Hintergrund hatten sie im Frühjahr 1992 eine Aktion gestartet mit dem Ziel, eine Million Unterschriften für die Gleichberechtigung zu sammeln. Ein Jahr später wurde im Auftrag von König Hassan II., der von 1961 bis 1999 regierte, das Familienrecht reformiert, was jedoch zu keiner nennenswerten rechtlichen Neuerung führte. Denn für das Treffen rechtsverbindlicher Entscheidungen im privaten Bereich waren weiterhin die Regelungen der Scharia maßgeblich.

Erst mit der Liberalisierungswelle und der neuen Geschlechterpolitik König Mohammed VI., der seit 1999 das Land regiert, wurden die Forderungen der marokkanischen Frauenbewegung aufgenommen. Im Jahre 2001 setzte er eine Beratungskommission aus Juristen und religiösen Rechtgelehrten ein, welche ihm einen ersten Reformvorschlag vorlegte. Die Änderungen zielten darauf, die säkularen universellen Normen unter Achtung der religiösen Besonderheiten des Landes in das nationale Familienrecht zu integrieren. Am 10. Oktober 2003 schließlich gab der König das neue Familienrecht bekannt. Vor allem die Frau verbesserte ihren formalen Rechtsstatus und findet mehr Anerkennung, wie die folgenden Sachverhalte aus der neuen Familiengesetzgebung zeigen:

  • Anders als im klassisch-islamischen Familienrecht wurde die gängige Praxis der Verstoßung abgeschafft. Das Scheidungsrecht gewinnt nun säkulare, zivilrechtliche Konturen, da die Scheidung in staatlichen Familiengerichten geregelt wird (Art. 78).

  • Die hierarchische Familienstruktur ist durch eine gleichberechtigte Verantwortung der Ehepartner im Haushalt und in der Familie ersetzt (Art. 51).

  • Die Frau braucht keinen Vormund mehr bei der Eheschließung (Art. 25).

  • Das Mindestheiratsalter für die Frau ist wie beim Mann auf 18 Jahre heraufgesetzt; Ausnahmen sind nur mit richterlicher Genehmigung möglich (Art. 20).

  • Zudem ist die Polygamie sehr stark eingeschränkt und nur in äußersten Ausnahmefällen möglich (Art. 40).

Unmittelbar nach der Bekanntmachung des neuen Familienrechts wurden im marokkanischen Rechtssystem säkulare Familiengerichte eingerichtet. Um eine entsprechende Rechtspraxis der neuen Familiengesetzgebung zu gewährleisten, erhalten die Richter zusätzliche Weiterbildungsmaßnahmen. Zudem wird der Versuch unternommen, den Zugang zur Justiz zu stärken. Dadurch konnte der strukturelle Dualismus im Rechtssystem Marokkos, der das Land seit der Kolonialzeit prägte, zum großen Teil überwunden werden.

Schlussbetrachtung

Die Evolution des Familienrechts in Marokko eignet sich besonders gut, die Besonderheiten der Differenzierungsvorgänge in der marokkanischen Gesellschaft aufzuzeigen. Aus den Ergebnissen lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen:

  • Die gesellschaftliche Entwicklung in Marokko deutet darauf hin, dass die Bildung moderner, säkularer Strukturen im öffentlichen Bereich formal zumindest relativ schnell verlaufen ist. Die koloniale Verwaltung hat die in Europa ausgebildeten Strukturen sukzessive auf Marokko übertragen. Durch die Integration des Landes in globale Strukturmuster wurde die zunehmende funktionale Differenzierung beschleunigt; anders als in Europa, wo die Ausdifferenzierung der Funktionsbereiche von innen heraus erfolgte und dafür Jahrhunderte in Anspruch nahm.

  • Im Gegensatz zur gesellschaftlichen Entwicklung in Europa verliefen Differenzierungsvorgänge in Marokko nicht mit systemeigenen Mitteln, sondern wurden von außen herbeigeführt - wie man deutlich an der Zentralisierung Marokkos und am Transfer moderner Funktionsbereiche seit der Kolonialzeit sehen kann. Diese Entwicklung wurde in der postkolonialen Phase durch die Monarchie und durch die Inklusion Marokkos in globale Strukturen fortgesetzt und ist bis heute noch nicht abgeschlossen.

Abschließend ist festzuhalten, dass die Evolution des Familienrechts in Marokko als Beleg dafür gesehen werden kann, dass sich die Regelungen der Scharia und universelle Menschenrechte keineswegs widersprechen müssen, sondern miteinander vereinbar sind. Insofern lässt sich die soziale und rechtliche Diskriminierung der Frau vielmehr mit den patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen erklären, die bestimmte Auslegungen der heiligen Texte artikulieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Emile Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977.

  2. Vgl. Mohammed Abed al-Jabri, Marokko von heute. Das Eigene und die Moderne, Casablanca 1988, S. 35 (in Arabisch).

  3. Vgl. Fatima Mernissi, Geschlecht. Ideologie. Islam, München 1989, S. 35.

  4. Vgl. Christian Müller, Sitte, Brauch und Gewohnheitsrecht im malikitischen Fikh, in: Michael Kemper/Maurus Reinkowski (Hrsg.), Rechtspluralismus in der islamischen Welt. Gewohnheitsrecht zwischen Staat und Gesellschaft, Berlin 2005.

  5. Vgl. Robert Montagne, La vie sociale et politique des Berbères, in: Regards sur le Maroc. Actualité de Robert Montagne, Paris 1986, S. 77.

  6. Vgl. M.A. al-Jabri (Anm. 2), S. 19.

  7. Vgl. ebd., S. 94.

  8. Vgl. Ahmed Al Khamlichi, Drei Faktoren bestimmen die Entwicklung des Familienrechts, Al Jadida 1988, S. 256 (in Arabisch).

  9. Vgl. Abdelkebir Khatibi, Etat et classes sociales, in: ders. (ed.), Etudes sociologiques sur le Maroc, Rabat 1971, S. 9.

  10. Zit. nach: Paul Johann Anselm Feuerbach, Themis oder Beiträge zur Gesetzgebung, Landshut 1812.

  11. Vgl. Azdine Khatabi, Die Entwicklung der marokkanischen Gesellschaft zwischen Kontinuität und Wandel. Die familiären Beziehungen als Beispiel, in: Ahmed Scharak/Idriss Katir (Hrsg.), Soziologie bei Abdeljalil Halim, Fez 2001, S. 130 (in Arabisch).

  12. Vgl. Francis Robinson, Säkularisierung im Islam, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Sicht des Islams. Interpretation und Kritik, Frankfurt/M. 1987.

  13. Vgl. Mohamed Jalal, Dreißig Jahre Arbeit mit dem Familienrecht, in: Al Mayadin, (1988) 4, S. 23 (in Arabisch).

  14. Vgl. Mohammed Abed al-Jabri, Das Problem des Bildungssystems in Marokko, Casablanca 1973, S. 38 (in Arabisch).

  15. Sicherlich muss angeführt werden, dass sich auch innerhalb der Gesellschaft Frauen- und Menschenrechtsgruppen gebildet hatten, die eine Modernisierung des Familienrechts forderten. Allerdings fanden ihre Forderungen keine Berücksichtung bei den politischen Entscheidungen, da weder die politischen Strukturen durchlässig noch die Entscheidungsträger aufnahmewillig waren.

  16. Vgl. A. Khatibi (Anm. 9).

  17. Vgl. Silvia Tellenbach, Änderung im marokkanischen Familienrecht. Zur Stellung der Frau in Marokko, in: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht, 41 (1994), S. 843.

  18. Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Band II, Frankfurt/M. 1997, S. 707f.

Dipl.-Soz., geb. 1973; Doktorand an der Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, Postfach 100137, 33501 Bielefeld. E-Mail Link: kel_guennouni@uni-bielefeld.de