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Partizipation von Islamisten in der arabischen Politik | Arabische Welt | bpb.de

Arabische Welt Editorial Die Säkularisierung des arabischen Denkens: Zur Trennung von Vernunft und Religion Die Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher und menschlicher Entwicklung in der arabischen Welt Autoritäre Herrschaft in der arabischen Welt Partizipation von Islamisten in der arabischen Politik Gesellschaftliche Differenzierungsprozesse und Wandel des Frauen- und Familienrechts in Marokko Partikularismus statt Pluralismus: Identitätspolitik und Presse im Irak Waffenproliferation, Kleinwaffenkontrolle und "Waffenkultur" im Jemen

Partizipation von Islamisten in der arabischen Politik

Amr Hamzawy

/ 14 Minuten zu lesen

In vielen arabischen Staaten fordern Islamisten Teilhabe am politischen Prozess. Welche Fragen wurden von den Islamisten in den Vordergrund gestellt? Welche Auswirkungen hat ihre Teilhabe auf die eigene Bewegung und die politische Umgebung?

Einleitung

In vielen Teilen der arabischen Welt beginnen Islamisten - Parteien und Bewegungen, die religiös begründete Gesellschafts- und Politikvorstellungen propagieren - Teilhabe am politischen Prozess einzufordern. Damit einher gehen Sorgen herrschender Eliten über die Zielsetzung der Islamisten und die Auswirkungen ihrer Teilhabe auf die Politik des jeweiligen arabischen Landes. Es wird die Frage aufgeworfen, ob und inwieweit Islamisten regierungsfähig sind, sollten sie auf demokratischem Wege an die Macht gelangen.

Da die islamistischen Bewegungen selbst sich diesen Fragen auf sehr unterschiedliche Art nähern, ist es notwendig, bei der Analyse des Problems auf die Formulierung generalisierender Aussagen zu verzichten, gründen sich diese doch oft auf ideologische Vorurteile oder die selektive Auswahl von Beispielen, welche die Komplexität der gegenwärtigen Entwicklungen nicht zu erfassen vermögen. So ist auch die vereinfachende Sicht islamistischer Bewegungen als Gruppen ideologischer Eiferer, bei denen ihre Rhetorik allein zum Maßstab ihrer Handlungen genommen werden kann, allzu simpel. Anderseits ist es aber auch nicht hilfreich, jene Kriterien abzulehnen, die bislang bei der Bewertung politischer Bewegungen in der arabischen Welt (wie den liberalen, sozialistischen und panarabischen Gruppierungen) eine Rolle spielten, nur weil das islamistische Engagement noch zu neu ist, um es in bestehende Schemata einzuordnen.

Das letzte Argument findet vor allem bei jenen Islamisten Fürsprecher, die der Ansicht sind, dass es verfrüht und wirklichkeitsfremd sei, ihre Fähigkeit zur Bewältigung öffentlicher Aufgaben in Zweifel zu ziehen, insbesondere, wenn man die gegenwärtigen Machtverhältnisse zwischen den Herrschereliten und den Islamisten in Betracht ziehe.

Formen islamistischer Partizipation

Zurzeit sind drei Typen islamistischer Teilhabe am politischen Prozess erkennbar. Der

erste Typus

lässt sich im Irak, im Libanon und in Palästina beobachten: Während hier die islamistischen Parteien und Bewegungen in relativer organisatorischer Freiheit im Rahmen eines pluralistischen Parteiensystems operieren können, bleibt das politische Umfeld instabil und chaotisch - sei es aufgrund eines Besatzungszustandes, der die Regierungsinstitutionen und die öffentliche Sicherheit kollabieren lässt, sei es aufgrund interner Zerwürfnisse. Dies führt schließlich nicht selten auch zu monopolistischen Tendenzen, die den Geist und die Substanz friedlicher Teilhabe am politischen Prozess gefährden. Abgesehen von den Gegensätzen zwischen Sunniten und Schiiten sowie für bzw. gegen den Widerstand eingestellten Gruppen, sind die islamistischen Bewegungen im Irak, im Libanon und in Palästina geprägt von einer hierarchischen Führungsstruktur. Sie besitzen Mittel und Instrumente zur Gewaltausübung und sind nicht abgeneigt, politische Konflikte durch die Androhung oder die Ausübung von Gewalt zu lösen.

Wir stehen hier einer grundsätzlichen Frage gegenüber: Wird die Einbeziehung von solchen islamistischen Bewegungen in ein pluralistisches politisches System die Chancen zu einer Weiterentwicklung dieser Pluralität hin zu einem echten Demokratisierungsprozess verringern oder ihn gar verhindern? Diese Frage stellt sich angesichts des Umstands, dass diese Bewegungen noch kein klares Bekenntnis zur gewaltfreien Teilhabe abgelegt haben und eine solche möglicherweise lediglich als taktisches Mittel innerhalb einer größeren Strategie angesehen werden muss. Oder wird die politische Integration die Islamisten in brüchigen failed states nach und nach dazu bringen, ihre Bewegungen zu demilitarisieren und sich Mitteln und Wegen zuzuwenden, die einer gewaltfreien Teilhabe den Vorrang geben?

Sieht man sich den Irak, den Libanon oder Palästina an, wirkt die letztgenannte Möglichkeit unwahrscheinlicher. Auch dann, wenn man in Betracht zieht, dass die Bewegungen sich von innen heraus wandeln könnten - sei es etwa durch einen Machtkampf zwischen den Hardlinern und moderaten Kräften oder auch den Druck ihrer jeweiligen Gesellschaften, die sich von ihren bisherigen Quellen der Massenmobilisierung abwenden: einer populistischen ideologischen Rhetorik, der religiösen Fundierung und dem Anspruch, den Widerstand gegen einen ausländischen Besatzer oder gemeinsamen Feind anzuführen. Hypothetisch besteht der einzige Ausweg aus diesem Dilemma im Zusammenführen eines gemeinsamen Willens, den Staat als ziviles Gemeinwesen wiederzubeleben. Hierzu müssten die Neutralität gegenüber den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gestärkt und Strukturen und Mechanismen eingeführt werden, die verhindern, dass religiöse wie nicht-religiöse Kräfte in öffentlichen Angelegenheiten Meinungsmonopole bilden und ausschließend wirken können.

Im scharfen Kontrast hierzu steht der

zweite Typus

islamistischen Engagements im öffentlichen Leben, sieht er doch die gewaltfreie Teilhabe als einzige strategische Option an. Hier wird keine Alternative zu den bestehenden Sphären und Mechanismen politischer Pluralität angestrebt. Durch die Formulierung eines soliden Konsenses über den zukünftigen Demokratisierungsprozess mit den herrschenden Eliten wie auch liberalen und linken Gruppen kann das pluralistische System schrittweise stabiler werden. Das Kampagnenmotto "Partizipation, nicht Herrschaft" veranschaulicht die Haltung dieser Islamisten, deren Vertreter wir insbesondere in Marokko, Algerien, Kuwait und Bahrain finden. Sie haben sich meist in politische Parteistrukturen eingeordnet (wie die marokkanische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung/Parti de la Justice et du Développement und die algerische Bewegung der Gesellschaft für Frieden/Mouvement de la société pour la paix) oder in parteiähnliche Strukturen (wie die Islamische Verfassungsbewegung/Islamic Constitutional Movement in Kuwait und die schiitische Islamische Einigkeitsgesellschaft/Islamic Concord Society in Bahrain).

Einigen dieser Bewegungen - insbesondere der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung und der Islamischen Verfassungsbewegung - ist es gelungen, eine funktionale Trennung zwischen islamistischen religiösen Aktivitäten und der politischen Arbeit durchzuführen. So haben sie sich in politische Organisationen gewandelt, deren Arbeit zwar von einem islamistischen Kodex geprägt ist, die jedoch von professionellen Politikern angeführt wird, die Aktivitäten und Rhetorik einer missionarischen Bewegung vermeiden. Dies trifft nicht auf die bahrainische Islamic Concord Society zu, deren Mischung aus Religion und Politik wohl eine natürliche Folge der Überlappung zwischen Parteiführung und schiitischer Hierarchie in Bahrain ist.

Trotz der qualitativen Unterschiede zwischen diesen Bewegungen teilen die Islamisten, die der Partizipation den Vorrang einräumen, einige fundamentale Wesenszüge: Sie erkennen die Legitimation des Nationalstaates an, dem sie angehören, respektieren seine Regierungseinrichtungen, das Prinzip der Gleichheit zwischen allen Bürgern und das pluralistische, kompetitive Wesen politischen Lebens. Diese Haltung, die Islamisten des zweiten Typus sowohl der Form als auch dem Geiste nach anerkannt haben, führte zu einer Abmilderung ihrer Rhetorik, ob sich diese nun gegen die herrschende Elite oder gegen liberale und linke Oppositionsgruppen richtet. Außerdem deutet sich eine Abkehr an von ideologischen Hetzreden hin zur Formulierung pragmatischer Grundsatzprogramme und zu Versuchen, die Politik zu beeinflussen, sei es als Juniorpartner in der Regierung oder als Oppositionspartei.

Die Erfahrung mit den Islamisten in Marokko, Algerien, Kuwait und Bahrain spricht für einen direkten Zusammenhang zwischen der Stabilität des politischen Systems und der Bereitschaft der Islamisten, die Regeln des politischen Systems zu respektieren. Dennoch müssen diese Islamisten noch in einer Reihe von offenen Fragen ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen: Auf der einen Seite müssen sie sich klarer zu den Mechanismen eines pluralistischen politischen Systems bekennen, auch dann, wenn diese Mechanismen eine Politik nach sich ziehen sollten, die nicht ihren religiösen Überzeugungen entspricht. Auf der anderen Seite müssen sie ihre Wählerschaft weiterhin von der Effektivität gewaltfreier Teilhabe überzeugen, vor allem vor dem Hintergrund extremistischer religiöser Kräfte, die auf ein Misslingen der politischen Integration der Islamisten setzen. Zudem stellt sich die Frage, ob die autoritären Herrschereliten ihre Skepsis gegenüber den Islamisten ablegen und sich daran gewöhnen, einen breiten politischen Konsens herzustellen.

Der

dritte Typus

schließlich lässt sich in Ägypten, dem Sudan, Jordanien und im Jemen beobachten. Den dortigen islamistischen Bewegungen ist es gelungen, trotz der instabilen politischen Rahmenbedingungen und der fragilen Beziehungen zu den jeweiligen herrschenden Eliten zu überleben. Auch wenn der Muslimbruderschaft (MB) in Ägypten und Jordanien Raum zur Teilhabe an pluralistischen Mechanismen eingeräumt wurde (bei Parlamentswahlen, in Berufsverbänden und anderen Bereichen der Zivilgesellschaft), so steht sie nach wie vor unter der ständigen Beobachtung der Sicherheitskräfte. Andererseits verdeutlichen sich an den Beispielen der islamistischen Bewegung im Sudan oder der Jemenitischen Union für Reform die Gefahren, die hinter einer nichtdemokratischen Verständigung zwischen Islamisten und herrschenden Eliten lauern, sowie die Auswirkungen solcher paramilitärisch-technokratischer Allianzen auf das politische Leben und auf die innere Dynamik der Islamisten selbst.

Vielleicht können diese Gruppen als "Partizipation Plus Islamisten" bezeichnet werden: Mögen sie auch eine Strategie der friedlichen Teilhabe entwickelt haben, so bleibt es doch immer noch eine Strategie. Aufgrund ihrer ständig wechselnden Rolle und Position innerhalb des politischen Lebens (so agieren sie in manchen Fällen als Partner autoritärer Regime, in anderen als deren Gegner) schweben sie noch oft in den abstrakten Höhen von Ideologien und der "großen Politik" (wie die Frage nach der Rolle der Religion, das Verh

Dies sind die Rahmenbedingungen, innerhalb derer Islamisten seit mehreren Jahren operieren. Nun sollen am Beispiel der MB in Ägypten folgende Fragen beantwortet werden: Unter welchen institutionellen und politischen Rahmenbedingungen formte sich die islamistische Teilhabe aus? Welche Fragen wurden von den Islamisten in den Vordergrund gestellt, insbesondere in den gesetzgeberischen Institutionen? Welche Auswirkungen hat ihre Teilhabe sowohl auf die eigene Bewegung als auch auf die weitere politische Umgebung?

Die ägyptische Muslimbruderschaft

In den Jahrzehnten seit ihrer Gründung in den 1920er Jahren bis zur ägyptischen Revolution 1952 hatte die MB eine ambivalente Haltung zur politischen Partizipation. Während sie bis in die 1970er Jahre der offiziellen Politik weitgehend fernbleiben musste, engagierte sie sich seit dieser Zeit zunehmend. Einige ihrer Vertreter schafften sogar den Sprung ins ägyptische Parlament. Heute fokussiert sich die kritische Diskussion innerhalb der Bewegung auf die Frage, ob und wenn ja, inwieweit die politische Partizipation herausgestellt werden soll. Forderungen nach einem kompletten Rückzug aus der Politik sind nur von den Rändern der Bewegung zu vernehmen. So gibt es mittlerweile zwar einen breiten Konsens darüber, dass die MB sich auch weiterhin zumindest teilweise in der Politik engagieren soll; doch unter den Führungskadern der Bewegung wird noch immer heftig darüber gestritten, wie weit diese Partizipation gehen darf, welche Formen sie annehmen sollte und wie sich das politische Engagement mit den langfristigen gesellschaftlichen Reformzielen der MB verbinden lässt.

Die Debatte über die politische Partizipation wurde durch die schwierigen Beziehungen der MB zu anderen politischen Akteuren wie dem Regime, den Oppositionsparteien und den Protestbewegungen erschwert. Aus Sorge vor Repressalien seitens des Regimes, achtete die MB sorgsam darauf, den Machtanspruch des Regimes nicht offen in Frage zu stellen oder sich selbst als Alternative zu präsentieren. Am deutlichsten wurde diese Haltung mit der Entscheidung, bei der Parlamentswahl im Jahr 2005 nur in einem Drittel aller Wahlbezirke Kandidaten aufzustellen. Dies wurde als Signal dafür interpretiert, die Zweidrittelmehrheit der Regierungspartei NDP (National Democratic Party) in der Volksversammlung nicht gefährden zu wollen.

Die Beziehungen zwischen der MB und anderen Oppositionsparteien waren zwar weniger feindselig, doch geprägt durch eine lange Tradition gegenseitigen Misstrauens. Dies setzte auch den Versuchen einer Harmonisierung politischer Positionen und Koordinierung gemeinsamer Aktionen enge Grenzen. Liberale und linke Parteien, aber auch Protestbewegungen hegten Misstrauen gegenüber der unklaren Haltung der MB mit Blick auf die Gleichberechtigung von Muslimen und Nichtmuslimen sowie der Gleichstellung der Geschlechter. Mögliche Partner sorgten sich zudem über die negativen Auswirkungen der Schariabestimmungen zur Meinungsfreiheit und nicht zuletzt auch über die Widersprüche zwischen dem islamischen Bezugsrahmen der MB und den konstitutionellen säkularen Grundpfeilern der ägyptischen Politik.

Doch auch die MB hatte ihrerseits Grund, anderen Oppositionsakteuren misstrauisch gegenüber zu stehen. Einige legale Parteien - wie die National Progressive Unionist Party (meist nur Tagammu genannt) - machten keinen Hehl aus ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Teilhabe von Islamisten am politischen Leben und verbündeten sich mit dem Regime, um den politischen Spielraum der MB zu begrenzen. Einige Male unterstützte die Führung der Tagammu sogar repressive Maßnahmen der Regierung gegenüber der MB und rechtfertigte sie mit dem Argument, dass sie sich gegen eine undemokratische Organisation richteten.

Wenn auch die Versuche zur Bildung politischer Allianzen begrenzt blieben, zeigten sie doch reale Wirkungen auf die Positionen der MB. Seit 2002 resultierte die Suche nach Gemeinsamkeiten mit anderen Oppositionsparteien in einer stärkeren Betonung von sozialen, ökonomischen und politischen Reformen in ihrem Grundsatzprogramm. In verschiedenen öffentlichen und programmatischen Erklärungen (beispielsweise mit Blick auf die Reforminitiative von 2004 und im Wahlprogramm 2005) fanden sich Gemeinsamkeiten mit den entsprechenden Programmen linker und liberaler Parteien. So wurden darin Verfassungsänderungen, demokratische Reformen, eine Rechenschaftspflicht der Regierung und der Schutz persönlicher Freiheiten gefordert.

Legislative Prioritäten und Aktivitäten

Die jüngsten parlamentarischen Aktivitäten der MB müssen vor dem Hintergrund ihrer größeren Präsenz in der Volksversammlung gesehen werden: Verfügte sie in der Legislaturperiode von 1995 bis 2000 über lediglich einen von 444 Sitzen im Parlament und 17 in derjenigen von 2000 bis 2005, so stellen die Muslimbrüder in der Volksversammlung 2005-2010 88 Abgeordnete und bilden nach der NDP die größte Fraktion. Auch das Grundsatzprogramm der Bewegung hat sich in den drei vergangenen Jahrzehnten in wesentlichen Punkten verändert. Forderungen nach Einführung der Scharia und der Förderung religiöser Werte, die sie bis in die 1990er Jahre vertraten, wurden zurückgestellt.

Dagegen traten Anliegen wie die Forderung nach Reformen im Sozial- und Rechtswesen sowie einer sozialen Wirtschaftsordnung in den Vordergrund. Auch Menschenrechtsverletzungen wurden stärker thematisiert. Obwohl religiöse Anliegen und die Scharia nach wie vor eine zentrale Rolle bei ihren parlamentarischen Aktivitäten spielen, sind sie im Grundsatzprogramm nach und nach in den Hintergrund gerückt. Andere Elemente wurden nicht verändert, wie die Forderung nach einer Rechenschaftspflicht der Regierung und Antikorruptionsmaßnahmen. Unverändert blieb auch ihre vage Haltung gegenüber der Gleichstellung von Frauen und nichtmuslimischen Minderheiten.

Obgleich ihrer stärkeren parlamentarischen Präsenz und dem pragmatischer ausgerichteten Fokus, gilt es, den parlamentarischen Einfluss und die Gestaltungsmöglichkeiten der MB nicht zu überschätzen. Trotz der langjährigen Präsenz in der Volksversammlung, die ihr einen umfassenden Überblick über die Parlamentsarbeit verschaffte, und die Möglichkeit, dadurch die Regierung öffentlich herauszufordern, ist ihr Einfluss auf den legislativen Prozess minimal geblieben. Dass es der Bewegung nicht gelungen ist, wichtige Anliegen im Parlament durchzubringen, liegt letztendlich an der weitgehenden Kontrolle des Gesetzgebungsprozesses durch die regierende NDP, die in allen Volksversammlungen seit 1976 über eine komfortable Mehrheit verfügt. Selbst im Parlament 2005-2010, in dem die Fraktion der MB fast ein Fünftel der Sitze besetzt, hält die NDP mehr als drei Viertel der Sitze und bleibt damit unangefochten, wenn es um die Bildung des Kabinetts oder um die Verabschiedung von Gesetzen geht.

Verfassungsänderungen

Inhaltlich stützte sich die Parlamentsarbeit der MB in den vergangenen Jahren vor allem auf folgende Eckpfeiler: konstitutionelle und verfassungsrechtliche Änderungen, politische Reformen, soziale, wirtschaftliche und religiöse Gesetzgebung sowie Frauenrechte. Doch lag hierin der Fokus der MB vor allem auf den Verfassungsänderungen. Im Allgemeinen hat der parlamentarische Block der MB eigene Vorschläge zur Änderung der ägyptischen Verfassung erarbeitet.

Die Frage möglicher Verfassungsänderungen nahm in den politischen Debatten und in den Wahlprogrammen der meisten politischen Akteure seit 2002 einen breiten Raum ein. Zur größten Auseinandersetzung kam es im Jahr 2007, als Präsident Husni Mubarak zur Änderung von insgesamt 34 Verfassungsartikeln aufrief. Darin enthalten waren das Verbot zur Gründung religiöser Parteien sowie Änderungen der Gesetze zur Präsidenten- und Parlamentswahl. Von den 34 eingebrachten und auch verabschiedeten Verfassungsänderungen waren es vor allem die folgenden, auf die sich die MB in ihrer Kritik konzentrierte, da sie in ihren Augen zur Einschränkung der politischen Freiheit führten:

  • Verfassungsänderungen, die religiös fundierte Parteien und Aktivitäten verbieten und die Teilhabe der MB am politischen Prozess nicht nur deutlich einschränken, sondern auch ihre Entwicklung hin zu einer legalen Partei verhindern. Die Bruderschaft sieht das Verbot zudem als nicht konform mit Artikel 2 der ägyptischen Verfassung an, der den Islam als Staatsreligion und die Scharia als wichtigste Quelle der Gesetzgebung festschreibt;

  • Änderungen, welche die Präsidentenwahl betreffen, sahen vor, dass unabhängige Kandidaten die Unterstützung von mindestens 250 gewählten Mitgliedern der von der NDP dominierten Volksversammlung, der Shura und von Gemeinderäten vorweisen müssen;

  • eine Verfassungsänderung, die die Basis für ein Verhältniswahlrecht legen sollte und damit andeutet, dass Ägypter fortan weniger für einzelne Kandidaten stimmen sollten, sondern eher für die Listen der Parteien. In den Augen der MB konnte diese Änderung zu einem möglichen Ausschluss von den Wahlen führen, da es ihr formal untersagt war, eine politische Partei zu bilden;

  • ein Zusatz zu Artikel 88, der die juristische Aufsicht über die Wahlen reduzierte, indem diese speziellen, aus Richtern und ehemaligen Regierungsbeamten gebildeten Aufsichtsgremien übertragen werden sollte. Darin sah die Bruderschaft eine erhöhte Gefahr von Wahlmanipulationen;

  • Änderungen des Artikels 179, die das Inkrafttreten eines Terrorismus-Gesetzes vorsahen. Die MB schloss sich mit anderen Kritikern aus der Opposition zusammen, die mahnten, dass es dieser Zusatz dem Regime erlauben würde, das durch den Ausnahmezustand ohnehin eingeschränkte politische Leben weiteren Einschränkungen zu unterwerfen. Die Änderungen erweiterten die Kompetenzen des Innenministeriums dahingehend, dass es Bürgerrechte einschränken, Presserechte beschneiden und Journalisten mit Haft bedrohen konnte; auch wurde den Regierungsbehörden die Möglichkeit gegeben, die Aktivitäten der politischen Parteien zu beobachten und zu kontrollieren;

  • dagegen waren keine Änderungen des Artikels 77 vorgesehen, was bedeutete, dass die Amtszeit des Präsidenten weiterhin unbefristet bleibt.

Dilemmata der Teilhabe

Während die MB intensiv daran arbeitete, ihre Agenda hinsichtlich der geplanten Verfassungsänderungen zu verfolgen, wurde die Betonung der Religion, der Moral und der Familie beibehalten. Die Muslimbrüder versuchten, ihre religiöse Agenda so darzustellen, dass sie nicht nur im Einklang mit ihrem umfassenden Reformprogramm erschien, sondern geradezu als dessen höchste Vollendung. Einige der aufgeworfenen religiösen Fragen wie das Recht verschleierter Frauen auf Anstellung bei regierungseigenen Fernsehsendern wurden in den Zusammenhang mit Meinungs- und Glaubensfreiheit gestellt. Bei anderen Fragen wie Folter und Presserechte nutzte die Bruderschaft ihre religiösen und moralischen Grundsätze zur Verteidigung politischer Freiheiten und Menschenrechte.

Obwohl die Parlamentsfraktion der MB sich in der Legislaturperiode 2005-2010 mit diesen religiösen und moralischen Themen auseinandersetzte, standen im Fokus ihrer Aktivitäten doch eher Fragen der sozialen, ökonomischen und politischen Gesetzgebung. Die relative Marginalisierung der religiösen und moralischen Grundsätze der MB im Parlament stellte sie vor eine entscheidende Herausforderung: In welcher Weise kann sie bei der Parlamentsarbeit soziale, ökonomische und politische Reformen anstreben, ohne gegenüber ihrer Wählerschaft ihre "islamische Glaubwürdigkeit" zu gefährden?

Da es der Bruderschaft noch immer verwehrt blieb, eine legale politische Partei zu bilden, bestand eine Strategie zum Umgang mit diesem Dilemma darin, die politischen Aktivitäten in eine separate institutionelle Struktur auszugliedern. Und tatsächlich ist in den vergangenen Jahren eine funktionale Trennung zu beobachten zwischen dem parlamentarischen Block, der sich den Reformbestrebungen widmet, und der Führung der Bewegung, welcher die Herausstellung moralischer und religiöser Anliegen in offiziellen Verlautbarungen, in den Medien und anderen Aktivitäten obliegt.

Eine zweite und gleichermaßen ernste Herausforderung resultiert aus den geringen Erfolgen, die die Teilhabe der Bruderschaft innerhalb des Parlaments bisher mit sich brachte. In den Augen vieler der MB nahestehender Wähler und Aktivisten hat sich die Hinwendung der MB zur Durchsetzung für sie wichtiger Reformen nicht ausgezahlt; die Zurückdrängung religiöser und moralischer Fragen sehen sie als nutzlos und kontraproduktiv an. Deshalb meinen sie, dass die Arbeit der Bruderschaft im Parlament die politischen Freiheiten in Ägypten nicht habe vergrößern können. Immer mehr sah sich die Führung der Bruderschaft deshalb in letzter Zeit auch gezwungen, auf solcherlei Klagen zur negativen Erfolgsbilanz zu reagieren.

Ein Ergebnis dieser wachsenden Spannungen waren Veränderungen im Machtgefüge der Muslimbruderschaft auf Kosten jener, die weiterhin an der parlamentarischen Teilhabe festhalten wollen, und zugunsten denen, die eine stärkere Hinwendung zur sozialen und religiösen Rolle anmahnen.

Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Daniel Kiecol, Köln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. "Hiwar ma'a al-ustadh ,abd al-ilah bin kiran ,adu al-barlaman al-maghribi" (Im Gespräch mit ,Abd al-Ilah bin Kiran, Mitglied des marokkanischen Parlaments), in: Ikhwan Online, www.ikhwanonline.com/Article.asp?ArtID=2030&SecID=0 (14.5.2010).

  2. Vgl. Amr Hamzawy/Nathan J. Brown, Islamist Parties: A Boon or a Bane for Democracy?, in: Journal of Democracy, 19 (2008) 3, S. 49-54; Amr Hamzawy/Marina Ottaway, When Islamist Go Into Politics, in: The Fletcher Forum of World Affairs, 33 (2009) 2, S. 37-46.

  3. Vgl. Amr Hamzawy, Party for Justice and Development in Morocco: Participation and Its Discontents, Carnegie Endowment for International Peace, (2008) 93.

  4. Vgl. "Intikhabat (2005) al-ikhwan yaktasihun wa-l-watani mahzur jamahiriyan" (Die Wahlen im Jahr 2005: Starke Stimmengewinne der Muslimbruderschaft und große Verluste der NDP), in: Nowab Ikhwan vom 20.1.2007.

  5. Vgl. Noha Antar, The Muslim Brotherhood's Success in the Legislative Elections in Egypt 2005, Bericht der EuroMeSCo, Oktober 2006, S. 14; "Al-barnamaj al-intikhabi li-l-ikhwan al-muslimin 2005" (Das Programm der Muslimbruderschaft für die Wahlen 2005), in: Ikhwan Online, www.ikhwanonline.com/Article.asp?ArtID=15548&SecID=0 (14.5.2010).

  6. Vgl. Hisham Salam, Opposition Alliances and Democratization in Egypt, United States Institute of Peace, (2008) 6.

Dr. phil., geb. 1967; Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Kairo, Forschungsdirektor und Senior Associate am Carnegie Middle East Center, P.O. Box 11-1061, Riad El Solh/Libanon. E-Mail Link: ahamzawy@ceip.org