Anfang 2021 lässt sich festhalten, dass die Corona-Pandemie zu einer weiteren Verschärfung der Kontroversen und Konflikte zwischen China und dem Westen
Angesichts der aktuellen Versuche, die Vorgänge in China neu zu verstehen, ist es wichtig, sich die zentrale Rolle Chinas als Projektionsfläche für europäische Wünsche, Angst und Faszination zu vergegenwärtigen. Diese reicht zurück bis in die Zeit der Renaissance und Aufklärung: "Seitdem der Westen begonnen hat, sich auf China einzulassen – mit dem Beginn der missionarischen Ouvertüren im 16. Jahrhundert – wurde das himmlische Reich von Kirchenmännern, Kaufleuten und philosophischen Intellektuellen als ein potentes Traumland mit fast paradiesischen Möglichkeiten betrachtet: für die christliche Bekehrung, für wirtschaftlichen Profit, für Lektionen in Regierungsführung. Die Umarmung des Maoismus durch westliche Radikale ist daher die jüngste Wiederholung einer jahrhundertealten Neigung, das erfreulich abgelegene, exotische China als eine Fundgrube für politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Tugenden zu identifizieren".
Nach dem Tode Maos 1976 zerfiel die maoistische Linke und verfolgte Karrieren in Publizistik, Wissenschaft und Politik, vielfach bei den Grünen, aber auch bei konservativen Parteien, wie das Beispiel José Manuel Barroso zeigt. Die später einsetzende Euphorie westlicher Politiker und Wirtschaftslenker über die Marktöffnung Chinas in den 1980er und 1990er Jahren in Publizistik und Wissenschaft knüpfte dann auf eine merkwürdige Weise an die Phase der kulturrevolutionären Projektionen im Westen an – ebenfalls einhergehend mit einer "chronischen Geringschätzung der Menschenrechte".
Unübersehbar wächst zurzeit in der öffentlichen Debatte sowohl international als auch in Deutschland das Misstrauen und die Kritik an Chinas innenpolitischem und außenpolitischem Verhalten – ganz gleich, ob es um die repressiven Maßnahmen in Xinjiang, um die Unterdrückung der Opposition in Hongkong und in China selbst oder um die bis nach Europa reichenden Pläne einer "Neuen Seidenstraße"
Die verlorene Wette des Westens
Noch im Jahr 2001 wurden mit dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO) große Hoffnungen auf eine langfristige Einbindung des Landes in die regelbasierte Weltordnung des Westens und eine innenpolitische Demokratisierung verbunden. Auch unter vielen chinesischen Intellektuellen und sogar in Teilen der Parteielite gab es Anhänger dieses Weges, der sich auf Trends in der chinesischen Gesellschaft wie den wachsenden Wohlstand einer gebildeten Mittelschicht sowie Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse stützte.
Die Idee, China "in die Welt zu integrieren", ging schon lange vor der Öffnung Chinas in die geostrategischen Überlegungen der USA ein. 1967 äußerte Richard Nixon, mitten im eskalierendem Vietnamkrieg, in einem prophetischen Beitrag: "Wir können es uns einfach nicht leisten, China für immer außerhalb der Völkergemeinschaft zu lassen, damit es dort (draußen) seine Phantasien nährt, seine Hassgefühle pflegt und seine Nachbarn bedroht. Auf diesem kleinen Planeten ist es nicht möglich, eine Milliarde seiner potentiell fähigsten Menschen in zorniger Isolation leben zu lassen".
Nur wenige Jahre später trug Nixon mit seinem Besuch in China 1972 entscheidend dazu bei, China aus dieser Isolation zu holen. Nach dem Tode Mao Zedongs wurden die wirtschaftliche Liberalisierung und die weitere Öffnung zum Westen eine wesentliche Voraussetzung für die dynamische Entwicklung Chinas ab Mitte der 1980er Jahre. Fast drei Jahrzehnte begleitete die Grundidee einer Liberalisierung Chinas – parallel zum Wohlzustandszuwachs und gesellschaftlicher Pluralisierung und Individualisierung – trotz aller Rückschläge und widersprüchlicher Signale den Aufstieg des Landes.
Erst die "leninistische Gegenreformation"
Diese Entwicklungen läuteten eine neue Phase in den chinesisch-westlichen Beziehungen ein, in der China deutlicher als je zuvor als "systemische Bedrohung" westlicher Werte und geopolitischer Positionen angesehen wurde. Der damalige US-Außenminister Mike Pompeo fasste den neuen Blick auf China in einer viel beachteten Rede im Oktober 2019 so zusammen: "Wir haben den Aufstieg Chinas jahrzehntelang geduldet und gefördert, auch wenn dieser Aufstieg auf Kosten der amerikanischen Werte, der westlichen Demokratie, der Sicherheit und des gesunden Menschenverstands ging."
Auch die Chinastrategie der EU wurde im März 2019 revidiert und präsentierte einen neuen Blick auf China als gegnerische Macht: "China ist gleichzeitig in verschiedenen Politikbereichen ein Kooperationspartner, mit dem die EU eng abgestimmte Ziele verfolgt, ein Verhandlungspartner, mit dem die EU einen Interessenausgleich finden muss, ein wirtschaftlicher Konkurrent im Streben nach technologischer Führerschaft und ein systemischer Rivale, der alternative Modelle der Regierungsführung fördert."
In Deutschland forderte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in einem Positionspapier die deutsche und europäische Politik auf, Maßnahmen gegenüber unangemessenen wirtschaftlichen Aktivitäten Chinas zu ergreifen, da alle Erwartungen, China werde sich allmählich zu einer liberalen Volkswirtschaft entwickeln, enttäuscht worden seien. Die Konvergenz-These sei nicht mehr haltbar.
Der Auf- und Ausbau von Chinaexpertise oder -kompetenz steht hier im Mittelpunkt einer neuen politischen Agenda. Diese kann als direkte Folge der geplatzten "Wette des Westens" gesehen werden. Wenn es stimmt, dass die westliche Chinakompetenz noch unterentwickelt ist, dann erscheint es in der Tat wichtiger denn je, sowohl die Zugänge zu China weiter offen zu halten als auch mittelfristig das "Debattenklima der alternativlosen politischen Bekenntnisse gegenüber China zu verändern und ein eigenständiges starkes europäisches Narrativ zu entwickeln".
China in der politischen Bildung: Kompetenzen und offene Fragen
"Menschen und Demokratien müssen im 21. Jahrhundert immer enger zusammenarbeiten, um grenzüberschreitende Herausforderungen zu bewältigen, voneinander zu lernen, sich gegenseitig zu unterstützen und um sich um einen gemeinsamen Planeten zu kümmern. In vielfältigen Gesellschaften sind die Fähigkeiten, die für die Teilnahme an der Demokratie innerhalb eines jeden Landes erforderlich sind, auch diejenigen, die für das Verständnis und die Teilnahme an regionalen und globalen Gesellschaften erforderlich sind."
In der 2018 veröffentlichten Studie "China kennen, China können" des Mercator Institute for China Studies werden der Bundeszentrale und den Landeszentralen für politische Bildung eine "wichtige Funktion" zuerkannt: "Sie können schneller als Schulverlage auf neue Entwicklungen reagieren und Lehrern wie Schülern aktuelle Informationen zugänglich machen."
China als systemischer Rivale
Traditionell hat sich politische Bildung (in Deutschland) im Rahmen des Konzepts einer "streitbaren Demokratie" als "geistiger Verfassungsschutz" verstanden. Daher ist es zunächst verführerisch, hier einen neuen Schwerpunkt in der Auseinandersetzung mit China zu sehen. Nicht erst seit dem Amtsantritt Xi Jinpings ist offenbar, dass sich China als systemischer und strategischer Wettbewerber vor allem der USA, aber auch der Europäischen Union sieht.
Der Politikwissenschaftler und Sinologe Sebastian Heilmann warnt beispielsweise eindringlich vor einem Wettbewerbsvorteil Chinas in der Durchsetzung eines Menschenbilds, das dem Ideal des autonomen, eigenverantwortlichen Individuums der europäischen Aufklärung radikal entgegengesetzt sei.
Man mag dieses düstere Szenario für realistisch halten oder nicht, doch muss sich politische Bildung den hierin aufgeworfenen geopolitischen Machtfragen auch auf der Ebene der Politik und Ideologien stellen. Diese sind jedoch auch immer, wie Heilmann betont, Fragen an uns selbst, insbesondere an die Gesellschaften und politischen Institutionen Europas, die die Kraft aufbringen müssen, eigene konkurrenzfähige digitale Angebote und Plattformen zu entwickeln. Kurz: Ein nüchterner Blick auf eigene und fremde Machtressourcen und geostrategische Realitäten sollte in die politische Bildung mit und über China eingehen. Die europäische Dimension politischer Bildung wird gestärkt werden müssen, denn der Kampf um "digitale Souveränität" kann nur auf europäischer Ebene gewonnen werden.
Zugleich wäre es in dieser Phase fahrlässig, dem Phänomen des chinesischen Aufstiegs allein mit einem defensiven Narrativ zu begegnen, das die europäische Selbstbehauptung eindimensional als Teil eines Systemwettbewerbs sieht und eine eurozentristische Perspektive nicht verlässt.
China und die Chinesen (neu) kennenlernen
Jede Diskussion über "mehr Chinakompetenz" muss sich zunächst über das fundamentale Ungleichgewicht zwischen den Chinakenntnissen in Deutschland und dem Wissen über Deutschland und andere westliche Länder in China klar werden. "China kennt uns. Aber wir kennen China nicht", fasst die Sinologin Marina Rudyak zusammen.
Der Journalist Mark Siemons plädiert dafür, die Auseinandersetzung mit China nicht ausschließlich in abstrakten Gegensätzen (Autoritarismus versus Demokratie) zu rahmen, sondern sich vor Augen zu führen, dass hier Gesellschaften aufeinanderstoßen, deren "kollektives Bewusstsein" noch aus vielen anderen Elementen zusammengesetzt sei.
Die weitgehend unbekannte Vielfalt des intellektuellen Diskurses in China sichtbar zu machen, wäre eine Aufgabe politischer Bildung. Auch Stimmen und Positionen, die sich nicht in ein westliches Koordinatensystem einfügen lassen, sind wichtig. Das in Kanada betriebene Portal "Reading the China Dream" beispielsweise bietet eine exzellente Auswahl an Übersetzungen von Artikeln konservativer, liberaler und progressiver Intellektueller in China. Diese Stimmen sollten auch in deutscher Übersetzung zugänglich gemacht werden.
Notwendig ist zudem ein Ausbau des Dialogs mit China, auch wenn dieser angesichts der Restriktionen, Repressionen und Zensurmaßnahmen in China immens erschwert wird. Aufklärung und Wissen über diese dunklen Seiten des gegenwärtigen Chinas bleiben ein unentbehrlicher Bestandteil aufklärerischer politischer Bildung: Von Zensur und Repression bedrohte Intellektuelle wie Xu Zhangrun, He Weifang und Zhang Qianfan und andere sollten regelmäßig zu Gastvorträgen und Aufenthalten nach Deutschland eingeladen werden – in Kooperationen mit Institutionen der politischen Bildung.
Ebenso bedeutsam (und unentdeckt in der politischen Bildung) sind die Ergebnisse jahrelanger Feldforschungen – etwa über das erstaunliche (und bedrohte) Wiederaufblühen religiösen Lebens im postmaoistischen China und über die vielen hierzulande unbekannten Menschen, die die Geschichte Chinas aus einer Samisdat-Perspektive neu zu schreiben versuchen.
Gleichzeitig sollte eine Zusammenarbeit mit den kontrovers diskutierten Konfuzius-Instituten an den Universitäten nicht von vornherein ausgeschlossen werden, auch dort gibt es unerschlossene "Spielräume des Machbaren".
Insgesamt sind Offenheit und Neugier als "Haltung" wichtig, ebenso die Bereitschaft, Dialoge mit klaren Standards und pluralen Positionen (darunter auch die der eigenen Werte) zu entwickeln. "Die Bereitschaft zu erforschen, zu hinterfragen und ihr Denken mit dem eigenen Denken zu kontrastieren, ist vielleicht die herausforderndste, aber auch wichtigste Art, mit Chinesen in Kontakt zu treten."
Schluss
China gehört zu den "Zumutungen der Moderne", sein Aufstieg in den vergangenen 30 Jahren hat die Welt noch unübersichtlicher und komplexer gemacht. Die Auseinandersetzung mit China in der politischen Bildung und in anderen Bereichen unserer dezentrierten und pluralistischen Gesellschaft lässt sich nicht auf eine Formel bringen, schon gar nicht in ein starres Freund-Feind-Schema einordnen. Wie und ob sich die tief ineinander verzahnte westliche und chinesische Welt gemeinsam auf die globalen Herausforderungen einlassen werden, ist eine offene Frage. Sicher ist aber, dass es neuer Dialoge und Denkrichtungen bedarf – auf chinesischer wie auf westlicher Seite. Auf die politische Bildung warten neue Aufgaben.