Ich bin jetzt 30 Jahre alt, und ich kenne keine Welt, in der man sich nicht die Geschichte eines nahenden chinesischen Zeitalters erzählt. Dabei werden verschiedene, häufig bedrohliche Szenarien entworfen und entsprechend bebildert. Mal bäumen sich ein chinesischer Drache und ein US-amerikanischer Adler voreinander auf, oder man sieht die jeweils amtierenden Präsidenten der zwei Großmächte, die sich im Profil vor wehenden Nationalflaggen anstarren.
Als ich noch jünger war, widmete sich die Berichterstattung über China oft dem Image der "Werkbank der Welt", und das Label "Made in China" hält sich bei vielen bis heute als abwertende Metapher für billig produzierte Ware mit schlechter Qualität, obwohl diese Realität längst überholt ist. Außerdem ging es häufig um Spionage und China als aufstrebende Großmacht im fernen Osten – mit Megastädten aus neuen, blitzenden Hochhäusern und einer Masse an Menschen, die im Transformationsprozess irgendwo "zwischen Tradition und Moderne" festklemmt. Und auch die Frage nach Werten und der Kampf um die globale Vormacht in Bezug auf Freiheit und Unfreiheit wurde in diesen Erzählungen stets mit verhandelt.
Es ist nicht so, als seien diese Themen nicht relevant. Sie waren sehr relevant, und sind es noch immer. Aber sie sind auch sehr beschränkt. Hätte ich damals ein Bild malen sollen von China in der Welt, dann hätte es Linksaußen mit den USA begonnen und Rechtsaußen mit China aufgehört. Dazwischen wäre Europa ein kleiner, kaum bedeutender Punkt gewesen. Afrika, Australien und Südamerika wären auf dieser Achse nicht einmal aufgetaucht. Jetzt denke ich manchmal, dass dieser Umstand ein passendes Sinnbild dafür ist, wie Europa und auch Deutschland in ihren Beziehungen zu China dastehen: etwas verloren, ohne ausreichenden Blick auf und für das größere Ganze und trotzdem mittendrin.
Heute, im Jahr 2021, sind wir tatsächlich mittendrin im lange beschworenen chinesischen Zeitalter. Aber sind wir auch gut vorbereitet? Expert:innen sagen: Nein. Im Februar 2020 hat eine Kommission zu Forschung und Innovation Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Jahresgutachten vorgelegt, das Deutschland mangelnde Chinakompetenz im Bereich der Wissenschaft attestiert. Ein produktiver wissenschaftlicher Austausch mit China brauche Menschen, die sich mit der chinesischen Sprache und Kultur auskennen, aber auch die Märkte, die institutionellen Rahmenbedingungen und die politischen Strukturen verstünden, heißt es darin. Das ist weniger eine Kritik an einzelnen Forschenden und sinologischen Instituten in Deutschland als vielmehr die Forderung nach einer breiteren Strategie. Es brauche eine zentrale Kompetenzstelle, die Wissenschaftler:innen aller Fachbereiche zu Kooperationen mit chinesischen Partner:innen berät und informiert. Außerdem solle Forschung und Lehre gestärkt werden, "welche zum Verständnis von aktuellen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen in China beiträgt".
Bereits zwei Jahre zuvor stellten Wissenschaftler:innen des Mercator Institute for China Studies in einem Bericht fest, dass es Deutschen an Chinakompetenz fehlt. Auch dieser Bericht kommt zu dem Schluss, dass "mehr" gebraucht wird: mehr Angebote an Schulen und Hochschulen, mehr Expertise in Diplomatie und Rechtswissenschaften und in der Konsequenz insbesondere mehr Lehrkräfte mit "fundierten China-Kenntnissen".
Was bedeutet nun fundiert? Bei alledem fängt man, wie immer, am besten vorne an: mit der Frage danach, was "Chinakompetenz" eigentlich ausmacht. Können nur Einzelpersonen sie erwerben, indem sie zum Beispiel die Sprache lernen und sich mit der chinesischen Geschichte und Gegenwart auseinandersetzen, oder ist Chinakompetenz etwas, das wir uns auch kollektiv als Gesellschaft aneignen können? Und wenn ja – wie machen wir das?
Business – as usual
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung schließt in seine Definition von Chinakompetenz Sprachkenntnisse, ein "Grundverständnis von Chinas Wirtschaft, Politik, moderner Geschichte und Gesellschaft" sowie "interkulturelle Fähigkeiten" ein. Dass Wirtschaft noch vor Politik, moderner Geschichte und Gesellschaft genannt wird, steht sinnbildlich für den ökonomischen Fokus, der hierzulande auf die Beziehungen zu China gelegt wird. Das Interesse an China ist oft am rein geschäftlichen Nutzen orientiert. Dass es aufgrund enger wirtschaftlicher Beziehungen einen Bedarf an Expertise in diesem Bereich gibt, ist nachvollziehbar. Doch die Wirtschaft mit ihrer jahrzehntelangen Erzählung des "Rising Dragon" und der gefährlichen, spionierenden Supermacht hat durchaus ihren Teil dazu beigetragen, das Interesse an China auf Geschäftliches und eine opportune "So viel, wie es uns eben nützt"-Haltung zu beschränken. Der Fokus auf den wirtschaftlichen Aspekt im Verständnis von China hat so eher dazu geführt, chinaspezifische Wirtschaftskompetenz zu fördern statt tatsächlicher Chinakompetenz.
Ein weiterer absurder Nebeneffekt dieses business-zentrierten Interesses ist, dass es relativ wenig braucht, um in Deutschland als Chinaexpert:in zu gelten. Absurd, weil Expertise ja eigentlich ein "viel" oder zumindest ein "mehr" voraussetzt. Da kann jemand ganz in kolonialer Tradition "Chinaexpert:in" heißen, obwohl er oder sie vielen Debatten gar nicht aus erster Hand folgen kann und sich ausschließlich auf übersetzte und damit vorsortierte Informationen berufen muss. Während fast jede:r die sprachlichen Fähigkeiten mitbringt, Nachrichten aus der englischsprachigen Welt einzuordnen und die meisten wesentlichen Entwicklungen in den USA auch auf Deutsch von verschiedenen Expert:innen diskutiert werden, muss man bei China auf deutlich begrenztere Quellen zurückgreifen. So entstehen im öffentlichen Raum kaum Debatten, dafür aber umso mehr moderne Mythen, Verkürzungen und Gerüchte, wie sich beispielsweise an der Berichterstattung über das sogenannte Sozialkreditsystem beobachten ließ.
Anders als viele andere nicht europäische Gesellschaften ist China wegen seiner wirtschaftlichen Bedeutung und dem Machtanspruch der Kommunistischen Partei zwar dauerpräsent – in der deutschen Kunst- und Kulturlandschaft und im Alltag der meisten Deutschen spielt das Land aber nur am Rande eine Rolle. Dass es zunehmend schwer wird, auch abseits der üblichen Themen Interesse an China zu wecken, liegt auch daran, dass unsere Berichterstattung und Repräsentation seit Jahren ein Chinabild vom bösen Gegenspieler des Westens stärkt und so Ängste schürt. Zugleich verlängert dieses Bild in seiner Wirkung viele hartnäckige, teils rassistische Stereotype.
Doch angenommen, es gäbe bessere und vielfältigere Angebote, China auch ab von Wirtschaft und Politik kennenzulernen – wäre es dann besser bestellt um die deutsche Chinakompetenz? Eine Sprache lässt sich erlernen, ein erstes Grundverständnis verschiedener Lebensbereiche ebenfalls – auch aus der Entfernung. Der viel schwieriger zu greifende Schlüssel zur Chinakompetenz liegt in der Phrase "interkulturelle Fähigkeiten". Wie soll man interkulturelle Fähigkeiten messen, wo fangen sie überhaupt an? Es gibt zahlreiche Ratgeber und Fachliteratur zu diesem Thema. Im Alltag bleibt der Begriff jedoch häufig schwammig. Wer mal ein Semester in China studiert hat oder vielleicht auf einer zweiwöchigen Dienstreise irgendwo im Ausland war, macht möglicherweise schon ein gut gemeintes Kreuz hinter dieser Anforderung, die immer häufiger in Jobausschreibungen steht.
Was hinter dem hochgehandelten Schlagwort "Interkulturalität" steckt, ist jedoch viel mehr als ein karrierefördernder Spiegelstrich. Zu interkulturellen Fähigkeiten gehört zu allererst die Bereitschaft, sich nicht nur mit der anderen Seite wie mit einem Studienobjekt auseinanderzusetzen, sondern auch die eigenen Perspektiven auf das vermeintlich Andere zu hinterfragen und manche von ihnen aktiv zu verlernen.
Nicht rassistisch sein
Chinakompetenz – beziehungsweise jegliche Kompetenz in Hinblick auf einen bestimmten Kulturraum – bedeutet auch die kritische Betrachtung und Dekonstruktion einer herrschenden, weißen Sicht auf die Welt. Es bedeutet, über Macht nachzudenken: die Macht von Sprache, von Wissen und von Zugang.
Im Fall von Chinakompetenz ließe sich mit der Herkunft und Genese der vielen überholten und klischeebehafteten Chinabilder im Alltag anfangen. Wie tragen Drachen, Glückskekse und Menschenmassen, aber auch Fotos von asiatisch gelesenen Menschen im Zusammenhang mit Nachrichten über Covid-19 zu Vorstellungen bei, die Deutsche sich von China machen? Welche Bilder entstehen aus dem Kinderlied von den drei Chinesen mit dem Kontrabass und der Praxis des Yellowfacing in Film und Theater? Ergibt eine Gewürzmischung namens "China" im Regal zwischen Chili und Curry eigentlich Sinn?
Diese Dinge mögen klein klingen in Relation zu Chinas Gewicht auf der globalen Bühne und auf den einen oder die andere nichtig wirken im Vergleich zu Praxis-Tipps zu chinesischen Business-Regeln oder Urlaubsreisen. Aber die Auseinandersetzung mit der eigenen Sicht auf die Welt ist eine wichtige Voraussetzung dafür, diese Welt und ihre Akteur:innen besser zu verstehen und sich selbst in der Welt zu verhalten. Vielleicht sogar die wichtigste.
Sowohl Teile der Medien als auch politische Amtsinhaber:innen verschiedener Parteien und große Teile der deutschen Zivilgesellschaft haben in den vergangenen Monaten erneut bewiesen, dass Rassismus in unserer Gesellschaft noch immer verbreitet ist. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes nannte die Corona-Pandemie einen "Brandbeschleuniger für Rassismus".
Die vergangenen Monate haben außerdem gezeigt, dass Deutschland in vielerlei Hinsicht nicht bereit oder fähig ist, von Gesellschaften zu lernen, die größere Erfolge bei der Eindämmung der Pandemie zu verzeichnen hatten. Der Westen hat sich zu lange auf der orientalistischen Selbstgewissheit ausgeruht, zivilisatorisch überlegen zu sein, während zugleich die Erzählung der bedrohlichen Supermacht aus Fernost aufrechterhalten wurde. Und so stehen wir da, scheinbar ohne Strategie oder Haltung, unterzeichnen Handelsabkommen und spulen Floskeln der Kritik ab, wenn es um Menschenrechte geht.
Westliche Gesellschaften haben – geprägt durch ihre imperiale und koloniale Vergangenheit und Gegenwart – dem Rest der Welt Vielschichtigkeit und Menschlichkeit abgesprochen, individuell und kollektiv. In Bezug auf China manifestiert sich diese Haltung in der Idee, die chinesische Bevölkerung sei eine ferngesteuerte Masse unter autoritärer Hand, ohne die Fähigkeit zum freien, individuellen Denken. Doch selbstverständlich gibt es auch in einem autoritären Staat Dissens und eine Vielfalt an Stimmen.
Die Welt ist einfacher zu verstehen, wenn wir sie in einfache Kategorien einteilen. So funktionieren Märchenerzählungen, in denen Gut gegen Böse kämpfen muss. So verkaufen sich Zeitungen angeblich besser, so finden wir etwas, woran wir uns im komplexen Getöse der Globalisierung festhalten können. Das Dilemma dabei bleibt aber: Eine vereinfachte Version der Welt ist leichter zu verstehen, aber eine vereinfachte Version der Welt ist nie wirklich die Welt. Was also tun?
Zuhören, hinsehen, wahrnehmen
Die Antwort ist naheliegend: Wir müssen uns um Differenziertheit bemühen. Ihre Abwesenheit ist oft ein Problem, auch in Bezug auf China und auf sogenannte Chinakompetenz. Es ist zugegebenermaßen nicht leicht, über China zu berichten und sich verlässlich zu informieren. Und es wird schwieriger. Politische Spannungen wirken sich direkt auf Möglichkeiten des Austauschs und des Lernens aus. Journalist:innen, die aus China berichten, haben es zunehmend schwer. Zuletzt wurden im März 2020 13 Korrespondent:innen US-amerikanischer Medien ausgewiesen. Das wirkt sich auch auf die Informationslage in Deutschland aus, wo Interessierte oft auf Veröffentlichungen aus den USA zurückgreifen, weil dort eine größere chinesische Diaspora in Alltag und medialer Öffentlichkeit vertreten ist. Dort finden sich zum Beispiel Analysen dazu, warum viele chinesische Dissidenten Donald Trump unterstützen, aber auch Essays über verschiedene chinesische Küchen – wichtige Nuancen und Themen, die in Deutschland keine wesentliche Beachtung finden.
In vielen Wissenschaftsfeldern wird mit dekolonialen Ansätzen längst daran gearbeitet, die Position der Forschenden, oft weißen Subjekte, in der Erzählung der Welt kritisch einzubeziehen, auch rückwirkend. Als Gesellschaft verstehen wir allerdings zu langsam, dass Geschichtsschreibung von kolonialen, weißen Blicken beherrscht und deshalb wichtige Perspektiven auf Wahrheit und Wirklichkeit ignoriert wurden. Schon 1967, einen Tag vor seiner Ermordung, brachte Martin Luther King diese Haltung in einer Rede auf den Punkt: "The Western arrogance of feeling that it has everything to teach others and nothing to learn from them is not just."
Wegen dieser Altlasten wird es nicht ausreichen, Chinakompetenz nur an Sprachkenntnissen, Studienwissen und Auslandserfahrung festzumachen. Es wird nicht genug sein, neben den großen Themen Wirtschaft und Politik lediglich kleine kulturelle oder philosophische Häppchen zu reichen und ein paar Souvenirs zu importieren, wie Massageroller aus Jade oder Kalenderzitate von Konfuzius. Wir müssen nachdrücklicher die Frage stellen, wie wir Chinakompetenz nicht als Expertise ein paar weniger Fachleute oder als Vorzeigeskill im Lebenslauf junger Karrieremenschen vermitteln, sondern als Notwendigkeit, um die Welt, wie sie ist und sein wird, zu begreifen. Auch, um China auf der globalen Bühne langfristig begegnen und etwas entgegensetzen zu können.
Das mag nach einer Mammutaufgabe klingen. Aber wir machen Ähnliches längst mit dem englischsprachigen Kulturraum oder den Nachbar:innen in Frankreich. Wir lernen Sprachen, wir lesen Literatur und Gedichte im Original oder gut übersetzt. Wir studieren die Gedanken ihrer Intellektuellen, hören ihre Musik und produzieren gemeinsam Filme. Dieser Austausch macht immer wieder neugierig aufeinander. Das ist mehr als Unterhaltung. Es ist die Grundlage für Fortschritt und Wachstum, im zivilisatorischen Sinn.
Mit China tun wir all das noch relativ selten, dabei wäre es besonders unter den angespannten weltpolitischen Verhältnissen wichtig. Wirklich logisch ist dieses Versäumnis nicht zu begründen – schon gar nicht in einer Welt, in der räumliche Entfernung nicht mehr als Maßstab für Distanz genügt. Es mag Interesse geben an China, großes, wenn es ums Geld geht, und wichtiges im Bereich der internationalen Zusammenarbeit. Es gibt kompetente Wissenschaftler:innen und Expert:innen in anderen Bereichen, die China nicht nur aus Lehrbüchern kennen. Aber wir brauchen tatsächlich mehr, wir brauchen eine Vielfalt der Bilder und der Stimmen. Davon gibt es auch in China reichlich. Wir müssen deutlich kompetenter darin werden, sie als gleichwertig und wertvoll wahrzunehmen.