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Die Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher und menschlicher Entwicklung in der arabischen Welt | Arabische Welt | bpb.de

Arabische Welt Editorial Die Säkularisierung des arabischen Denkens: Zur Trennung von Vernunft und Religion Die Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher und menschlicher Entwicklung in der arabischen Welt Autoritäre Herrschaft in der arabischen Welt Partizipation von Islamisten in der arabischen Politik Gesellschaftliche Differenzierungsprozesse und Wandel des Frauen- und Familienrechts in Marokko Partikularismus statt Pluralismus: Identitätspolitik und Presse im Irak Waffenproliferation, Kleinwaffenkontrolle und "Waffenkultur" im Jemen

Die Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher und menschlicher Entwicklung in der arabischen Welt

Markus Loewe

/ 16 Minuten zu lesen

Die arabischen Länder hinken bei der menschlichen Entwicklung dem Rest der Welt hinterher. Die Diskrepanz zwischen menschlicher und wirtschaftlicher Entwicklung ist es, die der islamistischen Opposition Sympathie und Zulauf einträgt.

Einleitung

In vielerlei Hinsicht zeichnet sich die arabische Welt durch ein hohes Maß an Heterogenität aus. Dies gilt auch für den Stand der menschlichen Entwicklung, bei dem die Bandbreite der arabischen Länder nahezu genauso groß ist wie die Bandbreite aller Länder der Welt insgesamt. Dabei besteht eine deutliche Korrelation von zahlreichen Indikatoren der menschlichen Entwicklung mit dem Pro-Kopf-Einkommen (PKE) der einzelnen Länder. Besonders gut schneiden die sechs Golfstaaten ab, deren PKE mit dem westlicher Industrieländer vergleichbar ist. Im Mittelfeld rangieren die middle-income countries, und das Schlusslicht bilden durchweg die drei arabischen low-income countries Jemen, Mauretanien und Sudan.

Doch trotz der verstärkten Aufmerksamkeit, die der menschlichen Entwicklung spätestens seit der Proklamation der Millenniumserklärung im Jahr 2000 zuteil wird, hat sich die Bereitschaft der meisten arabischen Regime zu einem stärkeren Engagement in den sozialen Sektoren nicht deutlich gestärkt. Noch immer hinken sie anderen Ländern, die auf demselben Einkommensniveau liegen, hinsichtlich der sozialen, gesellschaftlichen und politischen Möglichkeiten ihrer Bürgerinnen und Bürger deutlich hinterher. Und genau diese Diskrepanz zwischen menschlicher und wirtschaftlicher Entwicklung ist es, die der islamistischen Opposition in allen arabischen Ländern Sympathie, Unterstützung und Zulauf einträgt.

Faktoren der menschlichen Entwicklung

Wirtschaftswachstum kann die Bekämpfung von Einkommensarmut begünstigen: So zeigen Ländervergleiche, dass die Zahl der Einkommensarmen tendenziell umso stärker abnimmt, je höher das Wirtschaftswachstum ausfällt. Jedoch besteht hierbei kein Automatismus, denn es gibt auch zahlreiche Länder, in denen die Zahl der Armen auch bei höherem Wachstum nur leicht ab- oder sogar zunahm. Und umgekehrt gelang es Ländern mit stagnierender beziehungsweise rückläufiger Wirtschaftsleistung, über mittlere Zeiträume hinweg Einkommensarmut zu reduzieren.

Inwieweit wirtschaftlicher Fortschritt tatsächlich Einkommensarmut zurückgehen lässt, hängt davon ab, wie die Politik eines Landes ausgerichtet ist. Erst recht gibt es keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und anderen Aspekten von Entwicklung wie Gesundheit, Bildung, politischer Freiheit oder Sicherheit. Besonders deutlich machten dies die von neoklassischem Denken geprägten Stabilisierungs- und Strukturanpassungsprogramme vieler Entwicklungsländer in den 1980er Jahren: Den meisten gelang es, Haushaltsdefizite abzubauen und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln; viele bewirkten aber, dass sich Ernährungs-, Bildungs- und Gesundheitsindikatoren verschlechterten.

Daher wurde vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme, UNDP) das Konzept der menschlichen Entwicklung geschaffen, das dazu beitragen soll, dass nicht nur wirtschaftlicher Fortschritt gemessen und gefördert wird, sondern auch Fortschritt auf anderen Gebieten, der für die Möglichkeit von Menschen, ein lebenswertes Leben zu führen, mindestens so wichtig ist wie Wirtschaftswachstum. Denn erstens sagt ein hohes Durchschnittseinkommen nichts darüber aus, wie die Einkommen innerhalb der Gesellschaft verteilt sind. Zweitens leiden auch Menschen mit ausreichendem Einkommen oftmals unter unzureichender Gesundheit und Bildung, weil in ihrem Lebensumfeld keine Gesundheitseinrichtung und keine qualitativ ausreichende Schule existiert. Drittens sind die Entfaltungsmöglichkeiten vieler Menschen stärker durch politische Repression, Gefährdung durch Krieg, Terror und Kriminalität oder einen Mangel an Integration und Akzeptanz durch die Gesellschaft beschnitten als durch finanzielle Engpässe.

Zumeist werden fünf Komponenten der menschlichen Entwicklung voneinander unterschieden: (i) ökonomische Möglichkeiten (Steigerung von Einkommen und Vermögen sowie Bekämpfung von Einkommensarmut), (ii) soziale Möglichkeiten (Bildung, Gesundheit, Ernährung, sexuelle Selbstbestimmung), (iii) Möglichkeiten der sozialen Absicherung gegen Risiken, (iv) gesellschaftliche Möglichkeiten (Würde, Akzeptanz, Integration in die Gesellschaft) und (v) politische Möglichkeiten (Menschenrechte, politische Freiheiten, Mitsprachemöglichkeiten, Rechtsstaatlichkeit).

Inwieweit sich die Politik aktiv für eine Beschleunigung der menschlichen Entwicklung einsetzt, hängt im Wesentlichen von drei Determinanten ab: der Problemlösungsdringlichkeit (also der Rückständigkeit des betreffenden Landes bei der menschlichen Entwicklung), der Problemlösungsfähigkeit (also den finanziellen, analytischen und administrativen Kapazitäten staatlicher Stellen) sowie der Problemlösungsbereitschaft (von Staat und Gesellschaft).

Ein Dilemma besteht darin, dass die Problemlösungsdringlichkeit in der Regel umso größer ist, je kleiner die Problemlösungsfähigkeit eines Landes ist - je ärmer es nämlich ist. Das andere Dilemma ist, dass die Problemlösungsbereitschaft von Staat und Gesellschaft nicht miteinander übereinstimmen müssen. Gerade in Ländern mit hoher Problemlösungsdringlichkeit im Bereich der politischen Möglichkeiten fehlt es der Gesellschaft an den Kontroll- und Mitsprachemechanismen, die nötig sind, um Einfluss auf die Problemlösungsbereitschaft des Staates zu nehmen.

Inwieweit der Staat die menschliche Entwicklung fördert und auf welche Komponenten er fokussiert, hängt in nichtdemokratischen Ländern noch stärker als in demokratischen von den Partikularinteressen von politisch einflussreichen gesellschaftlichen Gruppen ab. Die Herrschenden ergreifen vor allem Maßnahmen, die ihrem Machterhalt zuträglich sind. Beruht ihre Herrschaft, wie dies in sozialrevolutionären Regimen bisweilen der Fall ist, auf der Unterstützung durch eine breite Masse benachteiligter Gruppen, so werden oft recht große Fortschritte bei der menschlichen Entwicklung gemacht. Stützen sich die Machthaber hingegen auf eine kleine, oft elitäre Teilgruppe der Gesellschaft, ist das Engagement des Staates für die menschliche Entwicklung in der Regel klein und selektiv. Dies spiegelt sich auch in den Erfahrungen der arabischen Länder wider.

Stand der menschlichen Entwicklung in den arabischen Ländern

Trotz aller Unterschiede zwischen den verschiedenen Gesellschaften lassen sich einige Tendenzaussagen über die arabischen Länder insgesamt machen. So schneiden sie bei einigen Indikatoren der menschlichen Entwicklung insgesamt und unabhängig vom jeweiligen PKE schlecht ab. Dies gilt insbesondere für die Realisierung von politischen Freiheiten für die Bürgerinnen und Bürger. Bei anderen Indikatoren hingegen besteht zwar eine Korrelation mit dem PKE, die arabischen Länder rangieren aber im internationalen Vergleich durchweg niedriger als andere Länder mit dem gleichen PKE - dies gilt vor allem für das Niveau ihrer Sozialausgaben, die Qualität ihrer Bildungssysteme, die Gleichstellung der Geschlechter und das Ausmaß der Arbeitslosigkeit. Man könnte sagen, dass sie bei der menschlichen Entwicklung gegenüber ihren eigenen Fortschritten bei der wirtschaftlichen Entwicklung deutlich hinterher hinken.

Ökonomische Möglichkeiten

Vergleichsweise gut schneiden die arabischen Länder hinsichtlich ökonomischen Aspekten ab. So liegt der Anteil der Menschen, die nach internationalen Kriterien als einkommensarm gelten (die also weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben), im regionalen Durchschnitt bei unter 3% und damit niedriger als in allen anderen Entwicklungsregionen der Welt. Allerdings steigt dieser Anteil seit 1990 kontinuierlich, während er in fast allen anderen Regionen mehr oder weniger fällt. Lediglich im Jemen, in Mauretanien und im Sudan liegt er über 10%.

Auch die Einkommensungleichverteilung ist etwas schwächer ausgeprägt als in anderen Teilen der Welt. Ein Indikator hierfür ist der sogenannte Gini-Koeffizient, der von 32% in Ägypten über 37% in Marokko bis 41% in Tunesien und 44% im Libanon rangiert. In Subsahara-Afrika liegt er im Mittel bei 46 bis 47% und in Lateinamerika sogar bei 49%. Allerdings beruhen die Werte zu diesen beiden Weltregionen auf Einkommensdaten, während der Gini-Koeffizient in den arabischen Ländern auf der Basis von Konsumausgaben berechnet wird, die tendenziell immer etwas gleichmäßiger verteilt sind als die Einkommen. In Südasien liegt er im Mittel sogar nur bei 32 bis 33%.

Dass die arabischen Länder hinsichtlich Einkommensarmut und -verteilung relativ gut dastehen, ist im Wesentlichen auf drei Faktoren zurückzuführen: (i) hohe Einnahmen aus Gastarbeiterüberweisungen gerade bei ärmeren Haushalten, (ii) hohes Angebot von Arbeitsplätzen auch für geringer Qualifizierte im öffentlichen Sektor und (iii) immense Ausgaben der Staatshaushalte für Lebensmittelsubventionen, die die Lebenshaltungskosten für ärmere Haushalte deutlich reduzieren.

Der private Sektor hat hingegen kaum einen Beitrag geleistet. Dazu ist er in allen arabischen Ländern zu klein. Er hat erst in den vergangenen Jahren eine signifikante Wachstumsdynamik entwickelt. Dies ist auch der Grund dafür, dass die arabischen Länder bei der Arbeitsmarktstatistik erheblich schlechter abschneiden als alle anderen Ländergruppen. Selbst nach den offiziellen Statistiken liegt die Arbeitslosenquote im Mittel bei rund 15%, während inoffizielle Schätzungen sie in vielen Ländern sogar bei deutlich über 20% sehen.

Hinzu kommt ein hohes Maß an Unterbeschäftigung. Hiervon sind vor allem gering Qualifizierte betroffen, während die Arbeitslosen überproportional gebildet sind. Dies lässt sich damit erklären, dass Arbeitnehmer mit geringer Bildung in den arabischen Ländern noch vergleichsweise realistische Vorstellungen von ihren Verdienstmöglichkeiten haben, während die gebildeteren im internationalen Vergleich hohe Löhne beziehen. Dadurch gibt es ein Überangebot an Beschäftigten. Viele Universitätsabsolventen hoffen darauf, irgendwann auch einen Arbeitsplatz im Ausland oder in der öffentlichen Verwaltung zu bekommen wie die Generationen vor ihnen. In Anbetracht des Abbaus von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor und einer rapide wachsenden Erwerbsbevölkerung ist dies aber zunehmend unrealistisch.

Soziale Möglichkeiten

Schlecht schneiden die arabischen Länder auch hinsichtlich Bildung und Gesundheit ab. So können noch immer 30% der Erwachsenen nicht lesen, während es beispielsweise in Ost- und Südostasien nur noch 9% sind. Lediglich Jordanien, Kuwait und die Palästinensischen Gebiete weisen eine Analphabetenrate von weniger als 10% auf, während diese in Marokko, Mauretanien und dem Jemen sogar bei über 40% liegt. Im Schnitt liegen die Analphabetenquoten der arabischen Länder rund 12 Prozentpunkte über den Werten aller anderen Länder mit jeweils dem gleichen PKE. Ähnliches gilt für die Schulbesuchsquoten, die in den arabischen Ländern im Schnitt bei 71% und damit knapp 6 Prozentpunkte unter dem Niveau liegen, mit dem man in Anbetracht ihres mittleren Einkommensniveaus gerechnet hätte.

Hinzu kommt, dass die Unterschiede im Bildungsniveau in den arabischen Ländern immer größer werden. Kinder reicher Eltern besuchen zunehmend teure Privatschulen. Der Mittelstand kann sich zumindest privaten Nachhilfeunterricht leisten. Und die Ärmsten haben das Nachsehen, da die Lehrer der öffentlichen Schulen einen immer schlechteren Unterricht abhalten - nicht zuletzt, um die Nachfrage nach privat angebotener Nachhilfe zu steigern. Zudem haben die Regierungen ihre Bildungsausgaben in den vergangenen zwanzig Jahren stark reduziert. Das Mittel ihrer Ausgaben pro Grundschüler lag im Jahr 2007 bei gut 1000 US-Dollar in Kaufkraftparitäten und damit noch nicht einmal halb so hoch wie in anderen Ländern mit einem vergleichbaren PKE.

Noch schlechter ist es um die Qualität der in den arabischen Schulen vermittelten Bildung bestellt. Hierauf deutet bereits das hohe Verhältnis von Schülern zu Lehrern in den staatlichen Schulen hin. Auch die bislang erschienenen Arab Human Development Reports (AHDR) verweisen darauf, führen hierfür allerdings nur anekdotische Evidenz an. Mittlerweile beteiligen sich aber mehrere arabische Länder regelmäßig an internationalen Bildungsvergleichstests wie PISA, IGLU oder TIMMS, deren Ergebnisse die These der Arab Human Development Reports stützen. Stets landen alle arabischen Länder bei den unteren 40 bzw. sogar 20% aller teilnehmenden Länder, und außer dem Libanon konnte keines seine Ergebnisse im Mittel verbessern (Ägypten und Marokko schnitten 2007 sogar noch schlechter ab als in vorangegangenen Runden). Vor allem aber erreichten außer in Bahrain, Dubai und Jordanien jeweils weniger als 10% der Schülerinnen und Schüler eine als "gut" beziehungsweise "sehr gut" eingestufte Punktzahl, währen dieser Anteil beispielsweise in Kasachstan zuletzt bei 40% und in Taiwan bei 60% lag.

Nicht ganz so schlecht schneiden die arabischen Länder bei der Gesundheit ihrer Einwohner ab. Die Lebenserwartung liegt mittlerweile im Durchschnitt bei mehr als 70 Jahren und die Säuglingssterblichkeit bei 3,2%. Allerdings wird der Gesundheitszustand ihrer Bewohner immer stärker vom Einkommen bestimmt. So lagen beispielsweise die Säuglingssterblichkeitsziffern in Ägypten, Marokko und dem Jemen im Jahr 2005 im ärmsten Fünftel der Bevölkerung jeweils dreimal so hoch wie im reichsten Fünftel. Dies liegt daran, dass die öffentlichen Gesundheitssysteme seit Mitte der 1980er Jahre unterfinanziert sind. So wendet beispielsweise Ägypten rund 6% seines Volkseinkommens für Gesundheit auf. Davon entfallen aber weniger als 1,5% auf das kostenlose öffentliche Gesundheitssystem, das dem Staat bis Ende der 1970er Jahre noch 5% des Volkseinkommens wert gewesen war. Und selbst von den staatlichen Gesundheitsausgaben kommen in Ägypten nur 16% den ärmsten 20% der Bevölkerung zugute, 24% hingegen den reichsten 20%.

Unterernährung ist weniger verbreitet als in anderen Weltregionen. Nur 8% aller Einwohner in den arabischen Ländern nehmen regelmäßig zu wenig Energie zu sich, überwiegend handelt es sich um Frauen, Kinder, Einkommensarme und landlose Bauern. Dennoch liegt der Anteil der untergewichtigen Kleinkinder bei 13% und damit 5 Prozentpunkte höher, als es dem wirtschaftlichen Entwicklungsniveau der arabischen Länder entsprechen würde.

Möglichkeiten der sozialen Absicherung

Relativ hoch liegt der Anteil derjenigen, die in der arabischen Welt eine einklagbare Absicherung gegen Krankheit, Alter und Erwerbsunfähigkeit genießen. Im Durchschnitt sind gut 35% aller Erwerbstätigen lebens- oder rentenversichert, während 80% aller Einwohner krankenversichert sind oder Zugang zu einem steuerfinanzierten öffentlichen Gesundheitssystem haben. Nur in den Industrieländern und in Lateinamerika liegen die entsprechenden Mittelwerte höher. Geringer ist hingegen die Reichweite der Grundsicherungssysteme. Im Mittel beziehen nur 3% aller Haushalte bzw. 30% der bedürftigen Haushalte staatliche Transfers zum Lebensunterhalt.

Gesellschaftliche Möglichkeiten

In gesellschaftlicher Hinsicht fällt in den arabischen Ländern insbesondere auf, wie stark die Errungenschaften von Frauen und Männern bei der menschlichen Entwicklung voneinander divergieren. So liegt der Anteil der Mädchen in den Grundschulen noch immer nur bei 45%, und zwei von drei Analphabeten sind Frauen. Zwar haben Frauen eine um 5% höhere Lebenserwartung als Männer, der Unterschied ist aber in allen anderen Ländern mit jeweils dem gleichen Einkommensniveau noch deutlich größer.

Noch gravierender ist die ökonomische und politische Benachteiligung der Frauen. 2007 lag die Erwerbsbeteiligung bei Frauen in den arabischen Ländern im Mittel bei 34%, in Südasien hingegen bei 44%, in Subsahara-Afrika bei 73% und in Ost- und Südostasien bei 79%. Seit 1990 ist die Erwerbsbeteiligung der arabischen Frauen sogar noch gesunken. Zudem lag der Durchschnittsverdienst von Frauen bei nur 29% des Verdienstes von Männern, während das ungewichtete Mittel desselben Verhältnisses für alle Länder der Welt 54% ist. Und beim Gender Empowerment Measure (einem Index von UNDP, der die Beteiligung von Frauen an der Politik und am Management privater Unternehmen erfasst) erreichen die arabischen Länder im Mittel 0,394 Punkte und damit 0,250 Punkte weniger, als man in Anbetracht ihres Einkommensniveaus erwarten könnte.

Schließlich sind Frauen in den arabischen Ländern gegenüber Männern auch in ihren rechtlichen Möglichkeiten benachteiligt. Zum einen werden sie in den meisten Ländern ganz explizit durch gesetzliche Regelungen diskriminiert. Zum anderen sind sie bei der Rechtsanwendung auch informellen Benachteiligungen ausgesetzt, da sie nur über begrenzte Möglichkeiten des Zugangs zu Verwaltung und Justiz verfügen.

Politische Möglichkeiten

Um die politischen Mitgestaltungs- und Freiheitsrechte der Bürger ist es in den arabischen Ländern ebenfalls deutlich schlechter bestellt als im Rest der Welt (allenfalls in Zentralasien ist die Lage möglicherweise ähnlich gravierend). Beim Indikator der Weltbank für "Mitsprache der Bürger und Rechenschaftspflicht der Regierenden" liegt das ungewichtete Mittel der arabischen Länder bei -1,12, während das Mittel für die Länder Subsahara-Afrikas nur bei -0,46 und für Lateinamerika bei +0,43 liegt. Ähnlich schlecht rangieren die arabischen Staaten bei den Indikatoren, die das Ausmaß von "Korruption" und "Rechtsstaatlichkeit" erfassen. Noch schlimmer ist, dass es in den Jahren seit dem Ende des Ost-West-Konflikts - anders als in den meisten anderen Teilen der Welt - bis auf wenige Ausnahmen keine Verbesserungen in Richtung Demokratie, Menschenrechte und Freiheiten der Bürger gegeben hat, sondern sich die Lage im Mittel sogar noch etwas verschlechtert hat.

Ursachen der schlechten Bilanz

Um die Errungenschaften der arabischen Länder bei der menschlichen Entwicklung angemessen würdigen zu können, darf man nicht übersehen, dass diese 1945 von einem niedrigeren Niveau starteten als fast alle anderen Teile der Welt. In den folgenden Jahrzehnten machten sie teilweise sogar größere Fortschritte als andere Ländergruppen. Erst in jüngster Zeit hat sich die Entwicklung wieder verlangsamt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Lebensbedingungen in der arabischen Welt verheerend. Das PKE hatte während der gesamten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stagniert: Kein anderer Teil der Welt wies schlechtere Gesundheitsindikatoren auf, ein Großteil der Region war von Epidemien und Unterernährung betroffen, die Säuglingssterblichkeit lag bei 186 pro 1000 Neugeborenen. 99% aller Ägypter waren Analphabeten. Noch 1969 hatten Erwachsene im Mittel nur 0,9 Jahre lang die Schule besucht, während es in Subsahara-Afrika 1,7 und in Ostasien 4,3 Jahre waren. Als etwa in Südkorea in den frühen 1960er Jahren der wirtschaftliche Aufschwung einsetzte, waren bereits 70% der Bevölkerung alphabetisiert; diese Schwelle erreichte Bahrain erst 1985, Syrien um 1998 und Tunesien um 2000, während Ägypten, Marokko, Jemen, Sudan und Mauretanien sie bis heute noch nicht überschritten haben.

Nach der Unabhängigkeit kamen in vielen arabischen Ländern revolutionäre Regime an die Macht, die ihre autoritäre Herrschaft mit auf Sozialreformen ausgerichteten Programmen rechtfertigten. Die untere Mittelschicht war ihre soziale Basis und erwartete nach der Machtübernahme Taten. Abgesehen von einer hohen Problemlösungsdringlichkeit war somit eine weitere Bedingung für staatliches Handeln zugunsten der menschlichen Entwicklung - eine hohe Problemlösungsbereitschaft in Gesellschaft und Politik - gegeben. Tatsächlich begannen sich die meisten Regime mit großer Überzeugung in der Bildungs-, Gesundheits-, Frauenförderungs- und Sozialpolitik zu engagieren. Für allzu große Erfolge mangelte es in dieser ersten Phase der Entwicklung allerdings noch an einem dritten Faktor: der ökonomischen Problemlösungsfähigkeit.

Diese kam mit dem Ölpreisboom der 1970er Jahre, von dem alle arabischen Länder profitierten, da Gastarbeiterüberweisungen und Budgettransfers von den Erdölländern in die gesamte Region flossen. Der Geldsegen begründete einen Sozialvertrag, in dem die autoritären Regime ihren Bürgern politische Mitsprachemöglichkeiten mit großzügigen Sozialleistungen abkauften: der Schaffung einer riesigen Zahl von Arbeitsplätzen für Akademiker in der Staatsverwaltung, hohen Bildungs- und Gesundheitsausgaben, Sozialwohnungen, sozialen Sicherungssystemen und Lebensmittel- und Energiesubventionen.

Die Erfolge ließen sich sehen: Die meisten arabischen Länder holten beträchtlich bei der menschlichen Entwicklung auf. Ihre Wachstumsraten lagen zwei Jahrzehnte lang bei fast 4% und waren zeitweise die höchsten weltweit. Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg zwischen 1960 und 1999 von 45 auf 64 Jahre, die Länge des durchschnittlichen Schulbesuchs von 0,9 auf 5,3 Jahre und die Alphabetisierungsrate von 31 auf 69%. Besonders stark stieg die Schulbeteiligung von Mädchen: Bei jenen im Grund- und Sekundarschulalter schnellte sie zwischen 1970 und 1997 von 32 auf 74% hoch. Tunesien, Jordanien und Syrien waren weltweit sogar unter den Spitzenreitern bei der Verbesserung der Indikatoren der menschlichen Entwicklung. So sank beispielsweise die Säuglingssterblichkeit in Tunesien zwischen 1970 und 1997 von 20,1 auf 3,7%. Und selbst der Gini-Koeffizient konnte in den meisten Ländern gesenkt werden (so in Ägypten von 43 auf 33%).

Die Probleme begannen mit dem Verfall des Erdölpreises in den 1980er Jahren, der die Problemlösungsfähigkeit der arabischen Staaten wieder erheblich einschränkte. Fast alle mussten in den sozialen Sektoren erhebliche Einsparungen vornehmen. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung verlangsamte sich, und die Arbeitslosigkeit stieg an.

Dennoch verbesserten sich die Bildungs- und Gesundheitsindikatoren der arabischen Länder auch nach 1985 - wenngleich langsamer. Und selbst Einkommensarmut und -ungleichheit konnten in einigen Ländern weiter reduziert werden. Im regionalen Mittel sank der Anteil derjenigen, die von weniger als einem US-Dollar in Kaufkraftparitäten leben, von 1985 bis 1995 von 4 auf 2%, und der Ginikoeffizient sank beispielsweise in Mauretanien, Tunesien und Jemen. Die arabischen Regime hatten Sorge, ihrer Herrschaftslegitimation allzu sehr zu schaden, wenn sie sich gar nicht mehr für die menschliche Entwicklung in ihren Ländern einsetzten.

Erst ab Mitte der 1990er Jahre kam der positive Trend ganz zum Erliegen. Obwohl die ökonomischen Wachstumsraten seit 2002 wieder höher liegen, steigen Einkommensarmut und -ungleichheit weiter an. Die Dynamik anderer Weltregionen in den Bereichen Bildung und Gesundheit liegt mittlerweile weit über derjenigen in den arabischen Ländern. Und bei der Gleichstellung der Frauen vergrößert sich der Rückstand der arabischen Länder ebenfalls weiter. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Stieg die Lebenserwartung in den arabischen Ländern vor 1985 im Mittel noch um 0,61 Lebensjahre pro Jahr und damit doppelt so stark wie im Rest der Welt, lag der Anstieg von 2000 bis 2007 nur noch bei 0,23 Lebensjahren pro Jahr und damit unter dem Anstieg im Rest der Welt. Ebenso lag das Mittel des Anstiegs der Grund- und Sekundarschulbeteiligungsraten in den arabischen Ländern vor 1985 bei 1,3 Prozentpunkten jährlich und damit mehr als doppelt so hoch wie im Rest der Welt, von 2000 bis 2007 hingegen nur noch bei 0,6 Prozentpunkten und damit signifikant niedriger als im Rest der Welt (auch wenn man Unterschiede im Einkommensniveau in Rechnung stellt).

Zwar hat sich die finanzielle Problemlösungsfähigkeit einiger arabischer Länder wieder verbessert, seitdem die Ölpreise ab 2002 wieder angestiegen sind und durch die globale Wirtschafts- und Finanzkrise wohl auch nur einen vorübergehenden Dämpfer hinnehmen mussten. Zugleich hat aber die Problemlösungsbereitschaft vieler arabischer Regime nachgelassen, da sich diese immer weniger auf Rückhalt in unterprivilegierten Schichten der Bevölkerung stützen. Ganz offen paktiert selbst die ägyptische Führung mittlerweile eher mit einer Gruppe von jungen, dynamischen Unternehmern, deren neoklassischem Denken ein allzu großes sozialpolitisches Engagement des Staates eher fremd ist.

Auch die größere Aufmerksamkeit, die der menschlichen Entwicklung in der internationalen Entwicklungsdebatte zuteil wird, führte bislang nicht zu einer höheren Bereitschaft der arabischen Regime, sich verstärkt in den sozialen Sektoren zu engagieren. Selbst Appelle der entwicklungspolitischen Geberstaaten haben nichts bewirkt. Dies sollte allerdings auch nicht verwundern, engagieren sich doch viele Geber selbst - Deutschland eingeschlossen - in den arabischen Ländern stärker in den Wirtschafts- denn in den sozialen Sektoren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. UNDP, Human Development Report 2009, New York 2009, S. 176ff.

  2. Vgl. Sami Bibi/Mustapha Nabli, Equity and Inequality in the Arab Region, Kairo 2009, S. 37.

  3. Vgl. John Page, Boom, bust and the poor: Poverty dynamics in the Middle East and North Africa 1970-1999, in: The Quarterly Review of Economics and Finance, 46 (2007), S. 832-851.

  4. Vgl. Markus Loewe, Soziale Sicherung in den arabischen Ländern: Determinanten, Defizite und Strategien für den informellen Sektor, Baden-Baden 2010, Tabelle A 4.

  5. Vgl. World Bank, Unlocking the employment potential in the Middle East and North Africa: Towards a new social contract, Washington, DC 2004.

  6. Eigene Berechnung auf Basis von UNDP (Anm. 1), S. 171-174.

  7. Eigene Berechnung auf Basis von ebd., S. 199-202.

  8. Vgl. UNDP, Arab Human Development Report 2003, New York 2003.

  9. Vgl. OECD, PISA 2006: Kurzzusammenfassung, Paris 2007, S. 21 und S. 24; Michael Martin et al., TIMSS 2007: International Science Report, Boston 2008, S. 34f. und S. 68f.; dies., TIMSS 2007: International Mathematics Report, Boston 2008, S. 34f. und S. 70f.; Ina Mullis et al., PIRLS 2006: International Report, Boston 2007, S. 37 und S. 69.

  10. Vgl. S. Bibi/M. Nabli (Anm. 2), Tab. 11.

  11. Vgl. Markus Loewe, Systeme der sozialen Sicherung in Ägypten: Entwicklungstendenzen, Erfahrungen anderer Geber und Ansatzpunkte für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit, Berlin 2000, S. 95.

  12. Vgl. M. Loewe (Anm. 4), Tabelle A 15 und Tabelle A 18.

  13. Vgl. ebd., S. 143f. und S. 256.

  14. Eigene Berechnung auf Basis von UNDP (Anm. 1), S. 181-184.

  15. Vgl. UNDP (Anm. 1), S. 256.

  16. Eigene Berechnung auf Basis von ebd., S. 186-189.

  17. Vgl. Markus Loewe, Middle East/North Africa and the Millennium Development Goals, Bonn 2006, S. 62-68.

  18. Eigene Berechnung auf Basis von Daniel Kaufmann/Aart Kraay/Massimo Mastruzzi, Governance Matters VIII, Washington, DC 2004, S. 80-97.

  19. Vgl. den Beitrag von O. Schlumberger/N. Kreimeyr in dieser Ausgabe.

  20. Vgl. World Bank (Anm. 5), S. 26, S. 46 und S. 66.

  21. Vgl. Moez Doraid, Human development and poverty in the Arab states, in: Heba Handoussa/Zafiris Tzannatos (eds.), Employment Creation and Social Protection in the Middle East and North Africa, Kairo 2002, S. 5.

  22. Vgl. ebd., S. 4f.; S. Bibi/M. Nabli (Anm. 2), S. 10 und S. 39.

  23. Eigene Berechnungen auf der Basis von UNDP, Human Development Index trends and indicators, Datentabellen online: http://hdr.undp.org/en/media/HDI_trends_components_2009_rev.xls (31.3.2010).

Dr. rer. pol., geb. 1969; Senior Researcher in der Abteilung II "Wettbewerbsfähigkeit und soziale Entwicklung" des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE), Tulpenfeld 6, 53113 Bonn. E-Mail Link: markus.loewe@die-gdi.de