Einleitung
Im Mai 2010 verstarb einer der bedeutendsten arabischen Vernunft- und Gesellschaftstheoretiker. Mohammed Abed al-Jabri zählt zu den wichtigsten Philosophen der Region. Ein Jahr zuvor hatte er sein Werk mit knapp 30 Monographien im Gespräch mit der Autorin für beendet erklärt. Seit seiner Dissertation im Jahr 1971 über den Historiker und Vorläufer der modernen Soziologie Ibn Khaldun (1332-1406) hat al-Jabri ein umfangreiches Werk vorgelegt, das heute zu den Klassikern des arabischen Denkens gehört.
Al-Jabri, der sowohl publizistisch als auch politisch aktiv war, gehörte zu den Verfechtern eines linken Gesellschaftsmodells in der arabischen Welt. Er begann seine publizistischen Tätigkeiten ab Ende der 1950er Jahre bei der Zeitung al-tahrir (Die Befreiung) der sozialistischen Partei Union Nationale des Forces Populaires (UNFP). Ab Mitte der 1970er Jahre widmete sich al-Jabri verstärkt seinem philosophischen Werk. Hier arbeitete er hauptsächlich zum arabischen Projekt der Aufklärung, zur gesellschaftspolitischen Rolle der Intellektuellen, zum Verhältnis von arabo-islamischem Kulturerbe und Moderne sowie zu Fragen von Demokratisierung und Menschenrechten. Bis zu seinem Tod war al-Jabri Chefredakteur der philosophischen Monatszeitschrift fikr wa naqd (Idee und Kritik).
Für sein Wirken erhielt er im Jahr 2008 in Berlin den "Ibn Rushd Preis für Freies Denken". Sein Verdienst um die Popularisierung philosophischer Erkenntnisse liegt in seinen Beiträgen zur individuellen Vernunftanstrengung und damit zur Emanzipation von überkommenen Autoritäten. Al-Jabri betont die Heterogenität der arabischen Geschichte, um seine Forderung nach Pluralisierung und Demokratisierung zu untermauern. Al-Jabri will ein autochthones Modell vernunftgeleiteter Modernisierung anbieten. Kernelemente dieser Modernisierung sind für ihn Rationalität und Demokratie. Dabei ist sich al-Jabri der Überfrachtung des Begriffs "Modernisierung" bewusst: "Die Moderne, so wie sie sich in unserer gegenwärtigen Situation definiert, ist zugleich die Renaissance, die Aufklärung und die Überschreitung dieser beiden Etappen."
Er arbeitet den ideologischen Anteil von Rechtsfindung, Geschichtsschreibung und Philosophie im Zeitalter der Kanonisierung heraus.
Er spricht von drei Wissensordnungen, welche die Erkenntnis im islamisch geprägten Kulturraum vorstrukturieren.
Er entwickelt seine These von der Wiedergeburt des aristotelischen Denkens in Andalusien und Nordafrika durch den andalusisch-marokkanischen Philosophen und Juristen Averroes (arabisch: Ibn Rushd, 1126-1198).
Eine englische Übersetzung der KdaV erscheint voraussichtlich im Sommer 2010 - und damit 26 Jahre nach dem Erscheinen des Originals des ersten Bandes. Dies deutet darauf hin, wie unzulänglich der "Dialog mit der islamischen Welt" noch ist - zumindest wenn er die ernsthafte Rezeption von und Auseinandersetzung mit ihren zentralen Denkern und Denkmustern einschließt. Denn "die Diskussion über das richtige Verständnis des turath (muslimisches Kulturerbe, S.H.) nimmt im modernen arabischen Diskurs solch breiten Raum ein, dass es verwundert, wie wenig in westlichen Sprachen gezielt zu diesem Thema geschrieben wurde".
Struktur der arabischen Wissenschaft
In der Einleitung zum ersten Band (1984) ordnet al-Jabri die KdaV in eine Reihe von Veröffentlichungen ein, die während der vergangenen hundert Jahre zur Renaissance der arabischen Kultur erschienen sind. Er behandelt die epistemologische Struktur der arabischen Wissenschaft, das heißt die Frage, wie es zur Produktion von Wissen kommt. Dazu greift al-Jabri auf Michel Foucaults épistème-Konzept (Konfiguration oder Ordnungsprinzip) zurück: In jedem Kulturzustand gibt es nach Foucault eine verborgene Modalität der Ordnung, die das Fundament bildet, auf dem sich jegliche Interpretation strukturiert. Diese Ordnung tritt jedes Mal als eine "Möglichkeitsbedingung" für eine stark hierarchisierte Form der Erkenntnis auf. Es existiert also ein "geheimes Netz", nach dem sich alle Dinge in gewisser Weise betrachten lassen. In jedem Ding ist das Ordnungsprinzip seiner Bedingungen eingeschrieben, so dass das Denken des einen immer zum Denken des anderen führt.
Al-Jabri überträgt die These vom inhärenten Ordnungsprinzip auf den arabisch-islamischen Kulturraum, wo Grammatik, Recht, Theologie, Mystik, Rhetorik und Philosophie keine eigenständigen Wissenschaften und insbesondere Theologie und Philosophie nie unabhängig von der Politik waren. Diese Felder weisen aus seiner Sicht die gleichen Strukturen der Wissensproduktion auf. Nach al-Jabri konnte sich das Denken in Analogien so fest im arabisch-islamischen Kulturraum verankern, dass diese Methode auf alle Bereiche der Wissenschaft übertragen wurde. Dieses Denken müsse durchbrochen werden.
Für al-Jabris These eines blockierten Modernisierungsprozesses in der arabischen Welt ist der Aufstieg der abbasidischen Dynastie (749-1258) und das sogenannte Zeitalter der Niederschrift ('asr al-tadwin) zentral. In dieser Zeit wurde die Sunna (Vorbild des Propheten) in den Hadithsammlungen (Überlieferungen über den Propheten Mohammed) kodifiziert, und es entstanden die vier wichtigsten Rechtsschulen des Islams,
Säkularisierung des Denkens
Zwei Hauptgedanken der politischen Ideengeschichte wirken nach al-Jabri bis heute fort und seien der Grund für die anhaltende Stagnation in der arabischen Welt: (i) Nachahmung statt kritischem Denken habe sich als zentrale Form der Erkenntnis ebenso durchgesetzt wie (ii) Beratung des Herrschers, nicht aber seine Kontrolle. Al-Jabri zeigt, wie seit dem 8. Jahrhundert die Auslegung der Offenbarung und die daraus entstandenen Wissenschaften den Nutzen der jeweiligen Herrscher berücksichtigten, das heißt wie Jurisprudenz, Geschichtsschreibung (die eng mit der Biographie des Propheten und seiner Nachfolger verknüpft ist) wie auch die philosophisch-theologischen Debatten zu dieser Zeit politisiert wurden.
Mit "Säkularisierung des Denkens" ist daher im übertragenen Sinne die Trennung der Politik von den Bereichen Theologie, Philosophie, Recht und Geschichte gemeint. Al-Jabri arbeitet in der "Kritik der arabischen Vernunft" den ideologischen Gehalt dieser Bereiche heraus, um die Entstehung eines unabhängigen fünften Felds zu unterstützen, nämlich des politischen Felds. So sollen die vorhandenen "intellektuellen Ordnungen" dem Zweck der Legitimation politischer Bewegungen entzogen werden. "Wie lässt sich ein objektives Verständnis von unserer Tradition entwickeln?", so lautet nach al-Jabri die "wesentliche methodologische Frage, die sich dem zeitgenössischen arabischen Denken stellt, wenn es um den Versuch geht, eine adäquate wissenschaftliche Methode in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhältnis zur Tradition zu entwickeln".
Für die islamische Geistesgeschichte identifiziert al-Jabri drei Erkenntnisordnungen: erstens die Wissenschaft der religiösen Auslegung, in der Unbekanntes stets dem im offenbarten Text schon Bekannten untergeordnet wird. Zweitens nennt er die naturwissenschaftliche Beweisführung, die eine Ableitung aus den empirischen Daten ist. Und drittens führt er die mystische (und damit für al-Jabri dezidiert irrationale) Inspiration und Versenkung an. Nachahmung sei in allen drei Bereichen das zentrale Prinzip und habe zu der bekannten Stagnation geführt.
Das europäische Denken der Moderne sei dagegen nicht stehen geblieben, denn hier wurde seit dem 17. Jahrhundert das Experiment als objektive Erkenntnisform hinzugefügt: "Warum blieb die experimentelle Rationalität ohne Auswirkung auf die Weltsicht der Arabo-Muslime, obwohl diese Europa in mehreren Bereichen dieser Rationalität vorausgingen und es inspirierten? Der Averroismus und seine Theorie der Trennung zwischen Religion und Philosophie ermöglichten dem philosophischen Denken im Westen, seine Autonomie gegenüber dem Dogma der Kirche zu gewinnen. Auf der anderen Seite brachte die arabisch-islamische Kultur Gelehrte der exakten Wissenschaften hervor (den Optiker Ibn al-Haytham, genannt Alhazen, den Astronomen al-Batruji, genannt Al Petragius), deren wegbereitende Arbeiten anschließend für die Akteure der wissenschaftlichen Revolution im Okzident (Galilei, Kopernikus) in maßgeblicher Weise inspirierend waren. Der Grund dafür, dass die Wissenschaft nicht die treibende Kraft im Denken innerhalb der arabisch-islamischen Kultur sein konnte, liegt nach al-Jabri darin, dass bereits ein anderer Faktor, nämlich das Politische, diese Funktion besetzte."
Auslegung der islamischen Quellen und Rolle der Vernunft
Man darf nicht annehmen, dass al-Jabri einer von nur wenigen war, die sich einem solchen erkenntniskritischen Unternehmen verschrieben haben. Er führte ein Projekt der modernen islamischen Philosophie fort, das ihren Ausgang im frühen 19. Jahrhundert genommen hatte. Anfang der 1950er Jahre gab es in Ägypten eine Schule der literarischen Interpretation des Korans, zu der zunächst sogar der spätere islamistische Vordenker Sayyid al-Qutb zählte. Al-Jabris "Kritik der arabischen Vernunft" ist auch eine Antwort auf Sadik Jalal al-Azms im Jahr 1969 erschienene "Kritik des religiösen Denkens" sowie Mohammed Arkouns "Pour une critique de la raison islamique" (erschienen im Jahr 1984 in Paris)
Aus Sicht der verschiedenen Disziplinen (Theologie, Literatur- und Geschichtswissenschaft, Semiotik) weisen diese Autoren seit den 1970er Jahren, insbesondere unter Rückgriff auf Vertreter der französischen Postmoderne, die historische und subjektive Bedingtheit der Offenbarung aus und verurteilen eine vorgeblich wörtliche Übertragung auf heute. Diese Intellektuellen eint als Projekt der Aufklärung die Suche nach einer Auslegung der islamischen Quellen unter Rückgriff auf die menschliche Vernunft. So schreibt der ägyptische Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid: "Der Koran ist eine religiöse Autorität, aber nicht der Bezugsrahmen etwa für die Erkenntnisse der Geschichte oder der Physik. Doch verstärkt sich heute die Tendenz, zu meinen, der Koran enthalte bereits alle Wahrheiten, die die Vernunft je erkannt hat oder erkennen wird. Das ist gefährlich (...), denn es führt zu zweierlei: zum einen wird die Bedeutung der menschlichen Vernunft herabgesetzt und damit die Rückständigkeit zementiert, und zum anderen verwandelt sich der Koran aus einem Offenbarungstext in einen politischen, wirtschaftlichen oder juristischen Traktat. Dadurch aber verliert der Koran etwas Wesentliches, nämlich seine spezifisch religiöse, spirituelle und in einem allgemeinen Sinne ethische Dimension."
Al-Jabri wendet sich gegen eine Tradition, die nur auswendig gelernt werden muss, um sie zu beherrschen. Er geht davon aus, dass der Koran und der Kanon des arabischen Kulturerbes nicht mehr "neu" gelesen werden können: "(D)er zeitgenössische arabische Leser (ist, S.H.) durch seine Tradition eingeschränkt und durch seine Gegenwart erdrückt, was zunächst bedeutet, dass ihn die Tradition absorbiert, ihn der Unabhängigkeit und Freiheit beraubt. Seit seinem Eintritt in die Welt wird ihm unablässig die Tradition eingeimpft, in Form eines bestimmten Vokabulars und bestimmter Auffassungen, einer Sprache und eines Denkens; in Form von Fabeln, Legenden und imaginären Vorstellungen, von einer bestimmten Art des Verhältnisses zu den Dingen und einer Art des Denkens; in Form von Wissen und Wahrheiten. Er empfängt all dies ohne jegliche kritische Auseinandersetzung und ohne den geringsten kritischen Geist. Vermittelt über diese eingeimpften Elemente erfasst er die Dinge, auf ihnen gründet er seine Meinungen und Betrachtungen. Die Ausübung des Denkens ist unter diesen Bedingungen wohl eher ein Erinnerungsspiel. Vertieft sich der arabische Leser in die traditionellen Texte, so ist seine Lektüre erinnernd, keineswegs aber erforschend und nachdenkend."
Beherrschung der Tradition oder sinnvolle Anwendung in der Gegenwart bedeutet nach al-Jabri die verschiedenen Blickwinkel zu kennen und daraus die Relativität und Historizität von Geschichte zu erkennen. Aber erst wenn Modernisierung nicht mehr als Angriff auf die eigene Identität gesehen wird, kann sie sich langfristig etablieren. Aus diesem Grund kann ein solcher Prozess auch nicht vom Westen angestoßen oder sogar protegiert werden: "Der arabischen Kultur und ihrer Geschichte gegenüber fremd, kann die europäische Moderne keinen Dialog etablieren, der eine Bewegung innerhalb dieser Kultur auszulösen vermag."
Al-Jabri kritisiert auch drei zeitgenössische arabische Lesarten der muslimischen Geschichte: die marxistische, die liberale und die islamistische. Alle drei seien ahistorisch und fundamentalistisch. Sie wiesen die gleiche epistemologische Struktur auf, "da sie alle auf einer gleichen Art des Schlussfolgerns basieren".
Al-Jabri dekonstruiert das Denken einer gradlinigen, angeblich objektiven und übermächtigen Geschichte, das dem Individuum eine einzige Identität vorschreibe. "Die arabische Welt leidet heute an der Hegemonie einer anderen Art von Irrationalität, die sich komplett vom europäischen Irrationalismus (wie new age oder spiritualistische Bewegungen, S.H.) unterscheidet, der ein Ergebnis des europäischen Rationalismus ist. Es handelt sich um eine mittelalterliche Irrationalität mit all ihren Konsequenzen, insbesondere dem Fortbestehen eines Verhältnisses zwischen Regierenden und Regierten, in dem letztere, auf den Status einer Herde reduziert, im intellektuellen und sozialen Leben unter dem Stab des Hirten vorangetrieben werden. Gegenüber dieser rückwärtsgewandten Irrationalität stellt sich allein der Rationalismus als eine wirksame Waffe dar."
Was ist "arabische" Vernunft?
Es geht al-Jabri nicht um eine herablassende Postulierung einer anders gearteten Mentalität. Und er wendet sich auch gegen die propagandistische Vorstellung, individuelle Vernunftanstrengung, Widerspruch und Kritik seien "Werte des Westens". Al-Jabris Werk dreht sich um die individuelle und rationale Interpretation arabischer, sakraler Texte. Er befreit diese Texte von tradierten Interpretationsmustern des 8. Jahrhunderts und gesteht der rationalen Urteilskraft eines jeden Einzelnen die Fähigkeit zum Verständnis zu. In der "Kritik der arabischen Vernunft" analysiert er strukturelle Grenzen der wissenschaftlichen Denkweise, welche für ihn Ursache des Misslingens des Modernisierungsprozesses im 20. Jahrhundert sind.
Es gibt eine Reihe von muslimischen Intellektuellen, die heute an die Strömung der Mutaziliten (eine rationalistische Schule des Islam, die vor allem im 8. und 9. Jahrhundert einflussreich war) anknüpfen wollen. Dies mag zum großen Teil Projektion sein, denn die Quellen zu ihrem Gedankengut sind noch wenig erschlossen, aber es gibt inzwischen viele Intellektuelle, die sich dem Reformansatz der sogenannten Neo-Mutaziliten zuordnen lassen.
Die Mutaziliten werden als Kronzeugen einer rationalistischen Denkrichtung angeführt, weil sie schon im 2. Jahrhundert islamischer Zeitrechnung der Vorbestimmung des Menschen und der Ewigkeit des Korans widersprachen. Daraus folgt die Verantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln und die vernunftgebundene Interpretation des Korans in seinem historischen, kulturellen und sprachlichen Kontext. "Ein gerechter Gott könne die Taten des Menschen nicht erst vorbestimmen, um ihn dann für sie zur Rechenschaft zu ziehen",
Ähnlich wie die Frage, ob Brot und Wein nur Zeichen für Christi Leib und Blut sind, ist auch die Kontroverse um die Realpräsenz des Korans ein Dreh- und Angelpunkt philosophisch-theologischer Debatten. Nach der islamischen Orthodoxie ist der Koran ebenso "Gottes Wort", wie die gewandelte Hostie in der katholischen Tradition wirklich "Leib Christi" ist. Nach dieser Lesart gibt es kein metaphorisches Verständnis der heiligen Schrift; das Wort Gottes kann nur wörtlich verstanden werden (und darf daher nach fundamentalistischer Auffassung nicht in andere Sprachen übersetzt werden).
Dagegen setzten die Mutaziliten die Erschaffenheit des Korans und eröffneten so die Möglichkeit einer Interpretation des Textes als "Kind seiner Zeit". In dieser Tradition ziehen Intellektuelle wie Nasr Hamid Abu Zaid den Schluss, dass "der Text des Koran einen endlosen Decodierungsprozess" gestattet.
Es zeugt vom liberalen intellektuellen Klima in Marokko, dass al-Jabri nie verfolgt wurde, wie al-Azm oder Nasr Hamid Abu Zaid. Im Gegenteil, al-Jabri lehnte gleich zweimal die Ehrung durch ein Stipendium der Marokkanischen Königlichen Akademie ab.
Schwächen seines Ansatzes
Kritik an al-Jabri kommt auf, wenn es um seine These der unterschiedlichen Entwicklung zwischen dem Osten und dem Westen der islamischen Welt geht. Er vertritt zum Teil eine chauvinistische, anti-persische Haltung, wenn er dem Osten das Festhalten an mystischen und irrationalen Erkenntnisordnungen attestiert, während er in Nordafrika und Andalusien mit den Philosophen al-Kindi und Averroes die strenge Beweisführung der aristotelischen Logik verwirklicht sah, die bis heute nachwirke. So bleibt seine Ideologiekritik streckenweise selbst ideologisch, denn auf der Suche nach rationalen Elementen des arabo-islamischen Erbes verfolgt auch er eine politische Strategie.
Seine Darstellung des Schiitentums ebenso wie der islamischen Mystik ist eindimensional. Die Mystik vertrat ebenfalls eine allegorische Auslegung des Korans, wenn auch intuitiver und nicht rationaler Art, und viele Mystiker haben sich gegen das Dogma der Vorherbestimmung des Menschen gewandt. Und gerade in den schiitischen Rechtsschulen ist die individuelle Rechtsfindung durch den Imam möglich geblieben.
Auch die Tatsache, dass al-Jabri selbst kein Theologe war und damit wenig zur Modernisierung des religiösen Denkens beitragen konnte, ist kritisiert worden. Seine Anhänger setzen dagegen, dass die Reform des religiösen Denkens nicht von Theologen erwartet werden kann: "Reform is not to be expected nor attempted within theology and from the initiative if theologians, but rather from a new knowledge of the past built on modern (and rational) principles. The religious awareness is maintained and transmitted in a complex of historical representations. Therefore it is the task of the modern intellectuals, who act on these representations, to provide, build, and disseminate new concepts which would make possible a real reform."
Al-Jabri trat teilweise sehr radikal und provokativ auf, wenn es darum ging, westliches Gedankengut gegen ein arabisches Kulturerbe abzugrenzen. So gehörten Theoretiker wie der palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said für ihn nicht zur arabischen Geistesgeschichte. Die Frage nach der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft und damit nach der Herkunft von Kritik (intern oder extern) ist für das Verständnis seiner Positionen wichtig.
Ausblick
Seit dem 8. Jahrhundert dreht sich die islamische Philosophie um die Möglichkeiten der Auslegung des Korans.
Und hier findet sich einer der Hauptwidersprüche in der muslimischen Welt: Allein im Lager der "Buchstabentreuen" findet sich eine Pluralität der Meinungen wieder, die man sich kaum größer vorstellen kann. Ohne Probleme lassen sich allein innerhalb dieses Spektrums eine Rechtsmeinung und ihr Gegenteil finden.
Diese Vielstimmigkeit lässt den Gläubigen allein; aber sie entlässt ihn auch. Im Grunde praktiziert er schon heute eine freie Meinungsfindung, indem er oder sie sich die individuell passende Lehrmeinung sucht - sei es bei einer Autorität aus der Familie, beim Imam des Dorfes, bei Fernsehpredigern, per Telefonseelsorge, als Internetanfrage, beim Großmufti: Erlaubt ist, was gefällt. Dies ist die Sollbruchstelle für eine Religion, die dem Gläubigen einen unvermittelten Zugang zu Gott verspricht. Was bleibt ist das Recht auf Selbstbestimmung.