Einleitung
Seit einigen Jahren ist in der Geschichtswissenschaft von einer "überraschenden Renaissance der Biographie" die Rede. Die "Rückkehr des totgesagten Subjekts" wird proklamiert, manche rufen gar einen "Biographical Turn" aus.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg war es häufig die außerakademische Geschichtsschreibung, die historische Themen mithilfe weithin beachteter biographischer Darstellungen auf die Tagesordnung setzte. Joachim Fests "Hitler" beispielsweise war eines der erfolgreichsten zeithistorischen Bücher in Deutschland, von dem seit 1973 in verschiedenen Ausgaben und Auflagen rund 800000 Exemplare verkauft worden sind. Und die wohl bekannteste biographische Buchreihe im deutschsprachigen Raum, "rowohlts monographien", in der seit 1958 inzwischen 640 Bändchen erschienen sind, brachte es bis auf den heutigen Tag auf die beeindruckende Gesamtauflage von 20 Millionen Exemplaren.
Auch heute stapeln sich Biographien in den Buchläden, die Lebensbeschreibungen all jener "Monster, Retter, Mediokritäten" (Hans-Peter Schwarz), die einer näheren Betrachtung wert erscheinen, werden in Rezensionen gewürdigt und für Sachbuchpreise nominiert. Historische Gestalten müssen regelmäßig ihren Kopf für die Titelgeschichten der Magazine hinhalten, und große Biographien sind nicht selten zugleich große Buchereignisse. Weltweit werden - so schätzte der "Spiegel" vor einigen Jahren - etwa 10000 Lebensbeschreibungen pro Jahr auf den Markt gebracht, und die deutschsprachigen Verlage tragen einen gehörigen Teil dazu bei. Zwar haben historische Bücher generell Konjunktur, also auch die systematischen Darstellungen zu einzelnen geschichtlichen Ereignissen oder Fragen; auch sie werden gelesen, zweifelsohne - doch Biographien werden verschlungen.
Wie ist das zu erklären? Zum einen mag dabei die "Rückkehr des Autors" eine Rolle spielen, wie Peter-André Alt meint.
Interessanterweise hat Siegfried Kracauer die Biographie schon gegen Ende der Weimarer Republik im Bewusstsein der Krise zum einen als Fluchtphänomen gedeutet, über dem der "Glanz des Abschieds" ruht, zum anderen als Versuch der Rettung des Individuums. Das mag auch ihren gegenwärtigen Boom zum Teil erklären. In unserer Lebenswelt, in der das Kohärente abwesend scheint und die Vielfalt der Möglichkeiten nicht nur Chance, sondern auch ein Problem der Lebensführung geworden ist, erwächst zudem beinahe zwangsläufig eine Sehnsucht nach prägnanten Lebensbildern, nach Orientierung im Guten wie im Schlechten, nach Lebensmustern. "Immer dann, wenn der Mensch zu zweifeln beginnt, d.h. wenn alte Werte wanken, neue aber erst noch gebildet werden müssen, ist die Regsamkeit im biographischen Bereich besonders groß." Dieser viel zitierte Satz des niederländischen Historikers und Publizisten Jan Romein findet auch heute seine Bestätigung.
Biographik in jüngerer Zeit
Gerade der Erfolg beim Publikum aber machte die Biographie als Genre für die wissenschaftlich arbeitenden Historiker lange Zeit verdächtig. Insbesondere in der deutschen zeithistorischen Fachwissenschaft hatte sie es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schwer. Die biographische Methode innerhalb der Historiographie galt vielen als unreflektiert, theoretisch anspruchslos und antiquiert, ja geradezu als reaktionär. Eine "personalisierte Geschichtsauffassung" wurde zum Kampfbegriff jener Epoche, die vielzitierten "menschenleeren Strukturlandschaften" kamen in Mode. Die marxistische Theorie der 1960er und 1970er Jahre lehnte das biographische Interesse als Symptom eines autoritären Blicks auf die Geschichte ab. Das Individuum sollte nicht nur in der Realität, sondern auch in der Geschichtsschreibung in kollektivistischen Ideen oder subjektübergreifenden Diskursen aufgehen.
Natürlich gab es auch in jener Zeit Sozialhistoriker wie den Mitbegründer der Bielefelder Schule, Jürgen Kocka, der in seinen Forschungen zur Geschichte der Arbeiter oder des Bürgertums den Faktor Person und Persönlichkeit immer mitbedachte. Doch trotz solcher "Lebensretter" geriet die historische Biographie ins Zwielicht, denn sie stand überdies im Verdacht, unmäßig zu vereinfachen. Sie fiel schlichtweg - übrigens nicht nur unter Historikern - "unter das Verdikt politischer und intellektueller Minderwertigkeit", wie der Literaturwissenschaftler Detlev Schöttker schreibt.
Von einer Ausgrenzung der Biographik kann heute keine Rede mehr sein - nicht nur, weil inzwischen die marxistischen Interpretamente und die strukturalistische Modernisierungstheorie als alles erklärende Meistererzählungen obsolet geworden sind, sondern auch, weil durch den Einfluss der Kulturgeschichte Begriffe wie Erfahrung, Deutung, Vorstellung und Gefühl zu anerkannten historischen Analyseinstrumenten geworden sind. Die Zeitgeschichte zahlte für das Ausblenden der Biographik aus dem Blickfeld der wissenschaftlichen Relevanz allerdings einen hohen Preis: Überzeugende theoretische Überlegungen wurden zu diesem Genre über Jahrzehnte kaum angestellt und kommen erst seit kurzem in Gang; es ist durchaus bezeichnend, dass die Biographie als historische Darstellungsform in geschichtswissenschaftlichen Einführungskompendien so gut wie nicht vorkommt.
Inzwischen jedoch interessieren sich gerade auch methodisch ambitionierte Forschungsarbeiten für die subjektive Dimension der Geschichte. Die Biographie erobert sich langsam aber sicher ihren festen Platz unter akzeptierten Zugangsweisen und Darstellungsformen der Geschichtswissenschaft (zurück). Natürlich würde auch heute kein Zeithistoriker, der ernst genommen werden möchte, den Nationalsozialismus nur aus Hitler heraus erklären, "Achtundsechzig" allein als Spielwiese Rudi Dutschkes begreifen oder die DDR mit Walter Ulbricht gleichsetzen. Doch ebenso wenig würde jemand ernsthaft bestreiten, dass diese Figuren bedeutend und wirksam für die entscheidenden Entwicklungen ihrer Zeit waren und dass eine intensive Beschäftigung mit ihrem Leben und dessen Darstellung auch in wissenschaftlicher Hinsicht lohnt.
Der biographische Blick
Wenn man nach der Zukunft der Erinnerungskultur in Deutschland fragt, dann spielt der biographische Blick, wie man die wissenschaftlich-methodische Herangehensweise vielleicht bezeichnen könnte,
Konsequenterweise werden Gefühl und Gefühle als historische Kategorie zunehmend ernst genommen.
Die so genannte Psychohistorie, konkreter: die Psychobiographie ist freilich ein noch wenig etablierter Ansatz, der in den 1970er Jahren bereits einmal Anlauf genommen hat,
Im besten Fall ist eine Biographie eine literarisch anspruchsvolle Darstellung, in der sich politische Strukturgeschichte und individuelle Lebensgeschichte miteinander verschränken - wie im "echten" Leben auch. Das historische Subjekt wird erkennbar innerhalb der bewegenden Kräfte seiner Zeit, die Wechselwirkung zwischen individuellen und überindividuellen Faktoren bekommt buchstäblich ein Gesicht. Um historische Prozesse zu verstehen, müssen das einzelne Leben aus dem geschichtlichen Ganzen herauspräpariert und zugleich die Menschen im Kontext von Gesellschaft, Machtapparaten und Institutionen gesehen werden.
Das gilt auch für die Erforschung des Nationalsozialismus, denn es geht dabei um eine Epoche extremer Personalisierung politischer Macht.
Bei all dem geht es nicht darum, die Biographie als bloßes erinnerungspädagogisches Vehikel zu benutzen, denn sie bietet methodische Chancen und erfüllt auch handfeste wissenschaftlich-kritische Funktionen: Gendertheorie, Konstitution von Identität, Bruchlinien zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Erforschung kultureller Transfers, Ethnographie und interkulturelle Kommunikation, Erinnerungsdiskurse und Phänomene des Nachlebens - wenige Stichworte mögen genügen, um zu zeigen, dass es sich bei der Biographik um ein dynamisches und interdisziplinäres Forschungsfeld handelt, an der Schnittstelle zwischen Literatur-, Geschichts- und Kulturwissenschaften.
Der biographische Blick kann dabei helfen, "Handlungsspielräume und Möglichkeiten individueller Lebensführung exakter auszumessen".
Das Leben und seine Konturen
Der Mensch ist ein Verweisungsganzes, auf gut Deutsch: Zu einem Leben gehört auch immer die Welt, die es umgibt, und das ist in einer guten Biographie immer mit inbegriffen. Eine große Chance der biographischen Perspektive liegt darin, die Schnittpunkte der vielen Bezugskreise zu nutzen, die vom einzelnen Leben ausgehen. Wer etwa eine Biographie über Rudi Dutschke schreibt, der wird bei seiner Untersuchung nicht nur mit der Person und Persönlichkeit des Studentenführers konfrontiert, sondern auch auf die Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen, auf Mentalitäten der Mehrheitsgesellschaft oder auf mediengeschichtliche Phänomene stoßen. Gleichzeitig wird er Begriffe wie "Lebenswelt" und "Handeln" als historische Kategorien ernst nehmen, soziokulturelle Kontexte und Handlungsspielräume ausloten, denn auch soziale Strukturen "existieren nicht außerhalb der Akteure, sie werden durch soziales Handeln dieser Akteure erst aktualisiert".
So tritt die Offenheit der Geschichte hervor, deren Folgen die Zeitgenossen nicht kennen oder erkannten. Auch wird die Verdichtung von historischen Konstellationen darstellbar, denn der "Totalität der historischen Strukturen" stellt der biographische Blick "die lebensgeschichtliche Totalität des historischen Ausschnitts gegenüber".
Mehr Biographie wagen
Unter dem Strich ist die Biographie also ein Genre, das wichtige wissenschaftliche Fragen aufwerfen und beantworten kann und sich zugleich beim Publikum größter Beliebtheit erfreut. Natürlich macht sie genau diese Kombination auch für Verlage besonders attraktiv, denn mit ihrer Hilfe können Gräben und Grenzen überwunden werden: Von der Wissenschaft zum sogenannten interessierten Laien, vom Forscher zum Leser, von der Fach- in die Sachbuchabteilung. Auch die Zunft der Historiker erkennt darin für sich zunehmend eine Chance. Nicht zuletzt übrigens, weil sie sich wie andere Disziplinen auch immer mehr zu rüsten hat für die visuelle und multimediale Verbreitung ihrer Forschungsergebnisse. Bedeutsame Begegnungen, denkwürdige Szenen, existentielle Krisen, fundamentale persönliche Erfolge und Niederlagen, abenteuerliche Begebenheiten, rätselhaftes menschliches Handeln - alles, was das Leben merklicher Gestalten hergibt, lässt sich eben nicht nur gut aufschreiben, sondern auch darstellen.
Das gilt natürlich in besonderem Maße für das (inzwischen nicht mehr ganz so) neue Medium Internet. Wenn ein guter Teil historischer Darstellung einmal nicht mehr über bedrucktes Papier, sondern via Hypertexte, Links und Clips vermittelt wird, dann kann die biographische Darstellung ihren reichen Verweisungscharakter ausspielen.
Wir sollten daher beherzt den Fuß in die Tür stellen, die sich uns hier öffnet. Wir, das sind nicht nur die Historiker, sondern auch die Verlage, die Ausstellungsmacher, die Fernsehredakteure. Wir sollten uns interessieren für das Leben der Anführer und Revolutionäre, der Unternehmer und Dichter, der Täter und Opfer. Familien, Gruppen oder gar Generationen sollten in den Blick geraten; die politischen Taten oder die intellektuell-künstlerische Einzelleistung; eine bestimmte Lebensphase oder die Zeit von der Geburt bis zum Tod. Und wir sollten nicht nur das Leben der "großen" Männer und Frauen besichtigen, sondern uns auch den Figuren der zweiten Reihe widmen, den vergessenen und aus dem großen historischen Gemälde hinausgedrängten - den Handlangern, den Spionen, den wenig bekannten Widerstandskämpfern, den Abgeordneten, den "Hexen", den Wissenschaftlern, den Berichterstattern, den Staatssekretären, den Stellvertretern.
Auch wenn es schwer fällt, die Widersprüchlichkeit und Komplexität des Lebens, die sich in Lebensgeschichten spiegelt, fair zu bewerten; auch wenn Objektivität und Neutralität gegenüber einer Person im Grunde nicht zu erreichen sind: Es tut gut, wenn Geschichte bisweilen auch mit Herzblut und Verve geschrieben wird, wenn gelegentlich Bewunderung oder Abscheu die historischen Darstellungen durchwehen, wenn Dramen als solche ernst genommen und erzählt werden. Das gilt für alle historiographischen Genres, für die Biographie aber in besonderem Maße. Dann fällt es auch leichter, sich gegenüber der Geschichte zu verhalten, ihr ins Gesicht zu sehen.