Einleitung
"Eine schräge Geschichte" biete die deutsche Hauptstadt, ließ die britische DDR-Historikerin Mary Fulbrook im Juli 2007 im "Tagesspiegel" vermelden. Beim Blick auf den Stadtplan sei ihr ein großes Missverhältnis aufgefallen. Natürlich gebe es eine ganze Reihe von Erinnerungsorten, Gedenkstätten und Museen, aber: "Die Touristen-Geschichten, die (dort) erzählt werden, führen in die Irre", so Fulbrook. 80 Prozent der DDR-Bevölkerung kämen in den Darstellungen und Arrangements von Gedenkstätten und Museen nicht vor. Fast immer gehe es stattdessen um hohe Funktionäre auf der einen, profilierte Intellektuelle auf der anderen Seite, während die mittlere Ebene der Gesellschaft kaum berücksichtigt werde. Zudem mache die Fixierung auf die Unterdrückungsinstrumente Mauer und Staatssicherheit aus allen DDR-Bürgern Opfer. Komplizentum und Einverständnis blieben außen vor. "Konnte man in der Diktatur glücklich sein, zu welchem Preis und mit welchen Kosten?" Fragen wie diese mit potenziell offenen Antworten würden an den Orten des Erinnerns nicht angeregt. Ebenso sei die Opposition an der Basis in ihrer wichtigen Rolle nicht angemessen repräsentiert. Selbst die Zionskirche in Mitte, Standort der oppositionellen Umweltbibliothek, sei für Berlin-Besucher als historischer Ort nicht ausgewiesen.
Schon Mitte der 1960er Jahre formulierten drei Redakteure der "Zeit" ihre Eindrücke von einem Besuch in der DDR unter dem Titel "Reise in ein fernes Land".
Die Erinnerung an die DDR ist vielfältig und vielschichtig, oftmals sogar so diversifiziert und unverbunden, dass sich das Bild von ihr in verschiedenste Facetten auflöst. War die DDR ein Schurkenstaat, in der "die Stasi (...) doch wohl charakteristischer (...) gewesen (ist) als die Kinderkrippen"?
Wahrheitsfindung ja, Versöhnung nein?
Ausländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beobachten die "Reise in ein fernes Land", welches das wiedervereinte Deutschland unternimmt, genau und stellen der Geschichtspolitik und Aufarbeitungsszene für diesen Prozess der Wiederannäherung keine guten Zeugnisse aus. Während die Geschichte der DDR deutlich weniger Interesse ausländischer Forscherinnen und Forscher findet als etwa die Geschichte des Nationalsozialismus, übt das wiedervereinte postdiktatorische Deutschland großen Reiz aus. Politologen, Sozialwissenschaftler, Historiker und Vertreterinnen und Vertreter anderer kultursensibler Disziplinen konstatieren mindestens zwei Tendenzen.
Zum einen gibt es einen großen Konsens darüber, wie vielfältig und umfassend die Bemühungen zur "Aufarbeitung" nicht nur des Nationalsozialismus, sondern auch der Geschichte der SED-Diktatur gewesen seien. Dabei werden nicht nur die großen personellen und finanziellen Bemühungen angeführt, die insbesondere von Staats wegen mobilisiert wurden. Außer Frage steht auch, dass es einen starken gemeinsamen Willen der politischen Klasse zur Aufarbeitung gab. James McAdams beispielsweise resümiert diese Auffassung, wenn er betont, dass es kaum möglich sei, einen anderen Staat zu finden, "der so rasch so unterschiedliche Schritte gegangen ist, um mit der Vergangenheit ins Reine zu kommen".
Zum anderen aber bleibt bei vielen dieser Autorinnen und Autoren eine zweite Schnittmenge. In dieser sammelt sich Unbehagen an dem, was man beobachtet: eine zweite Chance, die nicht ergriffen wurde, so Anne S'adah,
Diese Argumentation findet Unterstützung selbst bei solchen Autoren, die den Prozess der Wiedervereinigung insgesamt als gelungen beurteilen und davon ausgehen, dass sich die beiden Teilgesellschaften immer stärker annähern werden. In einem Punkt aber seien die Disparitäten zwischen Ost und West ungeachtet aller Fortschritte eher stärker als schwächer geworden: in dem der Beurteilung der Vergangenheit.
Schlachten von gestern und Schüler von heute
Geschichtspolitik heute ist ein Betätigungsfeld mit einer eigenen Entwicklung. Die Thematisierung der diktatorischen Vergangenheit, wie sie nach 1990 vom Staat wie auch von den Akteuren der Zivilgesellschaft betrieben wurde, fand immer auf dem Vorbild der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus statt, wie sie in der alten Bundesrepublik betrieben worden war. Zwar steht eine Untersuchung zu den Protagonisten der Aufarbeitungsbranche noch aus, doch zeigt schon ein kurzer Blick auf die Szene, dass es, neben der Konkurrenz der Opfer- und Betroffenenverbände, auf der Ebene der Gedenkstätten und ähnlicher Einrichtungen viele personelle Überschneidungen oder gar Wechselbeziehungen gibt.
Es wären weitere Faktoren zu nennen, die in der öffentlichen Darstellung der DDR-Vergangenheit den Gestus des Delegitimierens insbesondere in den frühen 1990er Jahren befördert haben, zum Teil mit guten Gründen. Gegenwärtig scheint mir die Situation indes verändert zu sein: Wir müssen die DDR nicht oder zumindest nicht mehr delegitimieren. Das hat das System selbst getan, und es reicht die nüchterne Darstellung der Fakten, um dieses zu zeigen. Dass das Leichengift der Diktatur die politische Kultur, das zivilgesellschaftliche Engagement unserer Demokratie beeinträchtigt, sehe ich nirgends. Die direkt ins Politische zielenden Initiativen der Geschichtsklitterung, wie sie etwa von Organisationen wie dem Insiderkomitee oder anderen Zusammenschlüssen von Altkadern der Staatssicherheit betrieben werden, wird man aufmerksam beobachten müssen und dann gegensteuern, wenn diese tatsächlich Wirkung zu entfalten drohen. Aktuell scheint mir dieses politisch rückwärtsgewandte Denken keinerlei gesellschaftliche Resonanz zu finden, so dass sich diese Haltung überleben wird. Deswegen wirkt auch gelegentlich verbreiteter Alarmismus höchst künstlich. Parolen wie "Die Täter sind unter uns" mögen eine kurzfristige Mobilisierungsfunktion haben, der Aufarbeitung insgesamt aber sind sie abträglich.
Geschichtsvermittlung sollte demgegenüber auf eine andere Strategie setzen. Wir müssen dem Ostalgiker erklären, dass viele der von ihm gelobten "Errungenschaften" genuin verbunden waren mit der politischen Unfreiheit vieler anderer. Nur wer sich im System politisch konform bewegte, spürte seine Ketten nicht. Und wir sollten denjenigen Publizisten und Historikern, die vor allem auf Schlagzeilen aus sind, ebenfalls eine differenzierte Darstellung abverlangen und ihnen gegebenenfalls ihren Populismus nachweisen: Dass die bundesdeutsche Justiz, um nur ein Beispiel zu nennen, nur wenige Stasi- und SED-Funktionäre bestraft hat, stößt zu Recht bitter auf und verweist auch auf die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung unseres juristischen Systems. Dass Richter und Staatsanwälte aber konsequent an wichtigen Rechtsgrundsätzen wie dem Rückwirkungsverbot festhalten, spricht eher für das Funktionieren unserer Justiz als umgekehrt. Wer das im Sinne einer vordergründigen Pädagogisierung oder auch des Populismus verkürzt darstellt, ist in dieser Hinsicht nicht wahrhaftig.
Die größte Gefahr dieser Herangehensweise an Vergangenheit besteht darin, dass auf diese Weise jegliches Interesse nachwachsender Generationen erstickt wird. Wer mag es einem 16-jährigen Schüler verdenken, die verbalen, von der Presse gerne aufgegriffenen Schlagabtausche und geschichtspolitischen Skandale weniger als Suche nach einer angemessenen Interpretation der DDR zu sehen, sondern vor allem als so vordergründig auf die Positionierung im Heute ausgerichtete Debatte? Wer in diesem Stil die Kämpfe von Gestern führt, gerät leicht in Gefahr, zum geschichtspolitischen Dinosaurier zu werden.
Virtualisierung von Erinnerung
Die Funktionalisierung von Geschichte zur Identitätsstiftung, als Waffe im politischen Geschäft oder in sonstigen Formen ist oft beschrieben und kritisch analysiert worden. Diese Geschichtspolitik alten Stils hat sich in dem Maße überlebt, wie in der nachmodernen Gesellschaft Tradition ihre legitimitätsstiftende Wirkung verliert. Wegen des starken Wandels der Gesellschaft, ihrer Kommunikations- und ihrer Medienstrukturen lässt sich darüber hinaus eine zweite Tendenz des Umgangs mit der Vergangenheit im Allgemeinen und mit der DDR-Geschichte im Speziellen feststellen. In Anlehnung an Forscher, die sich mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus beschäftigen, lässt sich diese als "Virtualisierung" des Gedenkens kennzeichnen. Damit ist einerseits angespielt auf den raschen Medienwandel, der historische Fragmente überall und weltweit verfügbar macht. Ihre Abrufbarkeit ist nicht mehr an Konkretionen und Kontexte gebunden. Damit eng verbunden ist eine hier nur kurz anzudeutende Veränderung in Vergemeinschaftungsprozessen in der Nachmoderne überhaupt, die durch Prozesse der Individualisierung und Medialisierung gekennzeichnet ist.
Ich will den Punkt am Beispiel des Supergedenkjahrs 2009 und an der dort betriebenen Erinnerung an die DDR illustrieren: Alle Befürchtungen, es könne hier eine deutlich nationale Profilierung erfolgen, zerstoben bald. "Über allen geschichtspolitischen Wipfeln ist Ruh", konstatierte Karsten Rudolph bereits Ende 2009, die gewöhnliche Funktionalisierung von Geschichte, der Versuch, für sich, seine Gruppe, seine Partei darüber Identität zu stiften, schien wenig attraktiv.
"Freiheit" ist ein hoher Wert, und es gibt wohl kaum einen besser geeigneten historischen Vorgang, an den es zu erinnern gilt, um dieses in Erinnerung zu rufen. Warum blieb aber trotzdem bei vielen Beobachtern ein schaler Nachgeschmack? Man muss nicht dem gesamten Gebäude der Systemtheorie folgen, um einen Gedanken für die hier angestellten Überlegungen fruchtbar zu machen: Die in hohem Maße stilisierte und auf schematische Bilder konzentrierte Thematisierung von Vergangenheit kann man funktional auch als "Kommunikationsverhinderungskommunikation" (Niklas Luhmann) charakterisieren. Vergangenheit hat ihre Fähigkeit verloren, als Tradition Legitimität und vielleicht sogar einen Wertekonsens zu stiften. Stattdessen wird sie deshalb "nur noch in ihrer spezifischen Funktion als reduzierte Komplexität (...) herangezogen". Vergangenheit fungiert als Element der Unsicherheitsabsorption. Diskussionen werden abgekürzt, indem von vornherein auf einen Topos verwiesen wird. Historische Rückbezüge dienen dazu, generalisierte Erfahrung zu repräsentieren.
Welche Weiterungen haben diese Überlegungen? Forschungen wie auch Initiativen zur Geschichtspolitik und zur Erinnerungskultur werden viel mehr als bisher in den Blick nehmen müssen, welche unterschiedlichen Funktionen die jeweils thematisierte Vergangenheit übernimmt. Im Fall von Politik und Geschichte existiert eine kategoriale Differenz zwischen der jeweils praktizierten Geschichtspolitik und der Vergangenheit. Die jeweilige Geschichtspolitik ist nahezu unabhängig von Vergangenheit. Historiker oder die Ergebnisse ihrer Arbeit kommen allenfalls als Stichwortgeber zu Gunsten der je eigenen Position oder sogar als Störenfriede in diesen Prozessen vor. Das Bild vom Historiker als "Anwalt der Vergangenheit" trifft den Sachverhalt nicht, da seine Kompetenz - "wahr" oder "unwahr" mit Blick auf die Vergangenheit zu entscheiden - nicht gefragt ist. Die Vergangenheit ist ein diskursives Element im Funktionieren des politischen Systems. Der (geschichts)politische Streit um die realsozialistische Vergangenheit kann ebenso wenig wie ein anderes geschichtspolitisches Thema durch intensivierte historische Forschung oder dadurch beigelegt werden, dass die Wissenschaft nun tatsächlich die "wichtigen" oder "richtigen" Fragen aufgreift. Die geschichtspolitische Auseinandersetzung ist zuvörderst eine Funktion des Verhältnisses, in dem sich die Deutschen zur Berliner Republik befinden. Ihr Ansinnen oder ihr "Code" ist nicht die Suche nach "wahr" oder "falsch", sondern die Nutzung des Vergangenheitsbezugs für das Heute.
Zugleich wandeln sich die Grundlagen, die Darstellungsformen und damit auch die Inhalte von Geschichtspolitik: Mit der Veränderung des Geschichtsbewusstseins in Richtung Fragmentierung, Individualisierung und Subjektivierung verbindet sich ein massiver Medienwandel, der diese Tendenz bestärkt und den Zusammenhang von Geschichte und Politik mittel- und langfristig grundlegend verändert.
Geschichte ist konkret und komplex - und auch so zu vermitteln
Was man dem entgegenhalten kann, wird sich nicht in globalen Rezepten thematisieren lassen, sondern in der praktischen Arbeit in Schulen, Hochschulen, Gedenkstätten und Museen bewähren müssen. In diesem Sinne sind die abschließenden Überlegungen dazu, ob und wenn ja, welche "Standards" der Geschichtspolitik etabliert werden sollten, vorläufig und fragmentarisch.
Eine Historisierung der DDR, die auch die Erfahrungsseite vieler DDR-Bürger berücksichtigt, wird nicht wie von Kritikern befürchtet auf eine Weichzeichnung ihres Diktaturcharakters hinauslaufen, sondern sowohl wissenschaftlich als auch für die öffentliche Aufarbeitung ein adäquateres Bild der DDR zu zeichnen erlauben. Anzustreben wäre, dass wir einerseits daran festhalten, Unterschiede zwischen Demokratien und Diktaturen deutlich zu benennen und infolge dessen die DDR und ihr politisches System als Diktatur, als Unrechtsstaat mit Menschenrechtsverletzungen deutlich charakterisieren: Die DDR war der langlebige Versuch, in Ostdeutschland ein nur ideologisch legitimiertes und in sich nicht funktionierendes Staats- und Gesellschaftsmodell aufrecht zu erhalten. Damit gingen Jahrzehnte der Unfreiheit einher. Es etablierte sich ein Zwangs- und Repressionsapparat, mit dessen Wirken permanente Menschenrechtsverletzungen einhergingen. Das brachte vielfältiges individuelles Unrecht und Leiden der Unangepassten, der Nonkonformen oder der sonst wie in die Mühlen des Unterdrückungsapparats Geratenen mit sich. Geschichtspolitisch müssen wir ihre Schicksale in Erinnerung behalten. Nicht zuletzt sind auch die Jahrzehnte nationaler Trennung und Teilung und die damit verbundenen Einschränkungen der Ost- wie der Westdeutschen unter die beklagenswerten Folgen der SED-Diktatur zu zählen. Diese - und viele weitere zu ergänzende - Fakten qualifizieren die DDR in der Summe als Diktatur und damit als ein System, das sich grundlegend von demokratischen Systemen unterscheidet.
Damit darf aber keine pauschalierende Abwertung von so zahlreichen Biografien von ehemaligen DDR-Bürgerinnen und Bürgern verbunden sein. Stattdessen, so Bodo von Borries, sei das Ziel die "Würdigung des Lebens der Menschen dort und um eine offene, gemeinsam zu gestaltende Zukunft. Dafür ist gegenseitiges Zuhören - auch wechselseitige Kritik auf Augenhöhe - erforderlich, aber nicht tatsächliche oder eingebildete einseitige Zurücksetzung bzw. Demütigung. (...) Eine historische Bildung, die für die SED-Diktatur nur die Systemgeschichte und nicht auch ihren lebensweltlichen Alltag gelten lässt, muss mit kontraproduktiven Effekten rechnen."
Dagegen sollte man Mut zur Differenzierung, zur Konkretion und auch zur Komplexität setzen. Wenn wir tatsächlich aus Geschichte in irgendeiner Form lernen wollen, dann bedarf es einiger Mühe, sich der komplexen Vergangenheit zu nähern. Spannender - intellektuell wie auch lebensweltlich herausfordernder - als die auf Abziehbilder reduzierte Präsentation von Geschichtsikonen ist diese Form der Beschäftigung mit Vergangenheit allemal.