Einleitung
Mit ihrem vielbeachteten Buch "Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland" lenkte die Journalistin Julia Gerlach vor einigen Jahren den Blick erstmalig auf eine "pop-islamische" Jugendszene. Mit dem Begriff beschrieb sie eine Strömung, deren Anfänge sich in die 1990er Jahre zurückverfolgen lassen, die aber erst nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und den folgenden Diskursverschiebungen an Bedeutung gewann.
In den vergangenen Jahren entstanden zahlreiche Vereine und Initiativen, denen ein ähnliches Selbstverständnis zugrunde liegt. Unter Muslimen ist diese Strömung mittlerweile zu einem Begriff geworden, und auch in der nicht-islamischen Öffentlichkeit stieß der "Pop-Islam" zunehmend auf Interesse.
Islamische Jugendkulturen - ein Migrationsphänomen?
In der neueren sozialwissenschaftlichen Forschung wurden verschiedene Identitätsmodelle herausgearbeitet, die idealtypisch unter den 1,6 bis 1,8 Millionen Muslimen unter 25 Jahren in Deutschland zu beobachten sind.
Der Islam ist lediglich eine Facette der Identität, welche die Lebenswirklichkeit dieser Jugendlichen prägt. Er bietet, ähnlich wie ein eventueller Migrationshintergrund der Eltern und Großeltern, Anknüpfungspunkte für Einflüsse aus sozialen und ideologischen Kontexten, die sich von der nicht-muslimischen Mehrheit unterscheiden. Prägungen durch das familiäre Umfeld und die Nutzung von Medien aus den Herkunftsländern sind Faktoren, die sich auch im Alltag von jungen Muslimen niederschlagen.
Schließlich sind sozialer Status und Geschlecht bei der Prägung der Jugendphase (nicht nur) junger Muslime nicht weniger bedeutsame Faktoren. Zudem teilen junge Muslime mit ihren nicht-muslimischen Altersgenossen die Sozialisation in Deutschland, was sich nicht zuletzt in der Ausbildung von "hybriden Identitäten" abzeichnet, in denen Deutsch-Sein, ethnische Herkunft und Religion als sich ergänzende Aspekte der eigenen Identität zusammengeführt werden.
Säkularisierung, Tradition und neue Religiosität
Die Bedeutung des Islam im Alltag junger Muslime ist in den vergangenen Jahren Gegenstand zahlreicher Studien gewesen. Auch darin wurden die Unterschiede deutlich, welche die Lebenswelten junger Muslime kennzeichnen. So machte die repräsentative Studie "Muslime in Deutschland" auf große Unterschiede unter muslimischen Schülerinnen und Schülern bezüglich der individuellen Glaubenspraxis aufmerksam - zum Beispiel hinsichtlich der Häufigkeit des Betens oder des Besuchs von Moscheen.
Dennoch spielt die Religion unter jungen Muslimen eine wichtige Rolle.
In der nicht-islamischen deutschen Umwelt zeigen junge Muslime oft das Bedürfnis, ihre religiöse Identität und Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Muslime besonders zu bekunden. Ihre Situation unterscheidet sich von jener ihrer Eltern und Großeltern, in deren Herkunftsländern diese Zugehörigkeit noch selbstverständlich war. Muslime, die von ihren Eltern nicht unbedingt religiös erzogen wurden und in deren Leben Religion lange Zeit keine Rolle spielte, wenden sich im jungen Erwachsenenalter bisweilen umso entschiedener dem Islam zu. Auch der Wunsch nach Abgrenzung vom Elternhaus kann ein Grund sein, sich verstärkt der Religion zuzuwenden.
Angesichts von Diskriminierungserfahrungen in Schule und Berufsleben und der Konfrontation mit anti-muslimischen Vorbehalten im Alltag steht das demonstrative Bekenntnis zum Islam auch für eine selbstbewusste Antwort auf gesellschaftliche Erfahrungen. Der Kampf gegen anti-muslimischen Rassismus, der oft als "Islamophobie" und damit als gegen die eigene religiöse Identität gerichtet wahrgenommen wird, spiegelt sich in dem Bekenntnis zum Islam wider.
Der betonte Bezug auf die eigene religiöse Gemeinschaft birgt jedoch auch Konfliktpotenzial. So dokumentiert die erwähnte Studie "Muslime in Deutschland" unter anderem die Verbreitung von Vorbehalten unter jungen Muslimen gegenüber der nicht-islamischen Gesellschaft.
Islamische Jugendszenen
In vielen Orten haben sich Vereine wie die Muslimische Jugend in Deutschland (MJD), die Lifemakers oder die Lichtjugend für viele junge Muslime inzwischen als Alternativen zu den traditionellen Moscheevereinen und großen Islamverbänden etabliert. Über ihr zivilgesellschaftliches und soziales Engagement in diesen jungen Organisationen - etwa in Projekten zur Unterstützung von Obdachlosen oder zur Gefängnisseelsorge - bringen sich junge Muslime verstärkt in die Gesellschaft ein und zeigen ihren Wunsch, als deutsche Muslime in der Gesellschaft akzeptiert zu werden.
Dennoch spielen für Jugendliche auch die traditionellen Verbände wie der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) oder die Islamische Gemeinschaft Milli Görü? (IGMG) weiterhin eine wichtige Rolle. Gerade die IGMG, die wegen ihrer islamistischen Ausrichtung von den Verfassungsschutzämtern beobachtet wird, widmet der Arbeit mit Jugendlichen auch aus religionspolitischen Erwägungen besondere Aufmerksamkeit. Die Stärkung der islamischen Identität und die Erziehung zu "guten Muslimen" gelten ihr als Voraussetzung für eine gelungene Integration in Deutschland.
Doch auch hier lässt sich in der jüngeren Vergangenheit ein generationeller Wandel beobachten, der sich nicht zuletzt in einer Kritik der etablierten Strukturen und der ideologischen Leitbilder niederschlägt. Sowohl unter lokalen Funktionären als auch unter medial besonders aktiven jüngeren Anhängern der IGMG finden sich Anzeichen einer Neuorientierung, die auf eine Distanzierung von der türkisch dominierten Gründergeneration und eine stärkere Orientierung an der deutschen Gesellschaft hinausläuft.
Darin spiegelt sich eine Parallele zu jener jugendkulturellen Strömung wider, die von Julia Gerlach mit dem Begriff "Pop-Islam" beschrieben wurde. Auch hier kommt dem Wunsch nach einer selbständigen Auseinandersetzung mit der Religion eine zentrale Bedeutung zu. Trotz der Bindungen, die Vereine und Initiativen wie die MJD an etablierte Verbände wie die Islamische Gemeinschaft in Deutschland (IGD) unterhalten, betonen sie ihr Bemühen, eigene Antworten auf religiöse Fragen im Alltag von jungen Muslimen zu finden. Auch sie kommen dabei allerdings nicht um etablierte religiöse Autoritäten herum, die sie heranziehen, wenn es beispielsweise darum geht zu klären, ob Islam und Musik vereinbar sind.
Gleichwohl bedeutet die Übernahme von modernen jugendkulturellen Stilen und Trends auch eine Annäherung an das nicht-islamische Umfeld. Die Popularität von Lifestyle-Labels wie Styleislam, die hippe Streetwear und modische Accessoires mit islamischen Botschaften vertreiben, verweist auf eine zunehmende Orientierung an jugendlichen Lebenswelten, in denen sich auch Nicht-Muslime bewegen. Das Sortiment solcher Modelabels umfasst daher nicht zufällig neben Gebetsteppichen und islamischen Malbüchern für Kinder auch Kapuzenpullover, Mousepads und Kaffeebecher für das Büro. Die Ausstrahlung dieses islamischen Lifestyles wird durch die Nutzung der neuen Medien noch verstärkt. Onlinecommunities wie myumma.de orientieren sich im Auftritt an diesen Trends und ergänzen die Angebote von nicht-religiösen sozialen Netzwerken wie Facebook und StudiVZ. Oft nutzen junge Muslime sowohl religiöse als auch nicht-religiöse Medien.
Die Unschärfe des Begriffes "Pop-Islam" wird gerade an den Rändern dieser Szene deutlich. Insbesondere im amerikanischen und britischen Kontext lassen sich Entwicklungen erkennen, die in Ansätzen auch in Deutschland zu beobachten sind. Zum einen geht es dabei um eine zunehmende Öffnung zum jugendkulturellen Mainstream, für die die Erfolge der amerikanisch-islamischen Punk-Band The Kominas oder der dänischen Hip-Hop-Band Outlandish stehen.
Im Internet dominiert dagegen eine Strömung, die sich einem offensiven Werben für eine rigide Auslegung des Islam verschrieben hat. Auf Seiten wie einladungzumparadies.de oder diewahrheitimherzen.de bieten Vertreter dieser Strömung Informationen zum Islam und zu einem gottgefälligen Leben. Der Salafismus, dem diese Initiativen zuzuordnen sind, orientiert sich ausdrücklich am Beispiel der Salaf, der ersten Generation der Muslime, und lehnt jegliche "Neuerungen" gegenüber den ursprünglichen Lehren des Koran und der Sunna, den Erzählungen aus dem Leben Muhammads, ab.
Auch hier ist das Angebot einer klar definierten Gemeinschaft gerade für Jugendliche attraktiv. Auffallend ist dabei das ambivalente Verhältnis zur nicht-islamischen Umwelt. Zwar betonen die Verfechter dieser Lehre ihre Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft. Zugleich definieren sie sich aber ausdrücklich als Außenseiter, die die richtige Lehre gegenüber einer als ungläubig beschriebenen Umwelt vertreten. Das Leben Muhammads gilt hier als Beispiel für die Muslime in Deutschland. Schließlich sei auch Muhammad zunächst als "Fremder" angefeindet worden, bevor er sich mit seiner Botschaft gegenüber seinen Widersachern habe durchsetzen können. Rassistische Anfeindungen bekräftigen daher den Rückzug auf die Gemeinschaft der Muslime.
Die Attraktivität von eindeutigen Gemeinschaftsangeboten wird zudem in der Popularität von Szenen deutlich, in denen neben dem Islam auch die ethnische Identität herausgestellt wird. So gewann die türkisch-islamische Bewegung der Grauen Wölfe in den vergangenen Jahren mit ihrer sogenannten Idealisten-Jugend (Ülkücü Gençlik) unter türkischsprachigen Jugendlichen an Zulauf. Die Verknüpfung eines rechtsextrem-autoritären türkischen Nationalismus mit islamistischen Gesellschaftsvorstellungen bietet eine Orientierung, in der die ethnische und religiöse Identität gegenüber der Umwelt aufgewertet wird.
Ähnliche Tendenzen einer Selbstethnisierung über die Herkunft der Eltern und Großeltern finden sich unter Jugendlichen mit albanischem, libanesischem oder palästinensischem Familienhintergrund, für die der Rückbezug auf eine vermeintlich authentische ethnische Identität einen Statusgewinn im jugendlichen Alltag bedeutet.
Schluss
Die Vielfalt dieser Optionen, aus denen junge Muslime wählen können, lässt sich als Hinweis auf eine zunehmende "Einbürgerung" des Islam in Deutschland deuten. Bei allen Besonderheiten, von denen die einzelnen Szenen geprägt sind, zeigen sich diverse Parallelen und Anknüpfungspunkte zu jugendkulturellen Trends und Stilen, die für eine pluralistische Gesellschaft charakteristisch sind. Die Suche nach Orientierung und Gemeinschaft sind für junge Muslime Anlass, sich unter Gleichaltrigen zusammenzuschließen und nach Antworten auf Fragen des Alltags zu suchen.
Das Schwinden der Deutungshoheit, welche die traditionellen islamischen Verbände lange Zeit auch unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausübten, eröffnet jungen Muslimen insofern die Möglichkeit, unter verschiedenen Stilen und Szenen zu wählen. Eine Öffnung der nicht-islamischen Vereine und Initiativen für junge Muslime und Migranten und eine konsequentere Kritik von rassistischen Ressentiments und Anfeindungen durch die nicht-islamische Öffentlichkeit böten zusätzliche Chancen, einen solchen Pluralismus zu befördern.