Einleitung
Wenn einer, der schöne Sachen gemacht hat, tot ist, bricht die Zeit der Heldengesänge an.
Wiglaf Droste
Noch immer meinen viele Zeitgenossen sich erinnern zu können, was sie getan und gedacht haben, als sie am Morgen des 9. Dezember 1980 erfuhren, dass John Lennon vor seinem Haus am Rande des Central Park in New York erschossen worden war.
Im Unterschied zu verstorbenen Rock-Heroen wie Jimi Hendrix, Jim Morrison oder Janis Joplin hatte Lennon den Höhepunkt seiner Popularität zum Zeitpunkt seines Todes längst überschritten. Doch im Gegensatz zu ihnen, die an Begleiterscheinungen eines Lebens auf der Überholspur starben, fiel Lennon einem Attentat zum Opfer - was auch angesichts seines politischen Profils sehr viel häufiger Assoziationen mit John F. Kennedy und Martin Luther King hervorrief, in der Bundesrepublik auch mit Rudi Dutschke, dem Wortführer der Studentenbewegung, der ein knappes Jahr zuvor an den Spätfolgen eines Attentats gestorben war. Die Ermordung John Lennons war nicht nur in den USA und Großbritannien, sondern auch in der Bundesrepublik ein kritisches Ereignis, das aktuelle Befindlichkeiten in einem Großteil der Gesellschaft schlagartig zum Ausdruck kommen ließ sowie die Selbstthematisierung der "68er-Generation" und ihre soziale Verbreiterung vorantrieb. Gleichzeitig legitimierte sich in der Erzählung vom endgültigen Ende der Sixties über die Figur Lennons die neoliberale These von der Subjektwerdung des vormals kollektiv gezähmten Individuums.
Beat- und Beatles-Deutungen in den 1960er Jahren
In der "Hochkultur", auch unter den Vorbildern der linksintellektuellen Opposition, waren die Beatles in den 1960er Jahren auf wenig Gegenliebe gestoßen. Für den Frankfurter Philosophen Theodor W. Adorno stellte ihr Sound seiner "eigenen objektiven Gestalt nach etwas Zurückgebliebenes" dar, und der Schriftsteller Arno Schmidt reagierte ablehnend auf die Anfrage des Verlagslektors Robert Gernhardt, das Lennon-Buch "In his own write" ins Deutsche zu übertragen.
Mit der Radikalisierung von 1968/69, als der emotionale Protest massenhaft auf die Ebene des Bewusstseins vorstieß, verloren die Beatles ihre Vorreiterposition - an ihre Stelle traten andere Bands wie die Rolling Stones, Künstler wie Jimi Hendrix und Frank Zappa. Nun figurierten die Fab Four, die durch LPs wie "Rubber Soul" oder "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" die Innovationsspirale immer wieder angestoßen hatten, aus der Sicht deutscher Interpreten als "Habermas der linken Kultur" - vorrevolutionär und überholt.
Signum einer pessimistischen Zeitdiagnose
Nach Lennons Tod formten die Medien eine mehr oder weniger variierte klassische Erzählung der Beatles-Geschichte: Nach rebellischen Anfängen in den proletarisch geprägten Hafenstädten Liverpool und Hamburg habe ihr Manager Brian Epstein die Rock 'n' Roller in Anzüge gesteckt und massenkompatibel gemacht, wovon sie sich erst allmählich wieder emanzipiert hätten - allen voran Lennon, der sich an der Seite seiner zweiten Ehefrau Yoko Ono politisierte und vom Kommerz distanzierte. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zog er sich zunehmend aus der Öffentlichkeit zurück, widmete sich seiner Familie und legte erst in seinem Todesjahr erstmals seit fünf Jahren eine neue LP vor. Gleichzeitig war der Diskurs über die Beatles und Lennon, wie immer, wenn Populärkultur öffentlich verhandelt wird, ein Spiegelbild zeitgenössischer Problemlagen, die sich 1980, gespeist aus einer neuerlichen Wirtschaftskrise, Kaltem Krieg und Angst vor einem ökologischen Kollaps zu einer düsteren Gegenwartsdiagnose verdichteten. Gleichzeitig erhielten die Neuen Sozialen Bewegungen Zulauf, die in den frühen 1980er Jahren den Höhepunkt ihrer Mobilisierungskraft erreichten.
Gleich nach dem Mord an Lennon stellten Radiosender ihre Sendepläne um, Beatles- und Lennon-Songs bestritten den Großteil des Nachtprogramms. Die Fernsehanstalten reagierten im Laufe des Tages und richteten Sondersendungen ein. "(Just Like) Starting Over", die Single-Auskoppelung der LP "Double Fantasy", die Lennon gemeinsam mit Yoko Ono im Oktober veröffentlicht hatte, stieg zwischen Dezember 1980 und Januar 1981 von Platz 11 auf Platz 3 der von den westdeutschen Hörfunkanstalten am häufigsten gespielten Titel. Den Spitzenplatz im April 1981 erreichte "Woman", und selbst der Lennon-Oldie "Imagine" von 1971 stieß nach seiner Wiederveröffentlichung im Frühjahr 1981 weit in die Top 50 vor. Auch in der Verkaufsbilanz der westdeutschen Schallplattenhändler rangierten diese Singles weit oben, unter den LPs kam "Double Fantasy" auf Platz 3. Kein Wunder, dass der tote Lennon damit in der Bundesrepublik "Erfolgreichster Interpret des Jahres 1981" wurde. Er war, wie das Zentralorgan der Schallplattenindustrie registrierte, "nach seinem gewaltsamen Tod in der Gunst seiner Fans offensichtlich überproportional gestiegen".
Vor allem hatte sich die Zahl seiner "Fans", mobilisiert auch durch die Printmedien, erheblich vergrößert. Das Jugendmagazin "Bravo", das in seiner ganzen Geschichte über keine andere Band so viel berichtet hatte wie über die Beatles, brachte in Heft 52/1980 ein Lennon-Poster und ab Heft 1/1981 eine mehrteilige Serie über Lennon und die Beatles.
Als im Juni 1981 die Autoren einer berühmt gewordenen Shell-Studie eine repräsentative Gruppe westdeutscher Jugendlicher befragte, wurde deutlich sichtbar, wie sich unter den 15- bis 24-Jährigen ein Zukunftspessimismus verfestigt hatte, der schon seit Längerem unter Etiketten wie no future medial verhandelt wurde. Mit 58 Prozent betrachtete die Mehrheit der Jugendlichen die Zukunft der Gesellschaft "eher düster". Ihre Ängste richteten sich auf die Hochrüstung, Wirtschaftskrisen und Umweltzerstörung durch Technik und Chemie. Vor allem besser gebildete Jugendliche kritisierten die Nebenwirkungen der Industriegesellschaft, neigten aber gleichzeitig zum politischen Aktivismus, so dass die Sozialforscher einen "engen Zusammenhang von düsteren Zukunftsvorstellungen und Bereitschaft zu Kritik, zu Engagement, zum Widerstand" ausmachten. Insofern verband sich allgemeiner Zukunftspessimismus mit Aufgeschlossenheit gegenüber den Neuen Sozialen Bewegungen. Ein Großteil der Jugendlichen standen Umweltschützern (81%), alternativen Gruppen (62%), Kernkraftgegnern (53%) und Hausbesetzern (47%) positiv gegenüber. Politisch waren sie mehrheitlich links eingestellt.
Der plötzlich wieder in den Mittelpunkt des Medieninteresses gerückte Lennon war eine ideale Projektionsfläche für Gegenwartsängste, weil er die düsteren und zergrübelten Komponenten der Beatles ebenso repräsentierte wie die provokativen und politisch-aktivistischen - im Gegensatz zu Paul McCartney, der für ihre optimistische Seite stand.
Dass er in der öffentlichen Wahrnehmung zum Hoffnungsträger avanciert war, zeigte sich schon bei dem von Yoko Ono einberufenen weltweiten Gedenken am Sonntag, den 14. Dezember 1980, an dem allein im Central Park mehr als 100000 Menschen teilgenommen haben sollen. Der Autor Helmut Salzinger sah darin eine spirituelle Kraft: "Es wurde der ungeheuerlichste Stoß an geballter positiver Geistesenergie, der jemals von der Erde ausgestrahlt worden ist, und er dürfte Johns arme Seele weit hinausgewirbelt haben, weit hinaus zwischen die Sterne, bis tief in die Galaxis, vielleicht noch weiter, ich weiß nicht."
Für die linke Presse war der Tod Lennons einmal mehr Anlass, die Funktionsmechanismen der Kulturindustrie zu beklagen und den "von den Plattenkonzernen hochgeputschte[n] Starkult" zu attackieren.
In der linken Szene, wo nach dem "Deutschen Herbst" von 1977 und den vergeblichen Bemühungen um die Revolutionierung der Arbeiterklasse die Vorherrschaft des Marxismus-Leninismus erodierte und ein "Marxismus/Lennonismus" (Jürgen Elsässer) ausgerufen wurde, der sich nicht auf Karl und Wladimir, sondern auf Groucho und John bezog, moderierte der "Anti-Star"
Obwohl die "lange Abblende" (Wolf Wondratschek) in Lennons Karriere - sein Leben als privatisierender Hausmann und Vater - häufig kritisch betrachtet wurde, galt er gerade wegen seiner eigensinnigen Wendungen als Protagonist der Individualisierung. Insgesamt wurde Lennons Biografie als die Geschichte einer Subjektwerdung gedeutet, "vom Beatle zum Individuum, zum Menschen (...) gegen den Willen der anderen Beatles, gegen den Willen seiner Fans, gegen den Willen der Medien und überhaupt der gesamten Öffentlichkeit".
Generationswerdung der "68er"
Den Tod Lennons sahen zahlreiche Kommentatoren als das endgültige Ende der noch stark ausstrahlenden 1960er Jahre - nicht zuletzt, weil nun die immer wieder aufgeflammte Hoffnung auf eine Wiedervereinigung der Beatles zu Grabe zu tragen war. Jetzt war es, wie eine ZDF-Moderatorin am Tag nach dem Attentat formulierte, "traurige Gewissheit geworden", dass die Fab Four nie wieder zusammen kommen würden. Für Josef Joffe von der "Zeit" (geb. 1944) war damit die Jugend "endgültig vorbei".
Der am Tode Lennons zelebrierte Abschied von den Sixties war eine wichtige Voraussetzung für den einsetzenden Erinnerungsboom und die gesellschaftliche Verankerung jenes Begriffs der "68er-Generation", den der Publizist Klaus Hartung Ende 1978 im "Kursbuch" geprägt und schon damals an einem Popstar festgemacht hatte - allerdings an Bob Dylan, der seinerzeit bei weitem nicht jene soziale Reichweite erreichte wie bald darauf Lennon post mortem.
Dass die Todesnachricht, wie der Schriftsteller Wolf Wondratschek im "Spiegel" notierte, "eine ganze Generation verwelkender Blumenkinder" traf,
Wie die generationelle Vergemeinschaftung über die Musik der Beatles mit einer Erzählung der gesellschaftlichen Anpassung vermittelt wurde, demonstrierte die Darstellung Michael Jürgs' (geb. 1945) vom "Stern": "Ja, sagten wir da, die Beatles-Fans aus den 60er Jahren, er hat schon recht, unser John. Es bringt wirklich nichts, andauernd protestieren zu gehen. Ging es nicht unseren Kindern auch gut, und war nicht, trotz allen täglichen Horrors auf der Welt, die eigene Welt, zurechtgestutzt aufs Mögliche, ganz schön zu leben?"
Diese generationelle Konstruktion, die Lennons Biografie als Exempel und Legitimation für einen kollektiven Saturierungsprozess nahm, traf auf harschen Protest jener, die an einem rebellischen Selbstverständnis festhielten. Helmut Loeven (geb. 1949), Herausgeber der Alternativzeitschrift "Der Metzger", betrachtete Jürgs Äußerung als "Verrat" und "Selbsterniedrigung" - ja, eine "zweite Ermordung des John Lennon": "Dieser Herr Jürgs, das ist einer, der etwas hinter sich hat, was er für seine wilde Jugend hält. Damals wurde ihm prophezeit: Wart mal ein paar Jahre, dann wirst du schon noch vernünftig. So kam es auch. Herr Jürgs klammert sich an die Illusion, dies sei unvermeidlich gewesen. Die billige Hergabe seiner Jugendideale verwechselt er mit Reife und Erfahrung. (...) John Lennon ist für Jürgs das, was ihm zu sich selber einfällt."
Gleichzeitig entfremdeten sich Protagonisten der Counterculture der 1960er und 1970er Jahre von den nachfolgenden Altersjahrgängen, indem sie ihnen Anpassung vorwarfen. Ausgerechnet Helmut Salzinger (geb. 1935), der durch seine Bücher "Rock Power" und "Swinging Benjamin" einer kulturrevolutionären Deutung der Rockmusik den Weg gebahnt hatte und seit zehn Jahren ein bescheidenes Leben auf dem Lande führte, prophezeite den zornigen jungen Leuten der Gegenwart denselben Verfettungsprozess, wie ihn die Jahrgänge vor ihnen erlitten hatten; "schrottreif, aber Ansprüche bis zum Geht-nicht-mehr", so kritisierte er den Nachwuchs der Überflussgesellschaft in der Zeitschrift "Sounds".
Diese Diskrepanz trat auch innerhalb der "taz" zutage. Die Posthippies trauerten, während die Punks mit einem Schulterzucken reagierten: "John Lennon, der Held einer alt gewordenen Generation."
Aber das waren minoritäre Stimmen, die nichtsdestoweniger bekräftigten, dass Lennons Erbe von vielen beansprucht wurde. Jedenfalls bei den unter 50-Jährigen, so sah es die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ), war ein "Streit der Generationen" ausgebrochen, in dem jede für sich behauptete, "er sei ,der ihre' gewesen".
Mit der an Lennon entfachten Debatte um biografische, gesellschaftliche und kulturelle Passagen wurde ein wichtiger Schritt in der Selbstthematisierung der "68er-Generation" getan - gerade weil dadurch der enge Fokus der politischen Studentenbewegung aufgebrochen wurde, wie er noch bei den ersten Rückblicken von 1977 vorgeherrscht hatte. Als die einstmalige "Bewegung" von innen heraus zu einer "Generation" umgedeutet wurde, wurden über Lennon und die Beatles sehr viel mehr Menschen in die generationelle Vergemeinschaftung einbezogen, weil hier das politische Element zurückgenommen wurde. Dass es nicht ganz verschwand, war auf dem Höhepunkt der Neuen Sozialen Bewegungen ebenso wichtig. Die emotionale Mobilisierungskraft der Musik, die sich bei zahlreichen Zeitzeugen geradezu körperlich eingelagert hatte und nun massiv reaktiviert wurde, spielte eine bedeutende Rolle beim Legitimitätsgewinn, den die "68er-Generation" in den 1980er Jahren verbuchen konnte. Auch für viele Linksradikale der 1970er Jahre wurde Lennon, der damals als "ideologisch zu unzuverlässig" gegolten hatte, in der kollektiven Abkehr von einer verengten politischen Perspektive wieder diskursfähig.
Lennon personifizierte wie wenige andere die für die späten 1960er Jahre charakteristische Fusion von Popkultur und Politik und eignete sich deshalb besonders für eine Gesamtbilanz. Der Lektor und Übersetzer Burkhard Kroeber identifizierte in seinem Rückblick von 1981 das "Weiße Album" der Beatles von 1968 als "treffendste[n] Ausdruck des Lebensgefühls der antiautoritären Linken und zugleich eine böse Vorahnung ihrer politischen Sackgassen in den siebziger Jahren". John Lennon, so Kroeber, habe seine Fans, "die Linken von '68", aus ihren Träumen wecken wollen und gleichzeitig "mit den Mitteln der Popmusik als Collage" dem Kommerz eine Absage erteilt.
Häufig wurde das Gedenken an Lennon in autobiographische Erzählungen der Selbstwerdung eingebettet. So Joffe, Kroeber und Loeven, so auch "Björn" vom Kommunistischen Bund, der sieben Tage nach Lennons Tod im "Arbeiterkampf" einen ganzseitigen Gedenkartikel publizierte. Der Autor spürte die Kugeln des Attentäters in sich selbst: "Dieser Killer hat mit dem Menschen Lennon auch auf einen wichtigen Abschnitt meiner eigenen Menschwerdung geschossen." Lennon und die Beatles, so tat er der Leserschaft kund, "haben es mir überhaupt erst möglich gemacht, den Mut zu gewinnen, mich und andere ändern, verändern zu wollen". Über länger werdende Haare und den sich wandelnden Musikgeschmack von den Beatles zu den Rolling Stones wird die Geschichte einer Radikalisierung erzählt. Wiederfinden konnte "Björn" sich in politischen Songs der frühen 1970er Jahre wie "Power to the People" oder "Woman is the Nigger of the World", und erst nach einer langen Pause, während der "wir alle aufpassen müssen, das Träumen nicht zu verlernen und nicht zu resignieren", erschien "Double Fantasy", das einen privaten Rollenwandel Lennons vom Macho zum Hausmann widerspiegelte: "Er war also noch lebendig, der Träumer! Es ist bitter, wieder einmal begreifen zu müssen, dass Träumer an der Wirklichkeit zugrunde gehen, wie zarte Blumen auf ausgedörrtem Boden."
John Lennon als neoliberales Exempel
Viele Kommentatoren sahen in Lennon das Musterbeispiel eines Individualisten. "Sounds" zufolge hatte er daran erinnert, dass die Beatles "in erster Linie Individuen waren und erst dann Idole", "Die Zeit" attestierte ihm, stets "beseelt vom Glauben an die Macht des Individuums gewesen" zu sein, und selbst die Schallplattenindustrie erzählte die Geschichte Lennons als Emanzipationsbiografie eines Künstlers, der seit seinem 20. Lebensjahr "durch Verträge unter Druck gesetzt" worden sei.
In der linken Musikszene wurde das Subjektivitätspostulat am Beispiel Lennon unterfüttert durch Helmut Salzinger, nach wie vor eine gewichtige Stimme im Popdiskurs. Wenn er seinen Nachruf als "Mutmaßungen über einen Egomaniac" überschrieb, so war dies alles andere als negativ gemeint. Schon Salzingers Text über Lennon von 1975, nun wieder abgedruckt und durch einen "Epilog 80" ergänzt, hatte des Künstlers Arbeiten der frühen 1970er Jahre "als Ausdruck einer Subjektwerdung", eines "Heilungsprozesses" gedeutet: "Hier hat er gelernt, mit aller Unbefangenheit von sich selbst zu sprechen und nur von sich selbst und ,Ich' zu sagen, wenn er ,Ich' meint." Das war es, was Salzinger an Lennon bewunderte: "Es ist sein Ding, was er da durchzieht, und er zieht es durch, weil es sein Ding ist." Lennon verdiene Beachtung, weil er vorgeführt habe, "wie sich einer an den eigenen Haaren aus dem Schlamassel ziehen kann".
Beifall erhielt diese Deutung auch von der anderen Seite des politischen Spektrums, allerdings mit elitär-ästhetizistischer Akzentuierung. Nicht die Überreste der linken K-Gruppen griffen das Klischee vom Working Class Hero auf, sondern Karl Heinz Bohrer in der "FAZ". Während an der Arbeiterklasse verzweifelte frühere Maoisten bei den Grünen dem Frieden eine Chance geben wollten, interessierte sich Bohrer für Lennon als kämpferischen Helden. Der Englandkorrespondent der "FAZ", der die Beatles seit ihren Hamburger Tagen schätzte, lobte des Musikers "abweichende Exzentrität" und bezog sie auf seine soziale Herkunft: "Lennons Rebellion gegen das akademische, ordentliche Harmlose entstammte einem tiefen asozialen Sinn fürs Makabre und Bizarre, Gefühlsmöglichkeiten, die gerade die englische Schicht, der er entstammt, immer wieder aufbringt." John Lennon sei ein Beispiel gewesen für den dort anzutreffenden Typus des "Arbeiterdandy", einen "von keinen kleinbürgerlichen Ängsten mehr gebremsten Aggressor", der aber leider in der Gegenwart im Rückzug begriffen sei.
Ein sympathetischer Zeuge der ersten Stunde war auch der spätere Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel. Dieser kannte die Beatles aus seiner Lehr- und Studienzeit in Hamburg, wo er im Tanzlokal "Top Ten" verkehrte, mit Astrid Kirchherr aus dem engeren Umfeld der Band befreundet war und beim Kampf um ihre Gunst dem Beatles-Bassisten Stuart Sutcliffe unterlag.
Beide, Bohrer und Henkel, stehen bei dem erneut aufgeflammten Kampf um die Frage, ob "1968" als Katalysator der Individualisierung oder als Fanal eines universalen Gerechtigkeitsideals zu gelten habe, auf der Seite des Solitärs, der sich von der Masse und ihrer Empfänglichkeit für Moral und Sentiment distanziert.