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Jugendkulturen heute - Essay

Klaus Farin

/ 14 Minuten zu lesen

Jugendkulturen sind in der Lage, die als immer chaotischer empfundene Welt ein wenig zu ordnen. Sie sind Beziehungsnetzwerke, die Jugendlichen die Gelegenheit bieten, ihr kreatives Potenzial zu entdecken.

Einleitung

Fast alles, was wir über "die Jugend" und deren Kulturen wissen, wissen wir aus den Medien. Diese sind aber vor allem an Extremem und Negativem interessiert. Sie leben davon, stets das Außergewöhnliche, nicht Alltägliche in den Vordergrund zu rücken und zur Normalität zu erheben: Drei betrunkene Rechtsradikale, die "Sieg Heil!" grölend durch ein Dorf laufen, erfahren so eine bundesweite Medienresonanz; eine Jugendgruppe, die sich monatelang aktiv gegen Rassismus und Rechtsextremismus engagiert, ist der Lokalzeitung in der Regel kaum ein paar Zeilen wert. Die "gute" Nachricht ist keine. Und was nicht in den Medien stattfindet, gibt es nicht. Zudem neigen Populärmedien in Zeiten härterer Konkurrenzkämpfe um Auflagen und Einschaltquoten dazu, ihre Themen weiter zuzuspitzen. "Keine Jugendgewalt" oder "immer weniger Gewalt" sind keine Themen, die sich gut verkaufen. Und so heißt es stets: "Immer mehr Jugendgewalt", "immer brutaler" die Täter. Da ist Sensation statt Information gefragt, immer schneller, immer schriller, immer billiger.

Wir sollten uns also bewusst machen, dass das, was wir über "die Jugend" zu wissen glauben, nicht unbedingt der Realität entspricht, sondern der veröffentlichten Realität, dem, was Medien aus der unendlichen Fülle täglicher Ereignisse auf Basis ihrer eigenen Perspektive und Interessenlage für uns vorsortieren und auf die Agenda setzen. Medien präsentieren nur einen kleinen - meist negativen - Ausschnitt von "Jugend" (zudem mit oft haarsträubend schlecht recherchierten "Fakten"), den wir pars pro toto nehmen.

Dass diese Botschaft von der immer schlimmeren Jugend auf fruchtbaren Boden fällt, ist allerdings kein neuer Trend: Seit Sokrates vor mehr als 2000 Jahren heißt es über jede Jugend, sie sei schlimmer, respektloser, konsumtrotteliger, unpolitischer, unengagierter als die vorhergegangenen - sprich: als wir selbst. Dies ist jedoch mehr einer gnädigen Rosarot-Zeichnung unserer eigenen Jugendphase geschuldet. Nehmen wir nur einmal als Beispiel die berühmten "68er", die nachfolgenden Generationen seitdem stets als leuchtendes Vorbild vorgehalten werden: scheinbar eine ganze Generation auf den Barrikaden, politisiert und engagiert, Aktivisten einer sexuellen und kulturellen Revolution. Tatsächlich gingen damals nur drei bis fünf Prozent der Studentinnen und Studenten demonstrierend auf die Straße, und die "Bravo"-Charts der Jahre 1967 bis 1970 verzeichnen als beliebteste Künstler der Jugend jener Jahre nicht die Rolling Stones, Jimi Hendrix oder The Doors, sondern mit großem Abstand: Roy Black.

Den Mainstream prägende Minderheiten

Es waren Minderheiten, die sich damals engagierten, auch wenn es ihnen gelang, einer ganzen Generation ihren Stempel aufzudrücken. Nicht anders ist es heute: Die Mehrheit jeder Generation ist bieder, spießig, konsumtrottelig und unengagiert. Das ist bei den Jungen kaum besser als bei den Alten. Es sind immer Minderheiten, die etwas bewegen (wollen) und dabei manchmal sogar die Gesamtgesellschaft verändern.

Etwa 20 Prozent der Jugendlichen in Deutschland gehören aktiv und engagiert Jugendkulturen an; sie sind also Punks, Gothics, Emos, Skinheads, Fußballfans, Skateboarder, Rollenspieler, Cosplayer, Jesus Freaks usw. und identifizieren sich mit ihrer Szene. Minderheiten, sicherlich, die allerdings - am deutlichsten sichtbar im Musik- und Modegeschmack - die große Mehrheit der Gleichaltrigen beeinflussen. Rund 70 Prozent der übrigen Jugendlichen orientieren sich an Jugendkulturen. Sie gehören zwar nicht persönlich einer Jugendkultur an, sympathisieren aber mit mindestens einer jugendkulturellen Szene, besuchen am Wochenende entsprechende Szenepartys, Konzerte oder andere Events, hören bevorzugt die Musik einer bestimmten Szene, wollen sich aber nicht verbindlich festlegen. Jeder Szene-Kern wird so von einem mehr oder weniger großen Mitläuferschwarm umkreist, der zum Beispiel im Falle von Techno bzw. elektronischer Musik und Hip-Hop mehrere Millionen Jugendliche umfassen kann. So sind die Aktiven der Jugendkulturen wichtige opinion leader oder role models ihrer Generation.

Musik ist für fast alle Jugendlichen so ziemlich das Wichtigste auf der Welt. So ist auch die Mehrzahl der Jugendkulturen, von denen heute die Rede ist, musikorientiert: Techno, Heavy Metal, Punk, Gothics, Indies; auch Skinheads gäbe es nicht ohne Punk, Reggae und Ska; selbst für die Angehörigen der Boarderszenen, eigentlich ja eine Sportkultur, spielt Musik eine identitätsstiftende Rolle. Dabei geht es nie nur um Melodie und Rhythmus, sondern immer auch um Geschichte, Politik und grundlegende Einstellungen zur Gesellschaft, die nicht nur die Texte und Titel der Songs vermitteln, sondern auch die Interviews, Kleidermarken, nonverbalen Gesten und Rituale der jeweiligen Künstlerinnen und Künstler. Musik ist für viele Jugendliche - vor allem, aber nicht nur für die in Szenen - ein bedeutender Teil der Identitätsfindung.

Unübersichtliche Vielfalt

Jugendkulturen erwecken heute bei den meisten Menschen - übrigens auch oft bei Jugendlichen selbst - einen sehr diffusen Eindruck: Scheinbar gibt es davon immer mehr, in immer schnelleren Intervallen, in immer schrilleren Präsentationsformen. Sicherlich ist es richtig, dass heute im Vergleich zu den 1950er, 1960er, 1970er Jahren sehr viele Jugendkulturen existieren, deren Angehörige zudem nicht mehr leicht einzuordnen sind. Gab es zu meiner Jugendzeit - ich bin Jahrgang 1958 - eigentlich nur die Mofa-Cliquen, die Fußball-Fans, die Hardrock- bzw. Heavy-Metal-Fans, uns Langhaarige und die "Spießer von der Jungen Union", die alle auch für Außenstehende und Szene-Unkundige am Äußeren leicht zu erkennen waren, so existieren heute einige hundert Stilvariationen und Untergruppen, die sich mitunter nur noch selbst gegenseitig sofort einordnen können. Da gibt es nicht den Heavy-Metal-Fan, sondern den Black Metaller, den Trash Metaller, den New-Wave-of-British-Heavy-Metal-Fan und eben auch noch die Traditionalisten von der Deep-Purple-Fraktion, nicht den Techno-Fan, sondern rund ein Dutzend Techno-Spielarten von Gabber bis Goa. Und deren Angehörige erfüllen zudem nicht immer unsere visuellen Erwartungen und Vorurteile: Da ist der Popper mit dem Silberköfferchen in Wirklichkeit ein anarchistischer Computerhacker, der rassistische Neonazi kommt langzottelig und im Style des Motörhead-Sängers Lemmy Kilmister daher. Die zentrale Botschaft heutiger Jugendkulturen scheint zu sein: Wenn Du glaubst, mich mit einem Blick einschätzen zu können, täuscht Du Dich gewaltig. Oder andersherum: Wer wissen möchte, was sich hinter dem bunten oder auch schwarzen Outfit verbirgt, muss schlicht mit dem Objekt der Begierde reden.

Die Vielfalt der gegenwärtigen Jugendkulturen entsteht zum einen dadurch, dass nichts mehr verschwindet: Fast alle Jugendkulturen, die es jemals gab, ob Swing Kids oder Rock 'n' Roller, Hippies oder Mods, existieren heute noch: Sie sind vielleicht nicht mehr so groß, so bedeutend, so medienwirksam wie zur Zeit ihrer Geburt, aber sie leben.

Wenn man sich die großen Szenen der Gegenwart ansieht, stellt man schnell fest, dass mitnichten alljährlich neue bedeutende Jugendkulturen entstehen. Die größte Jugendkultur der 1990er Jahre war ohne Zweifel Techno. Bis zu fünf Millionen Menschen - jede bzw. jeder vierte unter 30 Jahren - identifizierten sich seinerzeit mit dieser Musik-Party-Kultur. Doch Techno entstand bereits 1988/89 und hat Vorläufer (zum Beispiel House), die weitere zehn Jahre zurückreichen.

Heute ist Hip-Hop - Oberbegriff für Graffiti, Tanz (Breakdance bzw. B-Boying/-Girling) und die Musik (Rap/MCs, DJ-ing) - weltweit die mit Abstand größte Jugendkultur. Mit keinem anderen Musikgenre wird so viel Umsatz bei unter 20-Jährigen gemacht, in jeder Stadt in Deutschland, und sei sie noch so klein, existieren Hip-Hop-Kids. Doch auch Hip-Hop ist keine Erfindung der späten 1990er Jahre, sondern bereits Anfang der 1970er Jahre in der New Yorker Bronx entstanden. Bereits 1979 erschien auch auf dem deutschen Markt die erste Hip-Hop-Single "Rapper's Delight" von der Sugarhill Gang.

Punk - eine weitere der historisch bedeutenden "Stammkulturen" (nicht quantitativ: Punk ist ein Minderheitenphänomen mit wenigen hunderttausend Szeneangehörigen, aber von der Kreativität und dem Einfluss auf andere Szenen her) - entstand 1975/76. Die Skateboarder lassen sich bis auf die Surfer der 1950er/1960er Jahre zurückführen (The Beach Boys), und auch die ersten Skateboards tauchten in Kalifornien bereits Ende der 1950er Jahre auf, ehe 1963 das erste fabrikgefertigte Skateboard auf den (US-)Markt kam. Gothics - früher auch Grufties, Dark Waver, New Romantics etc. genannt - erlebten die Geburt ihrer Szene bereits um 1980/81 als Stilvariante des Punk: eine introvertierte, melancholische neue Blüte, geprägt vor allem von Jugendlichen mit bildungsbürgerlichem familiären Hintergrund, denen Punk zu "aggressiv" und zu "prollig" war. Die ersten Emos, eine scheinbar neue Jugendkultur des 21. Jahrhunderts, wurden in Wahrheit schon Mitte der 1980er Jahre als Abspaltung der Hardcore-Szene gesichtet (Kultbands: Rites of Spring, Fugazi etc.). Ein typisches Kennzeichen heutiger Jugendkulturen scheint also zu sein, dass sie alt sind.

Dass dies nicht jedem sofort auffällt, liegt an einem Stilprinzip, das sich seit den 1990er Jahren als dominant herausgebildet hat: Crossover. Der ständige Stilmix, die Freude an der "Bricolage" (Claude Lévi-Strauss), dem Sampling eigentlich unpassender Stilelemente zu immer neuen, bunteren (oder eben düsteren) Neuschöpfungen. Dies gilt sowohl für die Mode als auch für die Musik: Aus Punk und Heavy Metal entstehen Hardcore und Grunge, Punk und Techno treffen sich in der Band The Prodigy, die Band Body Count vereint Hip-Hop und Heavy Metal, der Musiktherapeut Guildo Horn macht mit nur einem Schuss Ironie aus spießiger Schlagermusik Jugendkultpartys.

Man kann sich Jugendkulturen bildlich wie Tropfen in einem Meer vorstellen: Es regnet selten neue Jugendkulturen, aber innerhalb des Meeres mischt sich alles unaufhörlich miteinander. Immer wieder erfasst eine große (Medien-)Welle eine Jugendkultur, die dann für eine kurze Zeit alle anderen zu dominieren scheint wie Techno in den 1990er Jahren und derzeit Hip-Hop. Doch die Küste naht, und auch die größte Welle zerschellt. Das Wasser verdampft dabei jedoch nicht, sondern es fließt wieder ins offene Meer zurück - zersprengt in viele kleine Jugendkulturen, verwandt und doch verschieden.

Diese ständige Vermischung hat insgesamt die Grenzen zwischen den Szenen seit den 1990er Jahren deutlich durchlässiger werden lassen. Selbstverständlich ist jeder Szeneangehörige immer noch zutiefst davon überzeugt, der einzig wahren Jugendkultur anzugehören (Arroganz ist seit jeher ein wichtiges Stilmittel von Jugendkulturen), doch die Realität zeigt: Kaum jemand verbleibt zwischen dem 13. und 20. Lebensjahr in einer einzigen Jugendkultur; typisch ist der regelmäßige Wechsel: heute Punk, in der nächsten Saison Gothic, ein Jahr später vielleicht Skinhead oder Skateboarder. Oder gleich Punk und Jesus Freak, Skateboarder und Hip-Hopper. Oder: An diesem Wochenende Gothic, am nächsten Brit-Popper, der Montag gehört der Liebsten, am Mittwoch geht's ins Fitnessstudio, am Freitag zur THW-Jugend oder zur Jungen Gemeinde. Für eine wachsende Gruppe der Jüngeren ist eine Identität, eine Rolle zu wenig. Ambivalenz und Flexibilität sind die Lebensprinzipien immer mehr jüngerer Menschen. Was der (Arbeits-)Markt ihnen zwangsweise lehrt, pflanzt sich in den selbstbestimmten Freizeitwelten fort.

Zwischen Rebellion und Markt

So unterschiedlich all diese Szenen auch sein mögen, sie haben eines gemeinsam: Jugendkulturen sind grundsätzlich vor allem Konsumkulturen. Sie wollen nicht die gleichen Produkte konsumieren wie der Rest der Welt, sondern sich gerade durch die Art und Weise ihres Konsums von dieser abgrenzen; der Konsum vor allem von Musik, Mode, Events ist ein zentrales Definitions- und Identifikationsmerkmal von Jugendkulturen. Das bedeutet auch: Wo Jugendkulturen sind, ist die Industrie nicht fern.

Vielleicht ist dies einer der deutlichsten Generationenbrüche: Jugendliche haben mit großer Mehrheit ein positives Verhältnis zum Markt, sie lieben die moralfreie Kommerzialisierung ihrer Welt. Sie wissen: ohne die Industrie keine Musik, keine Partys, keine Mode, keinen Spaß. Sie fühlen sich - anders als von ihrer üblichen erwachsenen Umgebung - zu Recht von der Industrie geliebt und respektiert. Schließlich gibt diese Milliarden Euro jährlich aus, nur um sie zu umwerben, ihre Wünsche herauszufinden und entsprechende Produkte auf den Markt zu bringen.

Selbstverständlich verläuft der Prozess der Kommerzialisierung einer Jugendkultur nicht, ohne Spuren zu hinterlassen oder sie gar gravierend zu verändern. Die Verwandlung einer kleinen Subkultur in eine massenkompatible Mode bedingt eine Entpolitisierung dieser Kultur, eine Verallgemeinerung und damit Verdünnung ihrer zentralen Botschaften: So mündete der "White Riot" (The Clash) der britischen Vorstadtpunks in der neugewellten ZDF-Hitparade; Hip-Hop, ursprünglich eine Kultur afro- und latinoamerikanischer Ghettojugendlicher gegen den weißen Rassismus, mutierte zu einem Musik-, Mode- und Tanzstil für jedermann; aus dem illegalen, antikommerziellen Partyvergnügen der ersten Techno-Generation wurde ein hochpreisiges Disco-Eventangebot.

Die Industrie - Nike, Picaldi, Sony, MTV und wie sie alle heißen - erfindet keine Jugendkulturen. Das müssen immer noch Jugendliche selbst leisten, indem sie eines Tages beginnen, manchmal unbewusst, sich von anderen Gleichaltrigen abzugrenzen, indem sie etwa die Musik leicht beschleunigen, die Baseballkappe mit dem Schirm nach hinten tragen oder nur noch weiße Schnürsenkel benutzen - "Wir sind anders als ihr!" lautet die Botschaft, und das wollen sie natürlich auch zeigen. Das bekommen nach und nach andere Jugendliche mit, oft über erste Medienberichte, finden es cool und machen es nach. Eine "Szene" entsteht. Die nun verstärkt einsetzenden Medienberichte schubladisieren die neue Jugendkultur, machen Unerklärliches etwas erklärlicher, heben zu stigmatisierende oder vermarktbare Facetten hervor, definieren die Jugendkultur (um) und beschleunigen den Verbreitungsprozess. Ab einer gewissen Größenordnung denkt auch die übrige Industrie - allen voran die Mode- und die Musikindustrie - darüber nach, ob sich diese neue Geschichte nicht irgendwie kommerziell verwerten lässt. Aus einer verrückten Idee wurde eine Subkultur, dann ein Trend und eine Mode.

Will man ein neues Produkt auf dem Markt platzieren, muss es zunächst einmal auffallen. Es muss spektakulär daherkommen und scheinbar noch nie Dagewesenes präsentieren. Das bedeutet (so paradox es auch klingen mag): Je rebellischer eine Jugendkultur ausgerichtet ist, desto besser lässt sie sich vermarkten. Nicht die Partei- oder Verbandsjugend, nicht der Kirchenchor oder der Schützenverein, sondern Punks und Gothics, Skateboarder und Hip-Hopper, Emos und Cosplayer sind die wahren Jungbrunnen der Industrie. Denn schließlich lässt sich nur das Neue verkaufen, nicht die Hosen und CDs von gestern. "Konservative" Jugendliche, die sich aktuellen Trends verweigern, die kein Interesse daran haben, sich von den Alten abzugrenzen, die nicht stets die neue Mode suchen, sondern gerne mit Vati Miles Davis oder die Beatles hören, mit Mutti auf der Wohnzimmercouch bei der ARD in der letzten Reihe sitzen, statt im eigenen Zimmer ihre eigenen Geräte und Programme zu installieren, und bereitwillig die Hosen des großen Bruders auftragen, statt sich vierteljährlich mit den jeweils neuen Kreationen einzudecken, sind der Tod der jugendorientierten Industrie.

Artificial tribes

Jugendkulturen sind also teuer, zeitintensiv und mitunter extrem anstrengend. Anders als "normale" Konsumenten müssen Szeneangehörige ständig auf dem Laufenden sein über die neuen Hits und Moden ihrer Kultur; sie müssen zu Beginn oft eine eigene Sprache aus Worten, Gesten, Ritualen und äußeren Kennzeichen lernen, deren Grammatik und Vokabular nirgendwo schriftlich fixiert ist, aber doch genau eingehalten werden muss, um mit den anderen Eingeweihten adäquat kommunizieren zu können und nicht gleich als uninformierter Mitläufer dazustehen.

Aber warum eigentlich die ganze Mühe, was macht Jugendkulturen für Jugendliche so attraktiv?

Jugendkulturen sind in der Lage, die nicht nur von Jugendlichen als immer chaotischer empfundene Welt ein wenig zu ordnen. Sie sind Beziehungsnetzwerke, bieten Jugendlichen eine soziale Heimat, eine Gemeinschaft der Gleichen. Wenn eine Gothic-Frau aus München durch Hamburg oder Rostock läuft und dort einen anderen Gothic trifft, wissen die beiden sofort enorm viel über sich. Sie (er)kennen die Musik-, Mode-, politischen und eventuell sexuellen Vorlieben des anderen, haben mit Sicherheit eine Reihe derselben Bücher gelesen, teilen ähnliche ästhetische Vorstellungen, wissen, wie der andere zum Beispiel über Gewalt, Gott, den Tod und Neonazis denkt. Und falls die Gothic-Frau aus München eine Übernachtungsmöglichkeit in Hamburg oder Rostock sucht, kann sie mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass ihr der andere weiterhilft, selbst wenn die beiden sich nie zuvor gesehen haben. Jugendkulturen sind artificial tribes, künstliche Stämme und Solidargemeinschaften, deren Angehörige einander häufig bereits am Äußeren erkennen. Sie füllen als Sozialisationsinstanzen das Vakuum an Normen, Regeln und Moralvorräten aus, das die zunehmend unverbindlichere, entgrenzte und individualisierte Gesamtgesellschaft kennzeichnet.

Zudem sind Jugendkulturen trotz aller Kommerzialisierung zumindest für die Angehörigen eines Szene-Kerns vor allem eine attraktive Möglichkeit des eigenen kreativen Engagements. Weil die Kommerzialisierung ihrer Freizeitwelten auch negative Folgen hat und die Popularisierung ihrer Szenen ein wichtiges Motiv der Zugehörigkeit zu eben diesen Szenen aushebelt - nämlich die Möglichkeit, sich abzugrenzen -, schafft sich die Industrie automatisch eine eigene Opposition, die sich über den Grad ihrer Distanz zum kommerziellen Angebot definieren: Wenn alle bestimmte Kultmarken tragen, trage ich eben nur No-Name-Produkte. Sag mir, welche Bands auf MTV und Viva laufen, und ich weiß, welche Bands ich garantiert nicht mag.

Wer wirklich dazugehören will, muss selbst auf dem Skateboard fahren, nicht nur die "richtige" teure Streetwear tragen, selbst Graffiti sprühen, nicht nur cool darüber reden, selbst Musik machen, nicht nur hören, usw. Es sind schließlich die Jugendlichen selbst, welche die Szenen am Leben erhalten. Auch hier sind es wieder Minderheiten, doch diese gehören oft zu den Kreativsten ihrer Generation. Sie organisieren die Partys und andere Events, sie produzieren und vertreiben die Musik, sie geben derzeit in Deutschland (trotz der zunehmenden Bedeutung des Internets immer noch) mehrere tausend szeneeigene, nichtkommerzielle Zeitschriften - sogenannte Fanzines - mit einer Gesamtauflage von mehr als einer Million Exemplaren jährlich heraus. Für sie sind Jugendkulturen Orte der Kreativität und der Anerkennung, die sie nicht durch Geburt, Hautfarbe oder Wohlstand der Eltern erhalten, sondern sich ausschließlich durch eigenes, freiwilliges, selbstbestimmtes und in der Regel ehrenamtliches Engagement verdienen.

Noch nie waren so viele Jugendliche kreativ engagiert wie heute - in jeder Stadt in Deutschland gibt es heute Rapperinnen und Rapper, B-Boys und -Girls, Sprayerinnen und Sprayer, DJs und DJanes. Tausende von Jugendlichen produzieren Woche für Woche an ihren PCs Sounds - der einzige Lohn, den sie dafür erwarten und bekommen, ist Respekt. Noch nie gab es so viele junge Punk-, Hardcore- und Metal-Bands wie heute. Das Web 2.0 ist nicht nur ein Ort der Jugendgefährdung, sondern auch ein Tummelplatz enormer jugendkultureller Aktivitäten, mit denen bereits 14-, 15-, 16-Jährige eine Medienkompetenz zeigen und sich erwerben, über die manch hauptberuflicher Jugendschützer nicht ansatzweise verfügt. Auch die Sportszenen jenseits der traditionellen Vereine - von den Boarderszenen über Parcours bis zu den Juggern - boomen.

Doch noch nie war die Erwachsenenwelt derart desinteressiert an der Kreativität ihrer "Kinder". Respekt ist nicht zufällig ein Schlüsselwort fast aller Jugendkulturen. Respekt, Anerkennung ist das, was Jugendliche am meisten vermissen, vor allem von Seiten der Erwachsenen. Viele Erwachsene, klagen Jugendliche, sehen Respekt offenbar als Einbahnstraße an. Sie verlangen von Jugendlichen, was sie selbst nicht zu gewähren bereit sind, und beharren eisern auf ihre Definitionshoheit, was anerkennungswürdig sei und was nicht: Gute Leistungen in der Schule werden belohnt, dass der eigene Sohn aber auch ein exzellenter Hardcore-Gitarrist ist, die Tochter eine vielbesuchte Emo-Homepage gestaltet, interessiert zumeist nicht - es sei denn, um es zu problematisieren: Bleibt da eigentlich noch genug Zeit für die Schule? Musst du immer so extrem herumlaufen, deine Lehrer finden das bestimmt nicht gut ...

Dabei weiß jede gute Lehrerin bzw. jeder gute Lehrer, welche Schülerinnen, welche Schüler am meisten Stress verursachen: die Gleichgültigen, die, die sich für gar nichts interessieren, keine Leidenschaft kennen, für nichts zu motivieren sind. Schule braucht heute nicht nur motivierte Lehrer, sondern auch engagierte, kreative, selbstbewusste Schüler. Leider haben immer noch sehr, sehr viele Jugendliche wenige Chancen, Selbstbewusstsein zu erwerben. Viele fühlen sich schon mit 13, 14 Jahren "überflüssig" in dieser Gesellschaft. Und die Schule ist offenbar oft nicht in der Lage bzw. willens, gegenzusteuern. Sie hat es bis heute nicht verstanden, strukturell eine Anerkennungskultur zu entwickeln, die Schüler für gute Leistungen belohnt statt für Versagen zu bestrafen und herabzuwürdigen.

Jugendkulturen werden deshalb immer wichtiger: Hier können Jugendliche einmal selbst erfahren, dass in ihnen noch etwas steckt, dass sie kreative Fähigkeiten haben, die ihnen ihre Umwelt selten zutraut - bis sie sich selbst auch nichts mehr zutrauen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Klaus Farin, Jugendkulturen in Deutschland. Band 1: 1950-1989, Band 2: 1990-2005, Bonn 2006 (Bd. 3 und 5 in der Reihe "Zeitbilder" der Bundeszentrale für politische Bildung, vergriffen, Neuauflage für 2011 geplant); ders., Über die Jugend und andere Krankheiten. Essays und Reden 1994-2008, Berlin 2008.

ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.