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Herausforderungen für die Jugend in Haiti - Essay | Haiti | bpb.de

Haiti Editorial Als die Möbel "zu tanzen begannen" - Szenen aus Haiti Wiederaufbau nach dem Erdbeben - Perspektiven für Haiti Haiti - Die "erste schwarze Republik" und ihr koloniales Erbe Voodoo für das haitianische Volk "Sak vid pa kanpe" - Die Zerbrechlichkeit des haitianischen Staates und die Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen Nachhaltige Entwicklung durch Tourismus? Was kann Haiti von der Dominikanischen Republik lernen? Herausforderungen für die Jugend in Haiti - Essay

Herausforderungen für die Jugend in Haiti - Essay

John Miller Beauvoir

/ 8 Minuten zu lesen

Der Autor umreißt die Herausforderungen für die Jugend Haitis. Er beschreibt sie als Hoffnung zur Lösung der systemischen Krise des Landes, da die traditionelle Elite sich als unfähig erwiesen hat, das Land in eine bessere Zukunft zu führen.

Einleitung

Haiti ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Obwohl seit dem Jahr 1804 unabhängig, kämpft diese erste schwarze Republik der modernen Welt immer noch ums Überleben und bemüht sich, die Folgen von Misswirtschaft, Naturkatastrophen und politischem Scheitern zu überwinden, die das Land seit nunmehr zwei Jahrhunderten plagen. Die zerstörerischen Kräfte der permanenten Krisen wirken sich auf alle Bereiche der Gesellschaft aus und entziehen der wichtigsten demographischen Gruppe die Grundlage: den Jugendlichen. Einer erfolgreichen Entwicklung der Jugend Haitis stehen immense Hindernisse im Wege. Die Arbeitslosigkeit wächst in den Himmel, eine Grundversorgung mit öffentlichen Einrichtungen ist praktisch nicht vorhanden und es fehlt jegliche Perspektive auch für die hoffnungsvollsten Jugendlichen in diesem Lande. Die politische Führung schließlich wird von einer traditionellen Gruppe beherrscht, die über einen Status quo wacht, in dem politische Meinungsäußerungen der Jugend von allen institutionellen Ebenen ausgeschlossen bleiben.

Das Erdbeben am 12. Januar 2010 forderte viele Opfer und stellt die Zukunft von mehr als fünf Millionen jungen Männern und Frauen in Frage. Die Jugend verkörpert nach allgemeiner Überzeugung die Zukunft eines Landes. In Haiti sind dem letzten Zensus zufolge 65 Prozent der Bevölkerung unter 25 Jahre alt, was die Jugend zum bestimmenden Faktor für die Zukunft des Landes macht. Dieser hohe Anteil junger Menschen ist jedoch ein zweischneidiges Schwert: Gut ausgestattet und betreut, können sie eine treibende Kraft für den Wiederaufbau des Landes und für langfristiges Wachstum sein. Wenn sie dagegen marginalisiert werden, können sie zu einem Faktor der Instabilität, Armut und Unsicherheit werden.

Es gibt jedoch keine spezifische staatliche Politik, die den besonderen Bedürfnissen dieser Gruppe Rechnung trägt. Jugendförderung war niemals eine Priorität für die Regierung und daher schafft es das Land nicht, aus dem Teufelskreis von Armut und Instabilität auszubrechen. Angesichts dieses Versagens der traditionellen Eliten sind die Jugendlichen Haitis wegen ihres Alters und ihres hohen Anteils an der Bevölkerung Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft.

Die wichtigsten Herausforderungen

Haitis Jugend ist ein Abbild der sozialen und wirtschaftlichen Nöte, in denen das Land steckt. Weit verbreitet sind die Stimmen, welche die Zukunft düster sehen, das Hoffen auf die Eliten des Landes aufgegeben und das Vertrauen in ihr Land verloren haben. Ihre Probleme sind vielfältig:

Arbeitslosigkeit:

Mehr als 90 Prozent der Jugendlichen Haitis sind auf Arbeitssuche, aber es gibt keine Jobs. Diese demoralisierende Lage führt unter jungen Haitianern zu allgemeiner Frustration und dem Wunsch auszuwandern. Nach einem Bericht der Weltbank aus dem Jahr 2005 steht Haiti bei der Auswanderung qualifizierter Arbeitskräfte an dritter Stelle unter den Entwicklungsländern. Demnach "exportieren" wir 83 Prozent unserer qualifizierten Bürgerinnen und Bürger. Dieser brain drain illustriert anschaulich die Einstellung der Mehrheit der haitianischen Jugendlichen: Sie sehen keinen anderen Ausweg mehr als den internationalen Flughafen von Port-au-Prince. Es herrschen Apathie und Verbitterung, während der gesellschaftspolitische Entwicklungsprozess, der dringend einer Verjüngung und neuer Ideen bedarf, von überalterten politischen Führern mit überkommenen Zukunftsvisionen blockiert wird.

Der dadurch entstehende Teufelskreis ist verhängnisvoll: Während wertvolle Arbeitskräfte das Land verlassen, verschlimmern sich die Lebensverhältnisse der haitianischen Bevölkerung. Hunger, Analphabetismus und chronische Krankheiten scheinen für alle Zeiten der Bevölkerung aufgebürdet, besonders aber ihren schwächsten Gliedern, den Jugendlichen und den Kindern. Der Auswanderungsprozess hat sich nach dem Erdbeben noch beschleunigt. Nach Schätzungen der Regierung verursachte das Erdbeben in Haitis Wirtschaft Verluste in Höhe von 14 Milliarden US-Dollar und den Verlust Tausender Arbeitsplätze. Das Fehlen von Perspektiven für die Jugend ist fruchtbarer Nährboden für Drogenhandel und andere Arten von Bandenkriminalität. Die wenigen jungen Fachleute, die das Glück hatten, einen Hochschulabschluss zu erlangen, haben Schwierigkeiten, auf dem Arbeitsmarkt unterzukommen, der von Vetternwirtschaft dominiert wird. Der Zugang zu einem Arbeitsplatz im öffentlichen wie im privaten Sektor gelingt nur durch Protektion. Es gibt keine Praktikantenprogramme für Hochschulabsolventen, während Arbeitgeber "fünf Jahre Arbeitserfahrung" verlangen, bevor sie jemanden einstellen.

Mit dem Erdbeben, so zerstörerisch es auch war, bot sich eine gute Gelegenheit, etwas gegen die Arbeitslosigkeit zu unternehmen. Haiti erfuhr außergewöhnliche Zuwendung und Solidarität durch die internationale Gemeinschaft und große Geldsummen werden bereitgestellt. Eine politische Führung mit Visionen hätte die Jugend Haitis in die Wiederaufbaubemühungen eingeschlossen durch das Anwerben von Fachleuten an Universitäten und Berufsschulen und die Ausbildung von weniger qualifizierten jungen Menschen. Bisher jedoch steht die Regierung nicht im Dialog mit dem Jugendsektor. Sie hat ihre Befragungen zur Ermittlung des Wiederaufbaubedarfs nach der Katastrophe (Post Disaster Needs Assessment - PDNA) durchgeführt und einen Aktionsplan zur nationalen Genesung und Entwicklung von Haiti ausgearbeitet, ohne Vertreter des Jugendsektors zu konsultieren. Dieser erneute Akt des Ausschlusses entmutigt die Jugend und schafft Frustration.

Keine Unterstützung für junge Nachwuchsunternehmer:

Angesichts des begrenzten Arbeitsmarktes ziehen viele Menschen es vor, freiberuflich oder als selbständige Kleinunternehmer zu arbeiten. Leider bietet sich dafür in Haiti kein Betätigungsfeld. Trotz innovativer Geschäftsideen von vielen jungen Männern und Frauen gibt es keine Banken, die ihnen Kredite gewähren würden. Keine öffentliche Maßnahme sorgt für Anreize für junge Kreativität. Auch Vorschläge für ein Jugendgesetz, welches die Integration junger Fachkräfte in die öffentliche Verwaltung erleichtern und einen Fonds für junges Unternehmertum schaffen sollte, wurden abgelehnt.

Fehlen von Bildungschancen:

Weltweit herrscht Konsens darüber, dass Bildung zu nachhaltiger Entwicklung führt, da sie wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnet. Mangelnde Bildung ist eines der größten strukturellen Hindernisse für junge Haitianer. Es gibt zu wenige öffentliche Schulen, um die wachsende Nachfrage zu decken. Den bestehenden Schulen fehlt es an grundlegenden Strukturen und Ausstattung, um die Kinder richtig auszubilden. Nach Angaben des Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF werden nur wenig mehr als die Hälfte der schulreifen Kinder eingeschult. Weniger als zwei Prozent der Kinder schließen eine weiterführende Schule ab. Die staatliche Universität ist in einem denkbar schlechten Zustand und nimmt nur ein Prozent der Jugendlichen auf, die ein Hochschulstudium anstreben. Um diese Lücke zu schließen, werden überall ohne staatliche Regulierung und Kontrolle Privatschulen eingerichtet. Auch wenn die Situation des Schulsystems nach dem Erdbeben bisher nicht erfasst ist, so steht doch fest, dass die Mehrheit der Schulen und Universitäten des Landes zerstört ist.

Ausschluss von der Politik:

Dieses Land strebt im Grunde genommen nach einer Herrschaft der "alten Männer". Seit 25 Jahren ist das politische Spektrum gleichsam gekapert von einer kleinen Gruppe von Personen mit ihren überholten traditionellen Vorstellungen von Regierungsführung. Sie kontrollieren jede Aufstiegsmöglichkeit in unseren demokratischen Institutionen und lassen den Jüngeren kaum Gelegenheit, sich politisch zu äußern. Dieselben Personen kontrollieren die politischen Parteien, die weder innerparteiliche Demokratie noch Öffentlichkeitsarbeit kennen. In diesem Kontext kann nur eine radikale Bewegung einen weit reichenden Wandel und den Aufstieg eines neuen politischen Personals herbeiführen.

Im vergangenen Jahr hat eine Gruppe von Jugendorganisationen die Regierung gedrängt, eine nationale Jugendpolitik auszuarbeiten und der Jugend eine Vertretung auf Regierungsebene zu ermöglichen - vergeblich. Bemerkenswerterweise gibt es in Haiti ein Jugendministerium - dessen Minister über 65 Jahre alt ist. Zum Vergleich: Sein Amtskollege in der benachbarten Dominikanischen Republik ist 33 Jahre alt. Dieser kommt aus den Reihen einer politischen Jugendorganisation und leitete eine politische Hochschulgruppe. Er unterhält enge Beziehungen mit Jugendverbänden in seinem Land und hat kürzlich die sogenannte "Taiwanisierung" seines Landes angestoßen, indem er Ausbildungsmöglichkeiten in Form von Studienbeihilfen und Stipendien für junge Menschen bereitstellt, die im Gegenzug die Entwicklung des Landes vorantreiben sollen. Der Unterschied zwischen beiden Ländern ist immens, da Haiti keinerlei gezielt auf die Jugend ausgerichtete Impulse für politische Partizipation setzt.

Haitis letzte große Hoffnung

Trotz aller angesprochenen Hindernisse ist die Jugend Haitis der Hoffnungsträger, der eine zersplitterte Gesellschaft wieder regenerieren kann. Das Bedürfnis nach Veränderung ist allenthalben spürbar. Sogar die internationalen Akteure beginnen nach neuen Partnern Ausschau zu halten, die eine reformorientierte neue Bewegung steuern können, welche die Jugend mobilisieren und der gebrochenen Nation neuen Mut einträufeln kann.

Ungeachtet der entmutigenden Lebensbedingungen und aller Arten von strukturellen Barrieren gibt es Anhaltspunkte dafür, dass Haiti durch eine tatsächliche Beteiligung der jüngeren Generation im gesellschaftspolitischen Bereich wiederaufleben kann. Haitis Jugendliche dürsten nach Veränderung. Sie trauen den traditionellen Eliten nicht mehr und wollen endlich an einer Lösung beteiligt werden. Mehrere Jugendbewegungen planen eine landesweite Mobilisierung, um eine nationale "Jugendagenda" zu entwerfen. Sie wollen sich selbst in die Politik begeben, um diese Agenda in die Tat umzusetzen. "Diejenigen, die unsere Generation haben scheitern lassen, dürfen nicht dieselben sein, denen die Planung der Zukunft unserer Kinder anvertraut wird. Jetzt nicht mehr." Dies ist der Sammelruf, den man oft zu hören bekommt. Zurzeit herrscht ein fortgesetzter Widerstreit zwischen zwei Gruppen der Gesellschaft: Zwischen der Jugend, der es an der Erfahrung zur Führung des Landes fehlt, und den Vertretern des Status quo, die einen katastrophalen Eindruck dabei hinterlassen haben, wie sie in den vergangenen 25 Jahren die Geschicke dieses Landes geleitet haben. Doch um die Debatte gewinnen zu können, müssen einige Grundvoraussetzungen erfüllt sein:

Durchhaltevermögen:

Widerstand gegen einen Wandel ist in Haiti weit verbreitet. Um ihm entgegenzutreten, ist Rückgrat erforderlich. Nur Zyniker nähren eine Theorie der Hoffnungslosigkeit.

Sachverstand:

Haiti ist ein Land, in dem derzeit der Seemann die Position des Piloten einnimmt. Infolge des Nepotismus sitzt der rechte Mann oder die rechte Frau nicht immer am rechten Platz. Über erfolgreiches Handeln sollten aber letztlich die Fertigkeiten, die man mitbringt, entscheiden.

Uneigennützigkeit:

In Haiti gibt es die weit verbreitete Ansicht, dass jede ehrenamtliche Tätigkeit durch verborgene politische oder wirtschaftliche Absichten motiviert sei. Daher muss der oder die für den Wandel Eintretende zutiefst von der Selbstlosigkeit seiner bzw. ihrer Initiative überzeugt sein, um ein gutes Beispiel abzugeben und mit der Zeit die eigene Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen zu können.

Mitgefühl:

Man muss mit den Schuhen Anderer gelaufen sein, um ihre Sorgen, Nöte, und Ängste verstehen und wirklich etwas für sie tun zu können.

Haiti braucht dringend Befürworter des Wandels, damit einige der großen Aufgaben, vor denen wir stehen, gelöst werden. Haiti sehnt sich nach einem neuen Führungsstil. Unsere Generation hat eine lange überfällige Mission zu erfüllen, für ein neues, prosperierendes und friedliches Haiti.

B.A., geb. 1981; Mitbegründer der Denkfabrik CRED in Haiti; arbeitete für verschiedene internationale Organisationen, darunter das National Democratic Institute for International Affairs und die International Youth Foundation. Er schrieb u.a. für die "New York Times" und die "Süddeutsche Zeitung". Im Jahr 2007 erhielt er den Global Fellowship Award der International Youth Foundation. E-Mail Link: pathwayhaiti@gmail.com