Einleitung
"Sak vid pa kanpe" lautet ein bekanntes haitianisches Sprichwort. Übersetzt bedeutet es so viel wie, "ein hungriger Mensch kann nicht arbeiten". Es lässt sich aber auch auf den haitianischen Staat anwenden - eine leere Hülle bar jeglicher Legitimität, die nicht einmal ihre Grundfunktionen gegenüber seiner Bevölkerung erfüllt. Weder versorgt er diese mit einem Minimum an sozialen Leistungen noch bietet er ihr Schutz und Sicherheit vor Bedrohungen von innen wie von außen. Das verheerende Erdbeben vom 12. Januar 2010, das Tod und Zerstörung über ein historisch von Armut, Ausbeutung und Gewalt geplagtes Volk brachte, hat die strukturellen Schwächen des haitianischen Staates einmal mehr offen gelegt.
Die Katastrophe bedeutet in jeder Hinsicht einen tragischen Rückschlag zu einem Zeitpunkt, an dem Haiti sich trotz enormer verbleibender Herausforderungen an einem positiven Wendepunkt befand. Dank der seit Juni 2005 präsenten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Haiti (MINUSTAH)
Haiti muss Antworten auf viele überlebenswichtige Fragen finden: Worin wurzelt Haitis Fragilität? Wie weit trägt der verfassungsrechtliche und tatsächliche Aufbau des Staatsapparates zu dieser Lage bei? Wie wirken sich die Entwicklung der Sicherheitslage, vor allem während der vergangenen sechs Jahre, sowie das Erdbeben als katastrophale Zäsur auf die Gesamtlage aus, wobei unter Sicherheit nicht ausschließlich die Sicherheit des Staates, sondern mehr noch die Sicherheit der Bevölkerung, der Menschen zu verstehen ist? Wie sehen die kurz- und langfristigen Herausforderungen aus, vor denen nicht nur Staat und Gesellschaft Haitis, sondern die Weltgemeinschaft insgesamt stehen? Und welchen Beitrag leistet in diesem Zusammenhang die Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Haiti?
Die Zerbrechlichkeit des haitianischen Staates offenbart sich in seiner extremen Krisenanfälligkeit in nahezu allen Lebensbereichen: Wirtschaft, Umwelt, staatliche Institutionen und ihr verfassungsrechtlicher Rahmen, Gesundheitswesen, Sicherheit und Justiz.
Die spezifische Konstellation von struktureller Gewalt
Menschliche Sicherheit in Haiti
Die Idee von der menschlichen Sicherheit ist untrennbar verwoben mit dem Konzept der menschlichen Entwicklung, welches im Jahr 1994 von den Vereinten Nationen erarbeitet wurde. Es beinhaltete ursprünglich die beiden charakteristischen Elemente "Freiheit von Furcht" und "Freiheit von Mangel" (Freedom from Fear und Freedom from Want) und umfasst die Bereiche Wirtschaft, Ernährung, Gesundheit, Umwelt sowie persönliche, gruppenspezifische und politische Sicherheit.
Auf der Skala des Human Development Index (HDI) des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP)
Durch das Erdbeben hat sich die ohnehin dramatische Situation für die haitianische Bevölkerung weiter zugespitzt. Über 1,5 Millionen Menschen leben gegenwärtig in Camps und Zeltlagern, die trotz internationaler Hilfsleistungen nur notdürftig ausgestattet sind. Diese Notunterkünfte bieten weder ausreichenden Schutz vor den starken subtropischen Regenfällen noch vor den saisonalen Tropenstürmen: Die atlantische Hurrikansaison beginnt offiziell Anfang Juni und endet Ende November; in der Vergangenheit wurde Haiti immer wieder von Tropenstürmen mit verheerenden Folgen heimgesucht. Die Lager und Notunterkünfte sind Brutstätten für Krankheiten und Epidemien jeder Art.
Haiti befindet sich in einer Abwärtsspirale von rapide voranschreitendem strukturellem Verfall und einer nicht abreißen wollenden Kette von Krisen und Katastrophen.
Gewalt und Kriminalität im Wandel
Im internationalen politischen Diskurs haben sich in den vergangenen Jahren zwei Argumentationslinien in Bezug auf das Phänomen fragiler Staaten herausgebildet, die sich theoretisch nicht ausschließen, praktisch allerdings unterschiedliche Politikoptionen nach sich ziehen. Während ein entwicklungspolitischer Ansatz die Bedrohung betont, die fragile Staaten für ihre Bevölkerungen und das Erreichen der Millenium-Entwicklungsziele
Transnationale organisierte Kriminalität sowie daraus resultierende regionale und globale Sicherheitsimplikationen scheinen die einzigen realen Bedrohungen zu sein, die aus einer konventionellen sicherheitspolitischen Perspektive von Haiti ausgehen könnten. Schwache rechtsstaatliche Strukturen, weit verbreitete Korruption
Haiti weist keine typische Post-Konflikt-Situation auf, da der Karibikstaat keinen Bürgerkrieg durchlebt hat. Nichtsdestotrotz ist Haitis Geschichte seit seiner Geburt als erste Sklavenrepublik im Jahr 1804 von internen Konflikten und organisierter Gewalt gekennzeichnet. Das gilt insbesondere für die fast 30 Jahre, bis 1986, währende grausame Diktatur der Duvaliers,
Aus den ersten demokratischen Wahlen im Jahr 1990 ging der katholische Armenpriester Jean-Bertrand Aristide mit überwältigender Mehrheit als Sieger hervor. Im Zeitraum von 1989 bis 2004, in dem das Regime auf Haiti zwischen Militärherrschaft und Demokratie oszillierte, kam es mehrfach zu internen bewaffneten bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen
Missionen der Vereinten Nationen
Seit 1993 gab es auf Haiti sieben Missionen der Vereinten Nationen,
Drei Monate später, am 1. Juni 2004, autorisierte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit Resolution 1542
Die MINUSTAH steht unter brasilianischer Führung, ein Indiz für den in den vergangenen Jahren deutlich erstarkten Führungsanspruch Brasiliens in der Region.
Durch die Resolution 1908
Herausforderungen für den Stabilisierungsprozess
Dem haitianischen Staat gelingt es nur sehr bedingt, sein Gewaltmonopol auf seinem Territorium geltend zu machen und seine Bevölkerung zu schützen. Private Milizen und kriminelle Bewaffnete stehen mit dem Staat in einem ständigen Wettbewerb. Das Vordringen des transnationalen organisierten Verbrechens stellt für den Stabilisierungsprozess auf Haiti eine zentrale Bedrohung dar. Ebenso besteht ein zunehmendes Risiko für Unruhen und bewaffnete Auseinandersetzungen. Der Schutz der Menschenrechte ist äußerst prekär, Straflosigkeit ist die Regel und Gewalt gegen Frauen weit verbreitet. Der Zugang zum Justizsystem ist insbesondere in ländlichen Gegenden kaum möglich, und die Bedingungen in den Gefängnissen sind alarmierend.
Laut ihrem ursprünglichen Auftrag soll die MINUSTAH den haitianischen Staat stärken und ihn beim Aufbau nachhaltiger rechtsstaatlicher Strukturen unterstützen. Auch wenn die Mission nicht mit einem formalen Mandat für die Reform des Sicherheitssektors ausgestattet ist, liegt vor allem seit 2006 ein Schwerpunkt auf der Reform und dem Aufbau der haitianischen Nationalpolizei (PNH).
Die Folgen des Erbebebens potenzieren die bereits vor der Katastrophe bestehenden Risiken und Herausforderungen. Weitere, erschwerende Faktoren kamen hinzu: aus der zentralen Haftanstalt in Port-au-Prince am 12. Januar entflohene hochgefährliche Kriminelle, sich re- oder neu konstituierende kriminelle Banden in den einschlägigen Elendsvierteln Cité Soleil, Bel-Air und Martissant, eine steigende Anzahl von Fällen von Entführungen, Vergewaltigungen, (Lynch-)Morden sowie eklatante Unsicherheit in den Camps und Zeltlagern, die besonders Frauen und Mädchen in Form von sexueller Gewalt betrifft.
Nach offiziellen Angaben verlor die haitianische Polizei, die vor dem Erdbeben aus 9.715 Polizisten bestand, durch die Katastrophe mindestens 75 Polizisten. Hunderte wurden verletzt und 40 Kommissariate völlig zerstört oder stark beschädigt.
Perspektiven für die Reform des Sicherheitssektors
Die haitianische Polizei ist zurzeit mehr denn je auf internationale Unterstützung angewiesen, um im Alltag ein Minimum an öffentlicher Ordnung und Stabilität gewährleisten zu können. Dies darf allerdings nicht zu einer dauernden internationalen Abhängigkeit der haitianischen Regierung führen. Das erklärte mittelfristige Ziel, die Stärke der PNH bis zum Jahr 2011 auf 14.000 Mitglieder zu erhöhen und gleichzeitig das Aussieben (vetting) derjenigen Individuen voranzutreiben, die in Menschenrechtsverletzungen oder Kriminalität verwickelt waren oder es noch immer sind, sollte oberste Priorität für die internationale Gemeinschaft bleiben.
Bemühungen zur Reform des Sicherheitssektors in Haiti zeugen von einer klaren Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Akteuren der internationalen Gemeinschaft. Neben der MINUSTAH kooperieren Kanada, Frankreich, die USA und Spanien auf bilateraler Basis mit der haitianischen Regierung. Die EU ist in diesem Bereich nur bedingt aktiv, was zum einen auf ihre traditionelle Rolle als Akteur humanitärer Hilfsleistungen sowie der klassischen Entwicklungszusammenarbeit zurückzuführen ist. Zum anderen spielt Haiti aus geostrategischer Sicht für die EU eine untergeordnete Rolle. Als Reaktion auf das Erdbeben und eine Anfrage der MINUSTAH hat die EU allerdings 323 Polizisten der Europäischen Gendarmerietruppe
Neben der Wiederherstellung von Sicherheit verlangt der Aufbau einer stabilen Gesellschaft und eines funktionierenden Staatswesens in Haiti sowohl materielle Aufbauhilfe als auch wirtschaftliches Wachstum. Stabilität und Sicherheit waren und sind mittel- und langfristig ohne eine spürbare Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung nicht zu erreichen. Deshalb bleibt eine der größten Herausforderungen für Haiti ein struktureller Wandel der lokalen Volkswirtschaft, der einen nationalen Pakt für nachhaltige Entwicklung zwischen Staat und Gesellschaft einschließlich der auf Haiti traditionell "parasitären" Privatwirtschaft erfordert und der die Wiederherstellung und den Schutz der Umwelt als Lebensgrundlage in den Mittelpunkt stellt. Inwiefern sich das verheerende Erdbeben unter Umständen als Katalysator eines Prozesses nationaler Einheit für eine nachhaltige Entwicklung erweisen könnte, bleibt abzuwarten.