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Voodoo für das haitianische Volk | Haiti | bpb.de

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Voodoo für das haitianische Volk

Sonja Norgall

/ 14 Minuten zu lesen

Im Alltag der Haitianer bietet Voodoo vor allem Lebenshilfe, Heilung und Orientierung im Chaos der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche. Dabei passen die Gläubigen ihren religiösen Kosmos immer wieder an die äußeren Einflüsse an.

Einleitung

Haiti kommt nicht zur Ruhe. Seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1804 und den USA im Jahr 1934 blutete die einst reiche Kolonie zu einem der ärmsten Länder der westlichen Welt aus. Die Infrastruktur ist unterentwickelt, viele Einwohner müssen mit weniger als zwei Dollar am Tag überleben. Die Arbeitslosigkeit ist erdrückend. Wer kann, wandert aus. Nach Kolonialherrschaft, Naturkatastrophen und diktatorischen Regierungen liegt die Wirtschaft der karibischen Insel auch nach dem Erdbeben im Januar 2010 wieder am Boden. Hunderttausende Menschen verloren dabei ihr Leben, Millionen ihre Unterkunft. Baptistische Pastoren, die im Zuge der Wiederaufbauhilfe ins Land kamen, gaben den Voodoo-Anhängern eine Mitschuld an der jüngsten Katastrophe. Im Februar 2010 kam es auch zu gewalttätigen Übergriffen auf Versammlungen von Voodoo-Anhängern in einem der Slums von Port-au-Prince. Der Kampf gegen den auf Haiti weit verbreiteten Volksglauben ruft Erinnerungen an die französischen Kolonialherren wach, die mit Gewalt ihre katholische Religion den afrikanischen Sklaven übertragen wollten. Aber Voodoo ist heute neben dem Katholizismus anerkannte Staatsreligion und wird von der Mehrheit der Bevölkerung praktiziert, häufig parallel zum katholischen Glauben. Aus welchen Elementen besteht Voodoo und welche Rolle spielt dieser afroamerikanische Glauben für die Haitianer?

Voodoo als kraftspendendes Element

Voodoo - in den westafrikanischen Kwa-Sprachen Ewe und Fon bedeutet dies "Gottheit" oder "Geist" - ist eine pragmatische Religion, deren Anhänger an ein System von Geistern glauben, die ihnen Hilfe und Unterstützung im Lebensalltag gewähren. Die dunklen, schädigenden Seiten der Magie im Voodoo wirken stärker nach außen als das alltägliche, helfende und heilende Element. Bekannt ist vor allem die schwarze Magie. Die dazu eingesetzten Hilfsmittel wie genadelte Fetischpuppen oder blutige Hühneropfer werden auch in Hollywood-Filmen gerne gezeigt. Dabei überwiegt in der religiösen Praxis die weiße Magie, die für Heilung und Lebenshilfe eingesetzt wird.

Im Voodoo-Glauben vereinigen sich religiöse Vorstellungen und Riten westafrikanischer Ursprungsreligionen wie der Yoruba-Religion mit Praktiken christlicher Religionen wie dem Katholizismus, die im Laufe der Kolonialzeit integriert wurden. Die Haitianer selbst bezeichnen mit Voodoo das Ritual der Besessenheitstänze. Dabei variieren die Erscheinungsformen des Voodoo und es gibt keine feste Doktrin oder Liturgie. Die Inhalte entwickeln sich beständig weiter und werden an die verschiedenen äußeren Einflüsse angepasst: Neue Götter kommen hinzu, alte werden in ihren Rollen erweitert. Diese Flexibilität und Synkretisierung der afrikanischen Wurzeln mit Elementen der christlichen Kolonialreligionen ist charakteristisch für den Voodoo und dient dem Bewahren der Traditionen bei gleichzeitiger Anpassung an die Umgebung.

Für die Haitianer spielte Voodoo schon immer eine wichtige Rolle, seit der Kolonialzeit, als Millionen Afrikaner aus der westafrikanischen Goldküste (wie Nigeria oder Benin) von ihren Regierungen verkauft und im 18. Jahrhundert auf die von den Europäern eroberten karibischen Inseln verschifft wurden. Dort arbeiteten sie als Sklaven auf Zuckerrohr- und Baumwollplantagen. Wer überlebte, hielt auch an seinem mitgebrachten Glauben fest: Die Sklaven trafen sich nach der Arbeit, um ihre Rituale zu feiern, zu trommeln und zu singen. Dies stärkte neben dem Glauben auch ihren sozialen Zusammenhalt und den Widerstand gegen die Unterdrückung durch die Kolonialherren. Anfangs waren die Rituale noch uneinheitlich, gemeinsame Formen entwickelten sich erst mit der Zeit. Aus Angst vor Aufständen und Unverständnis für die fremden Riten und Gesänge verboten die Plantagenbesitzer die nächtlichen Zusammenkünfte zunächst. Der Kult wurde auch von den katholischen Missionaren als abergläubisch und teuflisch betrachtet. Sie verlangten, dass alle Sklaven getauft werden sollten - was für die Sklaven kein Problem war, da die Taufe nicht im Widerspruch zu ihren eigenen religiösen Vorstellungen stand. Sie tauschten ihren Voodoo-Glauben daher nicht gegen den katholischen Glauben, sondern nahmen katholische Gebete und Gesänge in ihre Zeremonien auf und ordneten ihren Gottheiten katholische Heilige zu.

Auch bei dem Aufstand der Sklaven (1791-1804), der zur Unabhängigkeit Haitis von Frankreich führte, spielte der Voodoo als kraftspendendes Element eine wichtige Rolle. Aber bereits 1860 kehrten katholische Missionare über ein Konkordat auf die Insel zurück und starteten umfassende Kampagnen zur Zurückdrängung des Voodoo. Mit Polizeigeleit und der Unterstützung ehemaliger Voodoo-Anhänger zogen die Missionare über die Dörfer, verbrannten rituelle Gegenstände und verboten die Zusammenkünfte. Erst ab den 1950er Jahren entspannte sich das Klima, die katholische Kirche nahm Elemente der Voodoo-Musik wie Trommeln und Tänze in ihre Messen auf, während christliche Priester als père-savannes in die Voodoo-Rituale integriert wurden. Seither lebten beide Religionen in relativ friedlicher Koexistenz.

Zusammenhalt nach außen

Für die Gläubigen ist Voodoo vor allem eine Alltagsreligion, die ihnen bei der Bewältigung von Problemen und Krisenzeiten hilft. In ihren Vorstellungen gibt es eine sichtbare und eine unsichtbare Welt. Das Diesseits und das Jenseits stehen miteinander in Verbindung und darüber auch die Lebenden mit den Toten. Über Opfergaben, Anrufungen und Besessenheitszustände wird eine Verbindung zu den Geistern und Ahnen aufgenommen. Die dabei übertragene Energie soll helfen, Krankheiten zu heilen, Unglück abzuwenden oder Rat einzuholen. Die Zeremonien, Gesänge und Tänze befriedigen so emotionale, wirtschaftliche und spirituelle Bedürfnisse.

Die Voodoo-Gemeinden bilden spirituelle Großfamilien, deren Mitglieder durch gegenseitige Verantwortung und Fürsorgepflichten auch sozial miteinander verbunden sind. Auf dem Land praktizieren diese "Familien" die Rituale und Zeremonien häufig in Tempeln mit mehreren umliegenden Häusern, die von außen wie ein Bauernhof aussehen. In den Städten schließen sich die Gläubigen eher zu Bruderschaften um ein religiöses Zentrum (hounfor) zusammen. Hier übernimmt ein verantwortlicher Priester (houngan) oder eine Priesterin (mambo) die Rolle des Familienoberhaupts und leitet den Tempel. Sie sind wie "Eltern" für die anderen, initiierten Mitglieder der Familie, die "Kinder" des Hauses (hounsi). Diese sind in der Mehrzahl alleinstehende Frauen aus der Umgebung. Die houngan oder mambo kommunizieren mit den Geistern und Ahnen und bieten den hounsi Schutz und Hilfe mit ihren magischen und rituellen Kenntnissen. Daneben treten sie als Heiler auf und verwenden neben Gebeten und traditioneller Kräuter- auch westliche Medizin.

Die hounsi geben mit ihrem Eintritt in die Tempelanlage ihr bisheriges Leben auf und werden zum Medium für die Geister, die sich während den Zeremonien in ihnen manifestieren. Dies passiert selten freiwillig: Den Auserwählten erscheinen die Geister (lwa oder auch loa) im Traum oder ihr Dienst wird während der Zeremonien durch den Mund eines "Besessenen" angekündigt. Über eine rituelle Reinigung und mehrere Feuerproben wird die initiierte hounsi mit dem auserwählten lwa "vermählt". Auch die Priester werden durch das Erscheinen der Götter im Traum auserwählt. Während für sie der Beruf Status und Einkommen verspricht, werden die hounsi arm und abhängig. Sie tragen die Kosten der Zeremonien und Opfergaben und dienen dem houngan als Gegenleistung für materielle Versorgung und Schutz für den Rest ihres Lebens. Neben der Tempelpflege und dem Zubereiten der Opferspeisen können die hounsi weitere Assistentenrollen übernehmen wie Zeremonienmeister, Verwalter, Vizechefin oder Opfergaben- und Chormeister.

Ein Voodoo-Tempel umfasst als religiöses Zentrum meist verschiedene Gebäude, Räume und Symbole und sieht von außen kaum anders aus als die Nachbarhäuser. Die Gestaltung der Räumlichkeiten variiert und hängt von den finanziellen und kreativen Möglichkeiten der Priester ab. Viele Tempel sind aus Platz- oder Geldmangel nur in einem Haus untergebracht. Statt eigener Häuser für die lwa gibt es dann einen Raum mit verschiedenen Altären und rituellen Gegenständen. Die Wände und Böden sind mit Symbolzeichnungen der lwa bemalt. Auf einem Vorplatz finden die verschiedenen Tänze und Zeremonien statt. In der Mitte steht ein meist spiralförmiger und mit Ornamenten bemalter Mittelpfeiler. Über ihn steigen die Geister in die Köpfe der hounsi herab, er steht wie eine Leiter zwischen der unterirdischen Wasserheimat der lwa und dem Land der Lebenden. Die hounsi tanzen kreisend um den Pfeiler herum und rufen die lwa an. Wenn sie von den lwa besessen werden, stellen sie dies mit für den jeweiligen Geist typischen Requisiten dar: bunte Kleider, Hüte oder Stöcke. Rund um den Voodoo-Tempel stehen den Geistern gewidmete Baumaltäre, dekoriert mit Tüchern, Körben und Tierschädeln. Neben der Eingangstür steht oft ein Hocker mit Opfergaben. Er dient als Altar für den lwa legba, den Hüter der Tore.

Götterwelt und Rituale

Nach den Vorstellungen der Voodoo-Anhänger sind die Welt, die Menschen wie auch die lwa von einem Schöpfergott geschaffen worden, dem grand mèt oder bon dieu (guter Gott). Er ist die höchste Gottheit und wird als unpersönliche Kraft gesehen, die im menschlichen Dasein nicht in Erscheinung tritt. Für den Kontakt zu den Menschen hat der Schöpfergott die lwa kreiert und mit seiner Macht ausgestattet. Diese Geister leben in der mythischen Unterwasserwelt guinea, manifestieren sich in den Gläubigen während der Besessenheitszeremonien und treten in Träumen oder über Gegenstände wie Amulette in Erscheinung. Es gibt überregionale Hauptgeister (grand lwa) und viele Lokal- und Ahnengeister, Verstorbene, die je nach Familie und Tempel variieren und auch den lwa zugeordnet werden. Im Laufe der Synkretisierung mit der katholischen Religion wurden vielen lwa katholische Heilige als Entsprechung zugeteilt.

Von Geistern besessen:

Die lwa treten mit den Menschen vor allem über eine Besessenheit in Kontakt. Den Rahmen dafür bilden Zeremonien, die anlässlich von Hochzeiten der hounsi mit den lwa, Heilungsritualen oder Initiationen gefeiert werden. Mit Opfergaben und symbolischen Zeichnungen (vévé), die mit Getreide oder Schießpulver auf den Boden rund um den Mittelpfeiler gemalt werden, werden die lwa angerufen, um sie zu ehren und um Hilfestellung zu bitten. Die Zeremonie wird von Trommeln begleitet, die wesentlich zur Intensität der Gesänge und Tänze und der darauf folgenden Besessenheit beitragen. Bei der Besessenheitstrance "weicht in Extremfällen die Persönlichkeit des Besessenen der des von ihm Besitz nehmenden spirituellen Wesens bzw. wird seine Seele verdrängt".

Es gibt das Konzept der zwei Seelen im menschlichen Körper. Der grand-bon-ange (großer guter Engel) stellt die Kraft dar, die den Menschen am Leben erhält. Der petit-bon-ange (kleiner guter Engel) dient als Schutzengel in der Kindheit und wird später zur moralischen Instanz, die den Menschen im täglichen Leben schützt und lenkt. Ist die kleine Seele vertrieben, stellt sich eine Leere bei den Besessenen ein. Der lwa drückt sich nun in ihren Worten und ihrem Verhalten aus. Nach der Besessenheit können sich die hounsi nicht mehr an die erlebte Wandlung erinnern. Auch können sie für ihr Handeln im Besessenheitszustand nicht verantwortlich gemacht werden. Hat der lwa von der Person Besitz ergriffen, bringen Helferinnen seine Requisiten wie Säbel und Schwert für den Geist ogun oder Strohhut und Pfeife für den lwa zaka. Zentrale Symbole der lwa bleiben immer gleich und machen die Geister im Aussehen, Sprechen und Verhalten für die Gruppe erkennbar. Während der Besessenheit können die Gläubigen Fragen an die lwa stellen und diese direkt beantworten lassen.

Pantheon der Pedro und Rada:

Die lwa lassen sich in zwei Grundlinien mit fließenden Übergängen einordnen: Rada und Pedro. Deren Kräfte und Symbole stehen in starkem Kontrast zueinander. Die meisten aus Afrika stammenden lwa werden der Rada-Linie zugerechnet. Sie stellen die Mehrheit der lwa im Voodoo-Pantheon, dominieren auch die Zeremonien und gelten als sanftmütig und vertrauenswürdig. Die einheimischen, haitianischen Geister werden in der Regel der Pedro lwa-Linie zugeordnet. Mit dem Wort Pedro wird Gewalt und Härte assoziiert. Pedro lwa verhalten sich im Stil von Sklavenhaltern und Soldaten und drücken durch aggressives Verhalten die traditionelle Wut gegen diese aus. Sie werden um Hilfe bei der Suche nach Reichtum oder nach Schädigung anderer Personen angerufen und stehen in Verbindung zur schwarzen Magie. Dagegen werden die Rada lwa mit weißer Magie, dem Wissen um Heilung und Schutz, in Verbindung gebracht. Oft stehen die Rada lwa für ehemalige Familienmitglieder, die nach ihrem Tod zu lwa wurden und denen die Angehörigen vertrauen. Durch Tod und Aufteilung kommen regelmäßig neue lwas zum Pantheon dazu. Gläubige wechseln auch von Rada- zu Pedro-Praktiken, wenn erstere ihnen bei der Lösung ihrer Probleme nicht geholfen haben.

Schwarze und weiße Magie

Alle Rituale und Gebete drehen sich im Kern um die Konzentration von Energie und um die Stärkung bzw. Schwächung menschlicher Lebenskraft. Dafür werden die Priester von den Göttern mit besonderen Kräften ausgestattet. Über viele Jahre haben sie sich ein großes Wissen um magische Rituale angeeignet. Dieses Wissen beinhaltet heilende wie schadende Elemente, die Wirkung hängt von der Anwendung ab. Man spricht von weißer und schwarzer Magie. In der wissenschaftlichen Definition gründet sich Magie auf dem Wissen verborgener Zusammenhänge und der zweckgebundenen Anwendung dieser Kenntnisse. Übernatürliche Kräfte werden mit Hilfe spezieller Techniken manipuliert, um ein Geschehen zu beeinflussen und gewünschte Resultate zu erzielen. Die große Mehrzahl der houngan hat sich der heilenden Magie zum Wohle der Gesellschaft verschrieben. Manche Priester nutzen ihre Kenntnisse aber auch, um anderen Schaden zuzufügen. Diese werden Zauberer (bokor) genannt. Die Grenzen sind fließend, denn was einer Person helfen kann, kann einer anderen schaden.

Die Haitianer interpretieren Krankheit und Not auch als Wirken böser Mächte. Mit Hilfe von Amuletten, Talismanen oder Drogen versuchen sie sich im Alltag gegen diese Magie zu schützen. Über die Priester können die lwa um Rat gefragt und mögliche Behandlungen verordnet werden. Das können Opferfeste, rituelle Bäder oder auch die Hochzeit mit einem lwa sein. In Anwendung der weißen Magie lokalisieren die Priester die Probleme durch Wahrsagen mit Hilfe von Karten, Asche oder Kaffeesatz. Alternativ werden die lwa angerufen und sprechen aus dem Mund der Besessenen. Der houngan belegt auch Amulette und Talismane mit Magie, die den Gläubigen Schutz bieten sollen. Krankheiten wie Fieber und Malaria sollen mit Hilfe bestimmter Kräuter, Pflanzen oder auch Talismanen geheilt oder zumindest gelindert werden. Zu Schwarzmagiern gehen in der Regel die Menschen, wenn sie ein Problem haben, von dem sie glauben, es mit weißer Magie nicht lösen zu können, wie eine gefühlte Bedrohung der eigenen Familie durch fremde spirituelle Kräfte oder eine hohe finanzielle Verschuldung. Der bokor gibt ihnen einen Talisman oder bösen Geist mit, der ihnen dienen soll. Die Kosten hierfür sind teuer und die Folgen schwer einschätzbar: Denn wer sich mit dem Teufel einlässt, verkauft auch seine Seele, glauben die Haitianer.

Zu den "Zaubermitteln" der bokor gehören Stellvertreter wie die bekannten Voodoo-Puppen aus Wachs oder Stoff, die den Gegner symbolisieren. Indem Nadeln in die Puppe gestochen werden, soll der entsprechende Mensch schrittweise verletzt, krank oder sogar getötet werden. Stirbt ein Mensch, werden aufwendige Totenrituale zelebriert, um die zwei Seelen aus dem Körper zu befreien und in die Welt der Götter im Totenreich zu geleiten. Seelen, die nicht in die Geisterwelt gelangen, können von den Schwarzmagiern eingefangen und in böse Geister (zombies) verwandelt werden. Im Volksglauben gibt es zwei Arten von zombies: die körperlosen Seelen und die seelenlosen Körper. Letztere werden von den bokor nach dem Tod des Menschen wieder zum Leben erweckt. Da die Seele den Körper schon verlassen hat, dient allein der Körper als Arbeitskraft für den Magier, z.B. auf den Plantagen. Auf mythischer Ebene entspricht das dem Schicksal der ehemaligen Sklaven. Die zombies leben dem Glauben nach in einer Zwischenwelt und haben keinen eigenen Willen oder ein Gewissen.

Aneignung durch die Politik

In den vergangenen Jahrzehnten haben die schwarzmagischen Praktiken auf Haiti zugenommen. Viele Haitianer sehen darin einen Zusammenhang mit den politischen und wirtschaftlichen Krisen. Dazu haben auch die Regierungen beigetragen, die für ihren Machterhalt die Unterstützung der Voodoo-Priester suchten. François "Papa Doc" Duvalier - von 1957 bis 1971 haitianischer Präsident - baute in seiner Regierungszeit eine Geheimpolizei auf, die Tontons Macoutes, die auch aus einflussreichen houngans bestand. Die Tontons Macoutes, die außerhalb des Gesetzes standen und mit brutaler Gewalt gegen Kritiker Duvaliers vorgingen, pflegten das Selbstbild einer mit Voodoo-Kräften ausgestatteten Miliz. Mit dieser Mischung aus sozialem, religiösem und politischem Einfluss konnte Duvalier die Bevölkerung besser kontrollieren: Er nutzte die Voodoo-Netzwerke und den Glauben als identitätsstiftenden Zusammenhalt, wendete aber gleichzeitig Gewalt und "böse Zauber" an und setzte Voodoo als politisches Druckmittel ein. So kann der Mythos vom kontrollierbaren, willenlosen zombie als soziales Druckmittel verstanden werden, um unter den Voodoo-Gläubigen Angst zu schüren und Widerstand gegen die politischen Führer im Keim zu ersticken. Daneben lösen die Besessenheitsrituale des Voodoo Angst bei Außenstehenden aus, da sie die Auswirkungen von Kontrolllosigkeit zeigen.

Doch die Gläubigen nutzen Voodoo auch als Mittel des Widerstands: So führte während der Sklavenzeit die Zeremonie von Bois Caïman zum Zusammenschluss und anschließender Revolution der Unterdrückten und zur Unabhängigkeit von Frankreich. Die Priester verstehen sich auch als Mittler zwischen den Gläubigen und der politischen Elite: Laut einheimischen Zeitungsberichten war es ein Zusammenschluss von houngan, die Jean-Claude "Baby Doc" Duvalier - Sohn und Nachfolger François Duvaliers - im Jahr 1986 zur Abdankung brachten. Auch der ehemalige Präsident Haitis Jean-Bertrand Aristide war Priester und kam aus der Voodoo-Bewegung.

Voodoo für das Volk

Trotz der vielen Krisen und großer Armut im Land bleibt Voodoo fester Bestandteil des haitianischen Alltags. Die Religion bietet Magie für Arme wie Reiche, passt sich immer wieder flexibel den aktuellen Herausforderungen an und ist durchlässig für andere religiösen Einflüsse. Die ständige Anpassung und Flexibilität hat es den Haitianern ermöglicht, mit ihrem Glauben während und nach der Kolonialzeit zu überleben und das eigene Erbe zu erhalten. Die Geister und Ahnen werden als Teil der eigenen und gesellschaftlichen Vergangenheit gepflegt und geben im Alltag Rat und Unterstützung. Aber es sind auch Veränderungen in der Ausführung des Glaubens sichtbar. Da die Armut hoch ist, werden viele Zeremonien nicht mehr so aufwendig gefeiert wie früher. Auch werden einige Rituale als Einnahmequelle für Touristen zugänglich gemacht.

Seit den 1950er Jahren ist etwa ein Fünftel der Bevölkerung Haitis ausgewandert, die meisten in die USA. Die Auswanderer nehmen ihre Religion mit, da die Familienbünde rund um Geister und Tempel auch im Ausland Zusammenhalt bieten. Dort wiederum mischt sich der Voodoo mit den Glaubensrichtungen anderer Einwanderer, wie Spiritismus oder Santería, und es entstehen neue Ausprägungen wie der Hoodoo in New Orleans. So bewegt sich der Voodoo-Glaube mit seinen Anhängern weiter und bleibt auch in Krisenzeiten ihr Begleiter.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. "Diese Leute sind schuld an dem Beben", online: www.stern.de/panorama/voodoo-jagd-auf-haiti-diese-leute-sind-schuld-an-dem-beben-1546132.html (19.5.2010).

  2. Vgl. Manfred Kremser, Ay Bobo. Afro-Karibische Religionen, Wien 1996, S. 9.

  3. Vgl. Rolf Italiaander, Schwarze Magie - Magie der Schwarzen: mehr als schwarze Magie, Freiburg 1983, S. 18.

  4. Vgl. Edmund W. Davis, Passage of darkness. The ethnobiology of the Haitian Zombie, North Carolina 1988, S. 291; Ursula Siebert, Die Standortgebundenheit von ethnographischen Darstellungen am Beispiel des haitianischen Vaudou, Bonn 1990, S. 3f.

  5. Vgl. Astrid Reuter, Voodoo und andere afroamerikanische Religionen, München 2003, S. 35.

  6. Vgl. Alfred Métraux, Voodoo in Haiti, Gifkendorf 1994, S. 29f.

  7. Vgl. U. Siebert (Anm. 4), S. 20.

  8. Vgl. Angelina Pollak-Eltz, Trommel und Trance: die afroamerikanischen Religionen, Wien-Basel 1995, S. 44 und S. 12.

  9. Vgl. ebd., S. 12ff.

  10. Vgl. A. Métraux (Anm. 6), S. 66ff.

  11. Vgl. A. Pollak-Eltz (Anm. 8), S. 52.

  12. Vgl. A. Reuter (Anm. 5), S. 33ff.

  13. Vgl. A. Métraux (Anm. 6), S. 83ff.

  14. Vgl. ebd., S. 136ff.

  15. Muna Nabhan, Besessenheit, in: Wörterbuch der Völkerkunde. Begründet von Walter Hirschberg, Berlin 1999, S. 47. Die Voodoo-Anhänger glauben, dass sich der lwa im Kopf der besessenen Person niederlässt, sie besteigt, als Pferd reitet und damit ihr Verhalten kontrolliert. Die Besessene schert aus der Reihe der Tänzer aus, dreht sich um die eigene Achse, zuckt, taumelt, verändert ihre Gesichtszüge und springt unkontrolliert durch die Gegend.

  16. Vgl. A. Reuter (Anm. 5), S. 43f.

  17. Vgl. Karen McCarthy Brown, Systematic Remembering, Systematic Forgetting: Ogun in Haiti in Africa's Ogun, Indiana 1989, S. 70ff.

  18. Vgl. A. Pollak-Eltz (Anm. 8), S. 17 und S. 28.

  19. Vgl. Roland Mischung, Magie, in: Wörterbuch der Völkerkunde, Berlin 1999, S. 239f.

  20. Vgl. A. Reuter (Anm. 5), S. 52.

  21. Vgl. Harold Courlander, The Drum and the Hoe. Life and Lore of the Haitian People, Berkeley-Los Angeles 1960, S. 100.

  22. Vgl. A. Reuter (Anm. 5), S. 53.

  23. Vgl. A. Métraux (Anm. 6), S. 326.

  24. Vgl. M. Kremser (Anm. 2), S. 116f.

  25. Vgl. A. Pollak-Eltz (Anm. 8), S. 13; M. Kremser (Anm. 2), S. 163ff.

  26. Vgl. E.W. Davis (Anm. 4), S. 288ff.

M.A., geb. 1974; freie Journalistin und Ethnologin, lebt in Hamburg. E-Mail Link: indigena@gmx.de