Einleitung
Haiti kommt nicht zur Ruhe. Seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1804 und den USA im Jahr 1934 blutete die einst reiche Kolonie zu einem der ärmsten Länder der westlichen Welt aus. Die Infrastruktur ist unterentwickelt, viele Einwohner müssen mit weniger als zwei Dollar am Tag überleben. Die Arbeitslosigkeit ist erdrückend. Wer kann, wandert aus. Nach Kolonialherrschaft, Naturkatastrophen und diktatorischen Regierungen liegt die Wirtschaft der karibischen Insel auch nach dem Erdbeben im Januar 2010 wieder am Boden. Hunderttausende Menschen verloren dabei ihr Leben, Millionen ihre Unterkunft. Baptistische Pastoren, die im Zuge der Wiederaufbauhilfe ins Land kamen, gaben den Voodoo-Anhängern eine Mitschuld an der jüngsten Katastrophe.
Voodoo als kraftspendendes Element
Voodoo - in den westafrikanischen Kwa-Sprachen Ewe und Fon bedeutet dies "Gottheit" oder "Geist" - ist eine pragmatische Religion, deren Anhänger an ein System von Geistern glauben, die ihnen Hilfe und Unterstützung im Lebensalltag gewähren.
Im Voodoo-Glauben vereinigen sich religiöse Vorstellungen und Riten westafrikanischer Ursprungsreligionen wie der Yoruba-Religion mit Praktiken christlicher Religionen wie dem Katholizismus, die im Laufe der Kolonialzeit integriert wurden.
Für die Haitianer spielte Voodoo schon immer eine wichtige Rolle, seit der Kolonialzeit, als Millionen Afrikaner aus der westafrikanischen Goldküste (wie Nigeria oder Benin) von ihren Regierungen verkauft und im 18. Jahrhundert auf die von den Europäern eroberten karibischen Inseln verschifft wurden. Dort arbeiteten sie als Sklaven auf Zuckerrohr- und Baumwollplantagen. Wer überlebte, hielt auch an seinem mitgebrachten Glauben fest: Die Sklaven trafen sich nach der Arbeit, um ihre Rituale zu feiern, zu trommeln und zu singen. Dies stärkte neben dem Glauben auch ihren sozialen Zusammenhalt und den Widerstand gegen die Unterdrückung durch die Kolonialherren.
Auch bei dem Aufstand der Sklaven (1791-1804), der zur Unabhängigkeit Haitis von Frankreich führte, spielte der Voodoo als kraftspendendes Element eine wichtige Rolle. Aber bereits 1860 kehrten katholische Missionare über ein Konkordat auf die Insel zurück und starteten umfassende Kampagnen zur Zurückdrängung des Voodoo. Mit Polizeigeleit und der Unterstützung ehemaliger Voodoo-Anhänger zogen die Missionare über die Dörfer, verbrannten rituelle Gegenstände und verboten die Zusammenkünfte.
Zusammenhalt nach außen
Für die Gläubigen ist Voodoo vor allem eine Alltagsreligion, die ihnen bei der Bewältigung von Problemen und Krisenzeiten hilft. In ihren Vorstellungen gibt es eine sichtbare und eine unsichtbare Welt. Das Diesseits und das Jenseits stehen miteinander in Verbindung und darüber auch die Lebenden mit den Toten. Über Opfergaben, Anrufungen und Besessenheitszustände wird eine Verbindung zu den Geistern und Ahnen aufgenommen. Die dabei übertragene Energie soll helfen, Krankheiten zu heilen, Unglück abzuwenden oder Rat einzuholen. Die Zeremonien, Gesänge und Tänze befriedigen so emotionale, wirtschaftliche und spirituelle Bedürfnisse.
Die Voodoo-Gemeinden bilden spirituelle Großfamilien, deren Mitglieder durch gegenseitige Verantwortung und Fürsorgepflichten auch sozial miteinander verbunden sind. Auf dem Land praktizieren diese "Familien" die Rituale und Zeremonien häufig in Tempeln mit mehreren umliegenden Häusern, die von außen wie ein Bauernhof aussehen. In den Städten schließen sich die Gläubigen eher zu Bruderschaften um ein religiöses Zentrum (hounfor) zusammen. Hier übernimmt ein verantwortlicher Priester (houngan) oder eine Priesterin (mambo) die Rolle des Familienoberhaupts und leitet den Tempel. Sie sind wie "Eltern" für die anderen, initiierten Mitglieder der Familie, die "Kinder" des Hauses (hounsi). Diese sind in der Mehrzahl alleinstehende Frauen aus der Umgebung. Die houngan oder mambo kommunizieren mit den Geistern und Ahnen und bieten den hounsi Schutz und Hilfe mit ihren magischen und rituellen Kenntnissen. Daneben treten sie als Heiler auf und verwenden neben Gebeten und traditioneller Kräuter- auch westliche Medizin.
Die hounsi geben mit ihrem Eintritt in die Tempelanlage ihr bisheriges Leben auf und werden zum Medium für die Geister, die sich während den Zeremonien in ihnen manifestieren. Dies passiert selten freiwillig: Den Auserwählten erscheinen die Geister (lwa oder auch loa) im Traum oder ihr Dienst wird während der Zeremonien durch den Mund eines "Besessenen" angekündigt.
Ein Voodoo-Tempel umfasst als religiöses Zentrum meist verschiedene Gebäude, Räume und Symbole und sieht von außen kaum anders aus als die Nachbarhäuser. Die Gestaltung der Räumlichkeiten variiert und hängt von den finanziellen und kreativen Möglichkeiten der Priester ab. Viele Tempel sind aus Platz- oder Geldmangel nur in einem Haus untergebracht. Statt eigener Häuser für die lwa gibt es dann einen Raum mit verschiedenen Altären und rituellen Gegenständen.
Götterwelt und Rituale
Nach den Vorstellungen der Voodoo-Anhänger sind die Welt, die Menschen wie auch die lwa von einem Schöpfergott geschaffen worden, dem grand mèt oder bon dieu (guter Gott). Er ist die höchste Gottheit und wird als unpersönliche Kraft gesehen, die im menschlichen Dasein nicht in Erscheinung tritt. Für den Kontakt zu den Menschen hat der Schöpfergott die lwa kreiert und mit seiner Macht ausgestattet. Diese Geister leben in der mythischen Unterwasserwelt guinea, manifestieren sich in den Gläubigen während der Besessenheitszeremonien und treten in Träumen oder über Gegenstände wie Amulette in Erscheinung. Es gibt überregionale Hauptgeister (grand lwa) und viele Lokal- und Ahnengeister, Verstorbene, die je nach Familie und Tempel variieren und auch den lwa zugeordnet werden. Im Laufe der Synkretisierung mit der katholischen Religion wurden vielen lwa katholische Heilige als Entsprechung zugeteilt.
Von Geistern besessen:
Die lwa treten mit den Menschen vor allem über eine Besessenheit in Kontakt. Den Rahmen dafür bilden Zeremonien, die anlässlich von Hochzeiten der hounsi mit den lwa, Heilungsritualen oder Initiationen gefeiert werden. Mit Opfergaben und symbolischen Zeichnungen (vévé), die mit Getreide oder Schießpulver auf den Boden rund um den Mittelpfeiler gemalt werden, werden die lwa angerufen, um sie zu ehren und um Hilfestellung zu bitten. Die Zeremonie wird von Trommeln begleitet, die wesentlich zur Intensität der Gesänge und Tänze und der darauf folgenden Besessenheit beitragen.
Es gibt das Konzept der zwei Seelen im menschlichen Körper. Der grand-bon-ange (großer guter Engel) stellt die Kraft dar, die den Menschen am Leben erhält. Der petit-bon-ange (kleiner guter Engel) dient als Schutzengel in der Kindheit und wird später zur moralischen Instanz, die den Menschen im täglichen Leben schützt und lenkt. Ist die kleine Seele vertrieben, stellt sich eine Leere bei den Besessenen ein. Der lwa drückt sich nun in ihren Worten und ihrem Verhalten aus. Nach der Besessenheit können sich die hounsi nicht mehr an die erlebte Wandlung erinnern. Auch können sie für ihr Handeln im Besessenheitszustand nicht verantwortlich gemacht werden.
Pantheon der Pedro und Rada:
Die lwa lassen sich in zwei Grundlinien mit fließenden Übergängen einordnen: Rada und Pedro. Deren Kräfte und Symbole stehen in starkem Kontrast zueinander. Die meisten aus Afrika stammenden lwa werden der Rada-Linie zugerechnet. Sie stellen die Mehrheit der lwa im Voodoo-Pantheon, dominieren auch die Zeremonien und gelten als sanftmütig und vertrauenswürdig. Die einheimischen, haitianischen Geister werden in der Regel der Pedro lwa-Linie zugeordnet. Mit dem Wort Pedro wird Gewalt und Härte assoziiert. Pedro lwa verhalten sich im Stil von Sklavenhaltern und Soldaten und drücken durch aggressives Verhalten die traditionelle Wut gegen diese aus. Sie werden um Hilfe bei der Suche nach Reichtum oder nach Schädigung anderer Personen angerufen und stehen in Verbindung zur schwarzen Magie. Dagegen werden die Rada lwa mit weißer Magie, dem Wissen um Heilung und Schutz, in Verbindung gebracht. Oft stehen die Rada lwa für ehemalige Familienmitglieder, die nach ihrem Tod zu lwa wurden und denen die Angehörigen vertrauen.
Schwarze und weiße Magie
Alle Rituale und Gebete drehen sich im Kern um die Konzentration von Energie und um die Stärkung bzw. Schwächung menschlicher Lebenskraft. Dafür werden die Priester von den Göttern mit besonderen Kräften ausgestattet. Über viele Jahre haben sie sich ein großes Wissen um magische Rituale angeeignet. Dieses Wissen beinhaltet heilende wie schadende Elemente, die Wirkung hängt von der Anwendung ab. Man spricht von weißer und schwarzer Magie. In der wissenschaftlichen Definition gründet sich Magie auf dem Wissen verborgener Zusammenhänge und der zweckgebundenen Anwendung dieser Kenntnisse.
Die Haitianer interpretieren Krankheit und Not auch als Wirken böser Mächte. Mit Hilfe von Amuletten, Talismanen oder Drogen versuchen sie sich im Alltag gegen diese Magie zu schützen. Über die Priester können die lwa um Rat gefragt und mögliche Behandlungen verordnet werden. Das können Opferfeste, rituelle Bäder oder auch die Hochzeit mit einem lwa sein.
Zu den "Zaubermitteln" der bokor gehören Stellvertreter wie die bekannten Voodoo-Puppen aus Wachs oder Stoff, die den Gegner symbolisieren. Indem Nadeln in die Puppe gestochen werden, soll der entsprechende Mensch schrittweise verletzt, krank oder sogar getötet werden. Stirbt ein Mensch, werden aufwendige Totenrituale zelebriert, um die zwei Seelen aus dem Körper zu befreien und in die Welt der Götter im Totenreich zu geleiten. Seelen, die nicht in die Geisterwelt gelangen, können von den Schwarzmagiern eingefangen und in böse Geister (zombies) verwandelt werden. Im Volksglauben gibt es zwei Arten von zombies: die körperlosen Seelen und die seelenlosen Körper.
Aneignung durch die Politik
In den vergangenen Jahrzehnten haben die schwarzmagischen Praktiken auf Haiti zugenommen. Viele Haitianer sehen darin einen Zusammenhang mit den politischen und wirtschaftlichen Krisen.
Doch die Gläubigen nutzen Voodoo auch als Mittel des Widerstands: So führte während der Sklavenzeit die Zeremonie von Bois Caïman zum Zusammenschluss und anschließender Revolution der Unterdrückten und zur Unabhängigkeit von Frankreich. Die Priester verstehen sich auch als Mittler zwischen den Gläubigen und der politischen Elite: Laut einheimischen Zeitungsberichten war es ein Zusammenschluss von houngan, die Jean-Claude "Baby Doc" Duvalier - Sohn und Nachfolger François Duvaliers - im Jahr 1986 zur Abdankung brachten.
Voodoo für das Volk
Trotz der vielen Krisen und großer Armut im Land bleibt Voodoo fester Bestandteil des haitianischen Alltags. Die Religion bietet Magie für Arme wie Reiche, passt sich immer wieder flexibel den aktuellen Herausforderungen an und ist durchlässig für andere religiösen Einflüsse. Die ständige Anpassung und Flexibilität hat es den Haitianern ermöglicht, mit ihrem Glauben während und nach der Kolonialzeit zu überleben und das eigene Erbe zu erhalten. Die Geister und Ahnen werden als Teil der eigenen und gesellschaftlichen Vergangenheit gepflegt und geben im Alltag Rat und Unterstützung. Aber es sind auch Veränderungen in der Ausführung des Glaubens sichtbar. Da die Armut hoch ist, werden viele Zeremonien nicht mehr so aufwendig gefeiert wie früher. Auch werden einige Rituale als Einnahmequelle für Touristen zugänglich gemacht.
Seit den 1950er Jahren ist etwa ein Fünftel der Bevölkerung Haitis ausgewandert, die meisten in die USA. Die Auswanderer nehmen ihre Religion mit, da die Familienbünde rund um Geister und Tempel auch im Ausland Zusammenhalt bieten. Dort wiederum mischt sich der Voodoo mit den Glaubensrichtungen anderer Einwanderer, wie Spiritismus oder Santería, und es entstehen neue Ausprägungen wie der Hoodoo in New Orleans. So bewegt sich der Voodoo-Glaube mit seinen Anhängern weiter und bleibt auch in Krisenzeiten ihr Begleiter.