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Wiederaufbau nach dem Erdbeben - Perspektiven für Haiti | Haiti | bpb.de

Haiti Editorial Als die Möbel "zu tanzen begannen" - Szenen aus Haiti Wiederaufbau nach dem Erdbeben - Perspektiven für Haiti Haiti - Die "erste schwarze Republik" und ihr koloniales Erbe Voodoo für das haitianische Volk "Sak vid pa kanpe" - Die Zerbrechlichkeit des haitianischen Staates und die Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen Nachhaltige Entwicklung durch Tourismus? Was kann Haiti von der Dominikanischen Republik lernen? Herausforderungen für die Jugend in Haiti - Essay

Wiederaufbau nach dem Erdbeben - Perspektiven für Haiti

Jürgen Pohl

/ 15 Minuten zu lesen

Das Erdbeben erfasste den strukturell instabilen Karibikstaat mit bisher kaum gekannter Intensität. Fehlende Bewältigungsstrategien, soziokulturelle und ökonomische Rahmenbedingungen machen den Wiederaufbau langwierig.

Einleitung

Am 12. Januar 2010 ereignete sich einige Kilometer südwestlich der Hauptstadt Port-au-Prince ein Erdbeben mit der Stärke M 7,0 auf der Richterskala. Ihm folgten mehr als zehn schwere Nachbeben. Dieses Erdbeben gilt als das stärkste in der gesamten karibischen Region seit 200 Jahren. Mit einer Tiefe von etwa zehn Kilometern lag das Hypozentrum, der Bebenherd, relativ nah an der Erdoberfläche. Ungefähr 20 Kilometer westlich der Hauptstadt, bei Léogâne wurde das Epizentrum lokalisiert (Abbildung 1). Allein Léogâne gilt als zu 80 Prozent zerstört. Für die Metropolregion Port-au-Prince sind absolut gesehen die größten Schäden zu verzeichnen. Die Auswirkungen des Bebens waren jedoch in allen Regionen Haitis zu spüren.

Haiti als Erdbebenregion

Gemessen werden Erdbeben geophysikalisch auf der logarithmischen Richterskala, welche sich auf die Magnitude der Wellen bezieht, sowie anhand der Mercalli-Skala, welche die Intensität der Einwirkung und damit den Grad der Betroffenheit der Schutzgüter misst. Die Erdbebenauswirkung nach Mercalli traf Port-au-Prince mit der Stärke X+. "X" bedeutet auf der zwölfteiligen Skala "vernichtend". Auch dieser Wert verdeutlicht die enorme Schwere des Erdbebens. Das Beben ist an der Kollisionszone tektonischer Plattenränder entstanden. Die nordamerikanische Platte driftet nach Westen, die Karibische Platte nach Osten. Sie bewegen sich somit gegenläufig, was als Transformstörung bezeichnet wird. An der Enriquillo-Verwerfung, einer der Störungszonen, befindet sich auch das Epizentrum des Erdbebens. Beim Beben vom 12. Januar waren die Bruchflächen bis zu 30 Kilometer lang, die Verschiebungsbeträge betrugen etwa fünf Meter. Hispaniola, mit Haiti im Westen und der Dominikanischen Republik im Osten der Insel, liegt mitten auf dieser tektonischen Spannungszone und wurde seit dem Jahr 1564 schon über ein Dutzend mal von starken Erdbeben erfasst (vgl. Tabelle 1 in der PDF-Version).

Erdbeben entstehen durch plötzliche Freisetzung mechanischer Energie, die sich im Erdinneren akkumulierte. Sie führt an der Erdoberfläche zu Bruch- und Versatzvorgängen, die wiederum Gestein aufbrechen bzw. verschieben. Die Schadenswirkung von Erdbeben geht primär von der mechanischen Kraft der Bewegung an der Erdoberfläche aus. Das Schadenspotenzial für materielle Sachgüter ist enorm. Dabei sind sowohl Gewerbe- und Wohngebäude wie auch Infrastruktureinrichtungen (wie Straßen, Energie- und Wasserversorgung) betroffen, insbesondere Baukörper ohne ausreichende antiseismische Armierung sind gefährdet. Herabfallende Bauteile bedrohen dann Menschen und Tiere. In Haiti war dies der größte Zerstörungsfaktor. Hinzu kommen Produktions- und Nutzungsausfälle durch unterbrochene Verkehrswege oder Ver- bzw. Entsorgungsleitungen. Bei großflächiger Zerstörung sind auch eine Versorgungsgefährdung und der Ausbruch von Krankheiten denkbar.

Verlässliche Erdbebenvorhersage ist ein bis heute ungelöstes Forschungsproblem. Vorläuferphänomene sind nicht zu identifizieren, denn eine präzise Angabe von Ort, Zeit und Stärke im Vorfeld von Erdbeben ist nicht möglich. Schon im September 2008 allerdings war in der Zeitung Le Matin Haiti ein Artikel mit der Überschrift "Gefahr einer Naturkatastrophe" erschienen. Geologen skizzierten dort die akute Gefährdungslage durch ein starkes Erdbeben in der Region Port-au-Prince. Sie verwiesen darauf, dass schon in den Jahren 1751 und 1770 die Stadt komplett durch Erdbeben zerstört worden sei. Die geringe seismische Aktivität in den vergangenen Dekaden kann mit ein Grund dafür sein, dass sich Haiti so unzureichend auf ein mögliches neues Beben vorbereitet hat.

Schäden durch Naturkatastrophen

Erdbeben sind keineswegs die einzigen Naturgefahren, die Haiti bedrohen. Allein im Jahr 2008 war Haiti von vier schweren Hurrikans betroffen. Das Erdbeben von 2010 sprengt allerdings alle bisher erfassten Dimensionen von Naturkatastrophen in Haiti (vgl. Tabelle 2 in der PDF-Version). Die Einwohner Haitis empfinden die Situation als umso tragischer, da innerhalb der vergangenen drei Jahre eine Zunahme der sozialen und politischen Stabilität sowie ein konjunktureller Aufschwung und auch eine Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen zu verzeichnen war. Somit bedeutete das Erdbeben einen enormen Dämpfer für eine zaghafte Aufwärtsbewegung.

Etwa drei Millionen Einwohner sind direkt von dem Erdbeben betroffen, nach aktuellen Schätzungen wurden bis zu 230.000 Menschen getötet und über 300.000 verletzt; 1,3 Millionen Haitianer wurden obdachlos. 500.000 Menschen haben das Katastrophengebiet verlassen und suchten Zuflucht in den ländlich geprägten Regionen der Peripherie. Über 100.000 Wohngebäude wurden vollständig zerstört, mehr als 200.000 wurden stark beschädigt. Etwa 1.300 Bildungseinrichtungen und mehr als 50 Krankenhäuser und Gesundheitszentren sind zerstört oder nur noch eingeschränkt nutzbar. Neben dem Flughafen war auch der wichtigste Hafen des Landes in Port-au-Prince aufgrund der Zerstörungen mittelfristig nicht funktionsfähig. Zudem sind auch politische Institutionen betroffen gewesen: Der Präsidentenpalast, das Parlament, zahlreiche Gerichtsgebäude, die meisten Ministerien und öffentlichen Verwaltungseinrichtungen wurden weitgehend zerstört. Der materielle Wert der zerstörten Infrastruktur wird auf 4,3 Milliarden US-Dollar geschätzt. Verluste von 3,6 Milliarden US-Dollar könnten durch die Auswirkungen des Bebens auf die Regionalwirtschaft entstehen, beispielsweise durch Produktionsausfall, Arbeitsplatzverluste, erhöhte Produktionskosten und fehlende Infrastruktur. Insgesamt werden Schäden in Höhe von 7,9 Milliarden Dollar bilanziert. Das entspricht etwa der Höhe des haitianischen Bruttoinlandsproduktes (BIP) im Jahr 2009. Mehr als 70 Prozent der Schäden sind im privaten Sektor entstanden. Als Folge des Bebens wird ein Anstieg der Arbeitslosigkeit von über 8,5 Prozent prognostiziert. Dabei gelten die Sektoren Tourismus, Kommunikation, Handel und Logistik als besonders betroffen.

Der Wiederaufbau wird mit hohen finanziellen Belastungen verbunden sein. Von der haitianischen Regierung wird ein Gesamtbedarf an finanziellen Mitteln von 11,5 Milliarden US-Dollar prognostiziert. Dieser setzt sich wie folgt zusammen: 48 Prozent für den Sozialsektor, 17 Prozent für Infrastruktur, 15 Prozent für Umwelt und Risiko- bzw. Katastrophenmanagement, 9 Prozent im Produktionssektor, 7 Prozent Regierung/Staat und 4 Prozent Sonstiges (wie direkte Stützung des Arbeitsmarktes). Der Bedarf wurde dabei über eine Schätzung in Teilbereichen von acht verschiedenen Themenbereichen ermittelt. Als vordringliche Aufgabe wird die Unterbringung der 218.000 allein in Port-au-Prince in Behelfsunterkünften lebenden Flüchtlinge in festen Behausungen genannt.

Rahmenbedingungen für den Wiederaufbau und Strukturbedingungen in Haiti

Allein das Naturereignis "Erdbeben" kann noch nicht die Katastrophe erklären, welche sich in Haiti ereignet hat. Die besonders hohe gesellschaftliche Verwundbarkeit (Vulnerabilität) Haitis vervielfacht das Ausmaß der Katastrophe. Strukturell und langfristig beruht diese auf der schwierigen geschichtlichen Entwicklung des Landes in den vergangenen 200 Jahren. Als ein aktueller Hauptfaktor kann auch die fehlgeleitete oder nicht vorhandene Stadt- und Regionalentwicklungsplanung angesehen werden. Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung, zwei Drittel des Bruttoinlandsprodukts und 85 Prozent der Steuereinnahmen konzentrieren sich auf die Metropolregion Port-au-Prince. Haitis hohe städtische Bevölkerungsdichte, gekoppelt mit der Verbreitung von Gebäuden, welche die Konstruktionsanforderungen gegenüber Erdbeben nicht erfüllen, sowie die allgemeine Fragilität der Infrastruktur erhöhten ebenfalls die Vulnerabilität. Zudem wurde die Unerfahrenheit im Risikomanagement deutlich, denn die haitianische Regierung war unter anderem durch das Fehlen und den Verlust von Personal und Gerät mit den organisatorischen Abläufen überfordert und gerade in den ersten Wochen nach der Katastrophe nahezu handlungsunfähig.

Die Verwundbarkeit Haitis ist auch aus anderen Gründen groß. So ist Haitis ökologische Lage geradezu prekär. In Haiti ist der Prozess der Entwaldung so weit fortgeschritten, dass nur noch zwei Prozent der Landoberfläche von Wäldern bedeckt ist - damit wird das Risiko für die ohnehin für Überflutungen anfällige Metropolregion Port-au-Prince erhöht. Zusätzlich zu dieser environmental vulnerability sind auch gesellschaftliche Faktoren, politische Instabilität sowie rasch voranschreitende Urbanisierung zu nennen; hierdurch werden die Katastrophenauswirkungen, die soziale Vulnerabilität, weiter verschärft.

Schon vor dem Beben mussten zwei Drittel der haitianischen Bevölkerung von weniger als zwei US-Dollar am Tag leben, 80 Prozent gelten als unterernährt. Die Hälfte der Einwohner Haitis ist jünger als 18 Jahre. Alle Indikatoren zum sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsstand wiesen Haiti schon vor der Katastrophe als failed state aus, als gescheiterten Staat. Durch das Beben wurden bestehende Missstände noch verschärft, allein der Zugang zu Nahrungsmitteln und sauberem Trinkwasser kam zeitweise völlig zum Erliegen. Da mit Port-au-Prince das soziale, kulturelle, ökonomische und politisch-administrative Zentrum Haitis am stärksten von den Auswirkungen der Katastrophe betroffen ist, war der Effekt auf den öffentlichen und privaten Sektor, aber auch auf die institutionellen Kapazitäten, bedeutend größer.

Planungsstrategien

Die Handlungsfähigkeit der Regierung und die Funktionsfähigkeit der sozialen Infrastruktur wurden durch den Verlust von Personal und Einrichtungen stark beeinträchtigt. Die Verluste von Krankenhäusern, Polizeiwachen, Schulen, Universitäten, Ministerien und Kirchen hemmen die Bemühungen um Soforthilfe, Sicherheit und Wiederaufbau. Außerdem erschwerten die Zerstörung des UN-Hauptquartiers und der Verlust der Führungsebene der UN-Stabilisierungsmission (United Nations Stabilization Mission in Haiti, MINUSTAH) die Koordination der Hilfsmaßnahmen in besonderer Form.

Gerade in unterentwickelten Ländern bewegen meist erst schwere Katastrophen Gesellschaft und Regierung dazu, Institutionen und Instrumente zum Risikomanagement zu etablieren. Mit zunehmender zeitlicher Distanz zur Katastrophe lässt dieser Wille allerdings oft wieder nach. Aus einer langfristigen, planerischen Perspektive heraus kann das Beben dazu genutzt werden, um ein größeres öffentliches und politisches Bewusstsein für Naturrisiken und deren Folgen bzw. der Bedeutung umfassender Vorsorgemaßnahmen zur Risikominimierung zu schaffen. Dabei ist die Reduktion des Risikos künftiger Katastrophen als integraler Bestandteil der Wiederaufbauplanung zu bezeichnen. Das Leitbild building back better impliziert, dass nicht der Status quo ante das Kernziel sein sollte, sondern eine Verringerung der Vulnerabilität im Kontext von Katastrophen anzustreben ist. In zahlreichen Fällen konzentriert sich die Wiederaufbauhilfe jedoch zu sehr auf unmittelbare humanitäre und monetäre Hilfe und nicht auf die Veränderung der Rahmenbedingungen, welche die Katastrophe eine entsprechend starke Wirkung entfalten ließen. Neben der Rekonstruktion der materiellen Infrastruktur gilt es aber vor allem, auch die individuellen livelihoods wiederherzustellen, welche eine nachhaltige Existenzsicherung ermöglichen.

Für eine Wiederaufbauplanung ist die Problemlage in Haiti sehr komplex und mit großen Unsicherheiten behaftet. Allein durch den massiven Umfang an Personen- und Sachschäden sind Wiederaufbaustrategien und deren Perspektiven differenziert abzuwägen. Schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist abzusehen, dass die Aufmerksamkeit, welche Haiti durch die Naturkatastrophe erlangt hat, die langfristige Entwicklung des Staates beeinflussen wird. Dabei muss die Hilfe einen realistischen zeitlichen Rahmen einnehmen. Wiederaufbauhilfe muss mehr als eine Reaktion, "ein Reflex auf die Notsituation" sein, sondern auch soziodemographische und raumstrukturelle Charakteristika mit einbeziehen und aktive Prävention durchsetzen. Die Einbindung der lokalen Bevölkerung beim Planungs- und Entscheidungsprozess ist dabei von großer Bedeutung, insbesondere bei Vorbereitung und Evaluation der Hilfsmaßnahmen.

Katastrophenzyklus und Wiederaufbauphasen

In der Risikoforschung werden verschiedene Phasen im Zusammenhang eines katastrophalen Ereignisses unterschieden: preparation (Vorbereitung), response (Reaktion), recovery (Erholung) und mitigation (Vorsorge) (vgl. Abbildung 2 in der PDF-Version).

Da Übergänge zwischen den einzelnen Phasen nicht eindeutig zu identifizieren sind, wird das Risiko- bzw. Katastrophenmanagement als Kreislauf dargestellt, welcher durch die Katastrophe als zentrales Ereignis ausgelöst wird. Die im Kreislaufmodell dargestellten Prozesse laufen auf unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Skalen ab. Im Sinne einer aktiven Prävention würde der Zyklus idealerweise vor der eigentlichen Katastrophe beginnen. Nach einer Faustformel werden vier Phasen des Wiederaufbaus in der Planung unterschieden, die im Prinzip ebenfalls zeitlich gesehen aufeinander folgen. Sie lassen sich grundsätzlich auch auf Haiti übertragen.

Die unmittelbare Nothilfe (etwa 2 Wochen):

Sie ist als erste Phase gekennzeichnet durch die Bergung der Toten, Rettung der Verletzten und Bedrohten, Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser sowie medizinische Nothilfe, die Errichtung von Notunterkünften und die Aufrechterhaltung der Sicherheit - gerade im Bezug auf Plünderungen und Kinderhandel. Die Schwere der Katastrophe in Haiti wird unter anderem daran sichtbar, dass diese Phase dort deutlich länger dauerte.

Die Wiederherstellung provisorischer Lebensverhältnisse (etwa 20 Wochen):

Hier geht es in erster Linie darum, Unterkünfte für Obdachlose zu schaffen, den Zugang zu Bildungseinrichtungen zu ermöglichen sowie in der Karibik die Vorbereitung auf die Hurrikansaison im Sommer zu initiieren. Ein weiteres Ziel für Haiti ist die Wiederherstellung des wirtschaftlichen Lebens, vor allem durch ein ausreichendes Arbeitsplatzangebot. Dabei gilt es auch, den Finanzsektor wieder zu stabilisieren und den Zugang zu Krediten zu gewährleisten, welche gerade in der Phase des Wiederaufbaus eine Basis für die Reorganisation darstellen. Schon in dieser Phase ist es nötig, Ziele und Planungen für neue Entwicklungsstrategien festzusetzen. Zudem sollten Handlungsanweisungen für die Neuverteilung der "vertriebenen" Bevölkerung etabliert werden, um die intraregionale Migration zu lenken. Die zweite Phase des Wiederaufbaus wird in Haiti voraussichtlich wesentlich länger andauern als die häufig postulierten 20 Wochen.

Wiederaufbau I:

Diese erste "Realisierungsphase" (Implementationsphase) umfasst in der Regel eine Zeitspanne von bis zu zwei Jahren nach der Katastrophe. Innerhalb dieser Phase sollten Projekte initiiert werden, welche Anreize für private Investitionen für Haitis ökonomische Entwicklung bieten, verbunden auch mit rechtlichen Rahmenbedingungen, welche Missbrauch unterbinden. Private Investitionen in die Volkswirtschaft Haitis sowie der Sozialsektor bilden die Basis für den Wiederaufbau. Neben den finanziellen Zusagen der Geberländer muss der Privatsektor unterstützt werden, damit dieser weiterhin die Stütze der Wirtschaft bleiben kann. Allein für diese Phase, die ersten zwei Jahre, sind 3,1 Milliarden US-Dollar zugesichert. Mit mehr als 1,2 Milliarden US-Dollar tragen private Akteure wie Privatpersonen und Nichtregierungsorganisationen fast 40 Prozent des bisherigen finanziellen Soforthilfevolumens. Die USA stellen mit über einer Milliarde US-Dollar etwa ein Drittel der finanziellen Hilfe und nehmen zudem bei der Koordination der Hilfsmaßnahmen eine zentrale Rolle ein. Deutschland beteiligt sich mit fast 24 Millionen US-Dollar. In der dritten Phase müssen die Chancen zur Veränderung, das window of opportunity genutzt werden, um strukturelle Veränderungen einzuleiten.

Wiederaufbau II:

Die Entwicklungsphase zur Verwirklichung der Wiederaufbauplanung, welche einen langen Zeitraum umfasst und die gerne als Dekade anschaulich gemacht wird, innerhalb derer die wesentlichen Ziele für den Wiederaufbau realisiert werden können, hat das Ziel, eine langfristig positive Entwicklung in Haiti anzustoßen. Optimisten hoffen, dass sich Haiti binnen zehn Jahren als aufstrebendes Land, als Schwellenland, etablieren könnte.

Aus Sicht der Katastrophenvorsorge liegt der Fokus auf der mitigation, dem Ziel, das zukünftige Risiko zu reduzieren. Dazu zählen:

Eine Standardisierung und Anpassung der Bauweise:

Die defizitären Baustrukturen waren Ursache für die meisten Todesfälle im Umfeld der Katastrophe. Die Erstellung bzw. Überwachung von Bauvorschriften muss durchgesetzt werden, um die gravierenden Folgen der Erdbeben zu verringern und "erdbebensicher" zu bauen. Zur Prävention zählen auch der Aufbau einer Forschungsstelle zur Analyse, Bewertung und Warnung bei Risiken sowie das Vorbereiten von Katastrophen- und Einsatzplänen. Ursachen des Risikos und geeignete Reaktionen darauf können durch Informationen und Handlungsanweisungen für die betroffene Bevölkerung sowie die Ausweisung von in besonderer Weise gefährdeten Gebieten angegangen werden.

Eine Beschränkung der Bodennutzung, ihre Überprüfung und eventuelle Umnutzung:

Ausuferndes Siedlungswachstum und der damit einhergehende Anstieg der Bevölkerungsdichte müssen durch rechtliche Maßnahmen wie etwa die Beschränkung der Land- und Bodennutzung unterbunden werden. Gefahrenräume müssen identifiziert und deren Nutzung limitiert werden. Zudem sollten Möglichkeiten zur Verbesserung des Versicherungsschutzes in Betracht gezogen werden. Mechanismen und Instrumente einer finanziellen Risikoverteilung, zum Beispiel über Katastrophenfonds oder Versicherungen, fehlen oder sind unzureichend ausgeprägt, wobei angesichts des hohen Risikos in Haiti Grenzen für die Einsetzbarkeit dieses Instruments abzusehen sind.

Eine integrierte Regionalentwicklung:

Die außerordentliche Bedeutung der Metropolregion Port-au-Prince wurde bereits erläutert. Vor dem Hintergrund der monozentrischen Struktur Haitis wurden die ökonomischen Potenziale der ländlichen Regionen nur unzureichend ausgeschöpft. Durch die Neuverteilung der Bevölkerung als Folge des Erdbebens eröffnen sich Chancen für neue, dezentrale Wachstumspole fernab von Port-au-Prince. Als Ziel könnte eine polyzentrische, gestufte Regionalentwicklung angestrebt werden. Die Katastrophe kann also als Entwicklungsimpuls und Katalysator für Modernisierung dienen. Diese Ziele und Instrumente sind zum großen Teil im Haitiplan dargestellt.

Der Haitiplan

Die haitianische Regierung hat sich in ihrem Action Plan zum Ziel gesetzt, die Katastrophe von 2010 als Gelegenheit dafür zu nutzen, Haiti bis zum Jahr 2030 als aufstrebendes Land zu positionieren. Verbunden wird dieses Ziel mit der Vision eines gerechten, gleichberechtigten und vereinten Zusammenlebens im Einklang mit Natur und Kultur. Zudem soll eine Gesellschaft entstehen, die durch Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, bewusste Landnutzung, aber auch eine modernisierte, diversifizierte, dynamische und konkurrenzfähige Wirtschaft charakterisiert ist. Folgende weitere Wiederaufbauziele werden im Entwurf der Regierung skizziert:

  • Schaffung von Zugang zu einem gerechten, dezentralen und angepassten System für Grundversorgung (Bildung, Gesundheit, Information, Sport, Sicherheit), insbesondere für Frauen und Kinder;

  • Qualitative Aufwertung der Arbeitsplätze durch Investitionen in Bildung und die Schaffung neuer Arbeitsplätze bzw. neuer Einkommensquellen;

  • Vorbereitung auf die Hurrikansaison 2010, Identifizierung von Risikozonen, Unterbringung der Betroffenen (bisher in Zeltstädten), Aufbau eines Frühwarn- und Evakuierungssystems;

  • Berücksichtigung von Umweltaspekten in allen Bereichen des Wiederaufbau- und Entwicklungsprozesses;

  • Aufbau von Messstationen und Einführung von rechtlichen und technischen Maßnahmen für das künftige Risiko- und Katastrophenmanagement;

  • Etablierung einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, auf Grundlage von "Ich-AGs" (micro-businesses), verstärkter Berufsausbildung, insbesondere für Jugendliche. Zudem wird eine Kooperation von haitianischen Unternehmern, der lokalen Arbeitskräfte und der Kommunen angestrebt;

  • Wiederaufbau von Staat und Wirtschaft. Sie sollen die Lebensgrundlage für das haitianische Volk schaffen und Perspektiven für ein "neues" Haiti eröffnen. Allein der Wirtschaftskreislauf muss wieder angekurbelt werden, da derzeit nahezu das gesamte Preisgefüge durch Nachfrageüberschüsse beeinflusst wird;

  • Reduzierung der hohen Bevölkerungskonzentration in der Metropolregion Port-au-Prince. Durch finanzielle Anreize sollen Umzüge in neue Wachstumspole der Peripherie angeregt werden. Außerdem sollen die Grundbedürfnisse der Bevölkerung nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ gedeckt werden - in Form einer "Wissensgesellschaft", mit Bildung, Qualifikation und Forschung als Schwerpunkt.

Alle Ziele sollen unter Aufsicht eines verantwortlichen und einheitlichen Staates, welcher die Durchsetzung von Recht und Gesetz sowie die Interessen des Volkes garantieren kann - verbunden mit der Verpflichtung zu Dekonzentration und Dezentralisierung - durchgesetzt werden. Für den Wiederaufbau setzt die haitianische Regierung Rahmenbedingungen, welche sich in vier Bereiche differenzieren lassen:

Territorialer Wiederaufbau:

Er beinhaltet die Planung neuer Entwicklungszentren und die Förderung der Regionalentwicklung sowie den Wiederaufbau betroffener Gebiete und die Installation technischer und sozialer Infrastruktur. Zudem gilt es, die Landnutzung zu organisieren und in die Katastrophenvorsorge einzubinden.

Ökonomischer Wiederaufbau:

Er bezieht sich im Falle Haitis auf die Förderung der ökonomischen Schlüsselsektoren, insbesondere die Modernisierung des primären Sektors, um Importsubstitution zu ermöglichen und gegebenenfalls Überschüsse zu exportieren. Zudem muss der Bausektor mit technischen und rechtlichen Maßnahmen auf eine "erdbebensichere", aber auch "hurrikansichere" Bauweise eingestellt werden sowie über geeignete Kontrollmechanismen verfügen. Des Weiteren soll die verarbeitende Industrie unterstützt und die touristische Entwicklung des Landes vorangetrieben werden.

Gesellschaftlicher Wiederaufbau:

Hier geht es darum, ein Bildungssystem mit Zugang für alle Kinder einzurichten, Angebote zur weiterführenden universitären oder Berufsausbildung zu schaffen sowie ein Gesundheitssystem, welches eine landesweite medizinische Grundversorgung garantiert, aufzubauen. Zudem wird der Aufbau eines Systems für die soziale Sicherung der Bevölkerung angestrebt.

Institutioneller Wiederaufbau:

Hier sollte zunächst die Handlungsfähigkeit der staatlichen Institutionen wieder hergestellt bzw. verbessert werden. Priorität haben dabei Institutionen, welche die regulierenden Rahmenbedingungen festlegen, den Wiederaufbau planen und koordinieren sowie die allgegenwärtige Korruption bekämpfen können.

Diese ideellen Ziele sollen innerhalb von 20 Jahren unter Mobilisierung aller verfügbaren Ressourcen erreicht werden, um einen "qualitativen Wandel" durchzusetzen, welcher schon im Jahr 2007 im nationalen Strategieplan Growth and Poverty Reduction angestrebt wurde. Auch im Entwurf aus dem Jahr 2010 bleibt diese Zielsetzung fester Bezugspunkt für die weiteren Planungen.

Erfolgsaussichten des Plans

Aus der Sicht der Katastrophenprävention bietet das Hilfspaket und der Aktionsplan grundsätzlich eine große Chance, künftige Naturkatastrophen ihrer größten Schrecken zu berauben. Für die Überlebenden der Katastrophe ist der Wiederaufbauprozess nach der "Stunde Null" auch eine Chance des Neubeginns. Die Aufgabe ist gewaltig: Einerseits ist unmittelbare Soforthilfe notwendig, andererseits aber müssen langfristig Strukturen geschaffen werden, innerhalb derer gesellschaftlicher Strukturwandel und ökonomisches Wachstum generiert werden können. Der Wiederaufbau ist grundsätzlich eine Chance, Impulse von außen zu geben und im Land selbst eine neue Solidarität zu entwickeln, welche den Grundstein für einen sozioökonomischen Wandel bilden könnte. Daher ist auch der offizielle Wiederaufbauplan als integratives Konzept notwendig, bei dem alle Bereiche der haitianischen Gesellschaft und Wirtschaft eingebunden werden.

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Situation erscheinen die Ziele der Regierung allerdings mehr als ehrgeizig. Eine "Politik der kleinen Schritte", ein planerischer "Inkrementalismus", der flexibel auf neue Lagen reagieren kann, ist vielleicht realistischer als einen "Wiederaufbau aus einem Guss" zu planen. Die Zerstörungen sind so gravierend, dass Haiti noch Jahre von einem "planmäßigen" Wiederaufbau entfernt ist.

Auf fast allen Ebenen der Soforthilfe haben die Vereinten Nationen, die Interamerikanische Entwicklungsbank, die Weltbank sowie Nichtregierungsorganisationen als dominierende Akteure das Handeln übernommen. Ein starker haitianischer Staat, der von der breiten Bevölkerung getragen wird, ist jedoch nötig, um Fremdsteuerung und Abhängigkeiten zu vermeiden. Schließlich sind das koloniale Erbe und die fehlende Zivilgesellschaft weiterhin Strukturmerkmale Haitis. Eine neue Form von Kooperation und geteilter Verantwortung zwischen Haiti und der internationalen Staatengemeinschaft ist unabdingbar.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Marc O. Eberhard et al., The MW 7.0 Haiti earthquake of January 12, 2010: USGS/EERI Advance Reconnaissance Team report, U.S. Geological Survey Open-File Report 48, Reston/Virginia 2010.

  2. Vgl. ebd., S. 4f.

  3. Vgl. "Im Totenhaus der Karibik", in: Der Spiegel, Nr. 3 vom 18.1.2010, S. 76ff.

  4. Vgl. United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, Haiti Earthquake Situation Report, Nr. 24, New York 2010.

  5. Vgl. United States Agency for International Development, Haiti. Earthquake Fact Sheet, Nr. 43, Washington, DC 2010.

  6. Vgl. Eduardo Cavallo, Estimating the direct economic damage of the earthquake in Haiti, IDB Working Paper Series, Nr. 163, Washington, DC 2010.

  7. Vgl. Government of the Republic of Haiti, Haiti Earthquake PDNA, Assessment of damage, losses, general and sectoral needs, Port-au-Prince 2010.

  8. Vgl. Ministry of Economy and Finance, The Challenge of Economic Reconstruction in Haiti. Integrated strategic framework for the short, medium and long term, Port-au-Prince 2010.

  9. Vgl. L'Enquête sur les Conditions de Vie en Haïti (ECVH), Chapitre 2: Population, ménages et familles, Port-au-Prince 2003.

  10. Vgl. Robert Geipel/Jürgen Pohl/Rudolf Stagl, Chancen, Probleme und Konsequenzen des Wiederaufbaus nach einer Katastrophe. Eine Langzeituntersuchung des Erdbebens im Friaul von 1976-1988, in: Münchner Geographische Hefte, (1988) 49, S. 154.

  11. Vgl. E. Cavallo (Anm. 6), S. 17.

  12. Vgl. United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, Haiti Earthquake Situation Report, Nr. 32, New York 2010. Das aktuelle Spendenvolumen ist unter www.reliefweb.int/fts (30.5.2010) abrufbar.

  13. Vgl. Government of the Republic of Haiti, Action plan for national recovery and development of Haiti. Immediate key initiatives for the future, Port-au-Prince 2010, S. 39ff.

  14. Vgl. ebd., S. 21ff.

  15. Vgl. International Monetary Fund, Haiti. Poverty Reduction Strategy Paper IMF, Country Report, Nr. 8/115, Washington, DC 2008.

Dr. phil., geb. 1954; Professor für Geographie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Geographisches Institut, Meckenheimer Allee 166, 53115 Bonn. E-Mail Link: pohl@geographie.uni-bonn.de