Einleitung
Es ist schon mehr als 20 Jahre her, dass die Menschen in Ostdeutschland auf die Straße gingen. Zwei Grundwerte waren es, für die sie damals kämpften: Demokratie und Freiheit. Während der Ruf nach Demokratie vor allem den Wunsch nach transparenter politischer Mitgestaltung enthielt, ist das Ideal der Freiheit ein weitaus komplizierteres und unsteteres Gut
Ich will versuchen, diese wichtigen und ganz praktischen Fragen mit Bezug auf eine typische und doch besondere ostdeutsche Kleinstadt zu beantworten. Dabei geht es auch um die Frage, wie eine Gesellschaft mit Schrumpfungsprozessen, mit Leben und Arbeiten im 21. Jahrhundert umgeht.
Avantgardestadt, Teil 2
Hoyerswerda liegt mitten in der Lausitz. Nördlich der Stadt, in Richtung Cottbus, findet man vor allem vier Dinge: Kiefernwälder, Sand, die darunterliegende Braunkohle und die mit Wasser aufgefüllten Restlöcher früherer Tagebaue. Südlich, in Richtung Dresden, und östlich, in Richtung Görlitz, erstrecken sich die Oberlausitzer Berge, Heimat der Obersorben, die wie ihre niedersorbischen Freunde im Norden so manche christlich-slawische Tradition am Leben halten. In Hoyerswerda wird man schnell der außergewöhnlichen Geschichte dieses ehemaligen Ackerbürgerstädtchens am Fluss Schwarze Elster gewahr: Wo man sonst nur Schloss, Kirche und Marktplatz vermutet, gesellt sich hier zum idyllischen Kleinstadtensemble eine beeindruckende Plattenbausiedlung - die Neustadt, einst zweite Sozialistische Modellstadt der DDR.
In Hoywoy, wie die Neustädter ihr neues Zuhause nannten, folgte man architektonisch der Bauhaus-Moderne. Zehn Wohnkomplexe sollten bis zum Ende des Staatssozialismus dessen Idealen entsprechend für den neuen sozialistischen Menschen hervorragende Wohn- und Lebensqualitäten schaffen. Die Stadt wuchs in jener Zeit von anfangs 7000 auf mehr als 70000 Einwohner. Es kamen vor allem junge Familien auf der Suche nach Arbeit und einer Wohnung mit in Nachkriegsjahren rarem modernem Komfort: Warmwasser, eigenes Bad, Fernheizung. Schnell wurde Hoyerswerda bei einem Durchschnittsalter der Einwohner von knapp 27 Jahren zur jüngsten und kinderreichsten Stadt der DDR. Die Schwarze Pumpe, das nahe Braunkohlekombinat, erblühte ebenso wie die für sie errichtete Werkssiedlung. Die Berg- und Energiearbeiter hatten allerhöchste Priorität, sicherten sie doch die energiepolitische Unabhängigkeit der jungen Republik.
In nur 20 Jahren hat sich die Hauptstadt des Lausitzer Reviers von ihrer einst strahlenden Zukunft verabschiedet. Zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung macht Hoywoy vor allem eins: Es schrumpft. Damit ist es jedoch nicht allein getan. Im Gegenteil, ganz Ostdeutschland kämpft mit einer stetig geringer und älter werdenden Bevölkerung, mit sich entleerenden Dörfern und Landschaften
Was musste passieren, dass eine Stadt innerhalb so kurzer Zeit über die Hälfte ihrer Bürgerinnen und Bürger verlor, nun zur ältesten Stadt Deutschlands wird und bereits ungefähr ein Drittel ihres Wohnungsbestandes vernichtet oder zurückgebaut hat, wie es im euphemistischen Amtsdeutsch heißt? Die Frage lässt sich schwer beantworten - und da wären wir schon beim eigentlichen Problem. Wer ist denn nun, wenn überhaupt, "gescheitert" in den fünf mittlerweile nicht mehr ganz so neuen Bundesländern? Die DDR, die nach westlichen Standards ein scheinbar marodes Erbe hinterließ? Die Macher der Wiedervereinigung, die es augenscheinlich nicht verstanden, zwei grundsätzlich unterschiedliche Systeme über Nacht reibungslos zu einem zu machen? Oder das bundesdeutsche Wirtschafts- und Sozialsystem, das der Wiedervereinigung und dem Transformationsprozess Ost nicht zur vollen Zufriedenheit Herr werden konnte?
Jede singuläre Schuldzuweisung ist zum Scheitern verurteilt. Es bleibt eine Tatsache, dass die ostdeutschen Städte und Gemeinden tendenziell andere, oft gravierendere Probleme zu lösen haben als ihre westdeutschen Partner. Wer auch immer für diese Probleme anteilig verantwortlich ist, sollte überlegen, wie er bei deren gegenwärtigen Lösung helfen kann.
Die verbliebenen rund 37000 Hoyerswerdaer brauchen jede Unterstützung. Denn die Schrumpfung hat noch lange nicht aufgehört: Bis zum Jahr 2020 könnte die Bevölkerung auf unter 25000 Menschen sinken. Neben den persönlichen Schicksalen und ungewollten Veränderungen bereitet vor allem die gefährdete Lebensqualität den Dableibern Sorgen. Es wird schließlich nicht nur an allen Ecken abgerissen. Die Schrumpfung ist so komplex, dass sie alle Lebensbereiche betrifft: Ob Kindergärten, Schulen oder Sportvereine, Arztpraxen, Apotheken oder das lokale Fitnessstudio, die Kneipe an der Ecke oder das schönste Edelrestaurant, der Skat- oder Kunstverein - alle müssen bei weniger Menschen und (damit verbunden) weniger finanziellen Mitteln um ihre Zukunft bangen. Neuerdings werden selbst die Kanalisationsleitungen verkleinert, weil zu wenige Bewohner ihre Abwässer durch diese pumpen. Die einzigen, die unter solchen Umständen auf Gewinne hoffen können, spöttelt man, sind Altenpfleger und Bestatter. Und Wolfsexperten - denn es gibt in postindustriellen Zeiten wieder Wölfe in der Lausitz. Blühende Landschaften.
Mobilitätsprobleme
Welche Perspektive gibt man denen, die nicht weggehen? Findet man sich mit dem Wegzug der anderen einfach ab? Besteht eine Chance für deren eventuelle Heimkehr? Wenn es um Schrumpfung geht, widersprechen sich verschiedene Interessen und Freiheiten. Gerade für die Mobilitätsfreiheit wurde einst gestritten. Auch die Europäische Union (EU) will die freie Wahl von Wohn- und Arbeitsort möglichst schrankenfrei und problemlos garantieren. Da soll jeder gerne ziehen können, wohin er will: freier Markt, freies Land, freie Bürger. Doch die Folgen für die Gemeinwesen, die nicht durch eine stabile oder expandierende Wirtschaft Leute anziehen, sind, gelinde gesagt, existentiell. Wie positioniert sich die Gesamtgesellschaft, also Gewinner wie Verlierer des neuen demografischen Karussells?
Wegzugehen fällt vielen Hoyerswerdaern nicht leicht. Obwohl die Ferne ihren Reiz hat, würden viele gerne bleiben: "Wenn man nur einen Job hier bekommen könnte ..." Obwohl Menschen schon immer und überall ihre gewohnten Gefilde verließen, sind die damit einhergehenden Schwierigkeiten in Ostdeutschland und speziell in Hoyerswerda anderer Natur. Die Dimensionen der Veränderungen haben unvorhergesehene Ausmaße angenommen. Jeder Mensch, der geht, stellt das langfristige Überleben des eigenen Gemeinwesens in Frage. Nicht nur sterben mehr Menschen als geboren werden, auch gehen mehr, als kommen. Zusätzlich ist Hoyerswerda so rapide im Wandel begriffen, dass die Hoffnung auf eine Wiederkehr der Exilhoyerswerdaer oft schnell erlischt. Der nächste Besuch bei den Lieben zu Hause kann einen unverhofft mit dem Abriss einer alten Heimstätte oder der Schließung einer liebgewonnenen Kultureinrichtung konfrontieren. Sind erst die besten Freunde über alle Berge, zieht einen bald nichts mehr nach Hause. Ohne die Option zur Rückkehr verschärfen sich aber auch die üblichen Probleme gesteigerter Mobilität: Wie kümmere ich mich aus der Ferne um meine Familienmitglieder? Was mache ich, wenn die älteren Verwandten meine Hilfe brauchen? Wie bin ich da für Freunde in Not? Kurzum: Wird es langfristig überhaupt noch ein Zuhause mit dem uneingeschränkten Wohlgefühl des Dazugehörens geben?
Wie viele Menschen in der ganzen Welt, so sind auch die Hoyerswerdaer zu neuen Beziehungsexperten geworden. Alles, was neue technologische Errungenschaften hergeben, wird eingesetzt. Über Skype sieht und hört man die Kinder im fernen Neuseeland oder liest im liebevoll gepflegten Blog über deren Abenteuer in Costa Rica. Die eine oder andere Mail wird über den halben Globus gesendet oder eben in die Nähe von Köln, München oder Hamburg. Dazu plant man über Telefon und Internet ganz selbstverständlich Urlaubs-, Feier- und Festtage lange im Voraus, um die kostbare Zeit miteinander voll und ganz genießen zu können. Neue Freiheiten erzwingen neue Formen des Miteinanders, vielleicht sogar mehr Kreativität und Flexibilität in der eigenen Lebensgestaltung. Trotzdem hat jede Flexibilität Grenzen.
Wenn man über die Flexibilisierung der internationalen Arbeits- und Finanzmärkte spricht, wird oft vergessen, dass der Mensch auch das Recht, also die Freiheit haben sollte, selbst zu entscheiden, ob er Teil dieser nicht enden wollenden Transfers und Interaktionen sein will. Was ist, wenn ich in Hoyerswerda bleiben möchte - weil es mir dort gefällt, weil meine Freunde und meine Familie da sind, weil ich dort gebraucht werde? Habe ich in der Art und Weise, wie wir unsere heutige Gesellschaft organisieren, die Freiheit, diese Frage frei zu beantworten? Habe ich neben der vermeintlichen Freiheit, überall hingehen zu können, auch die Freiheit, mich dieser Wahl zu entziehen? Die mannigfaltigen Wahlmöglichkeiten sollten nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass die Aufforderung zum Gehen selbst meist unfreiwillig ist. Doch bei wem kann ich die Freiheit zu bleiben einfordern?
Neue Verantwortlichkeiten
Der Wert jedes einzelnen Menschen ist groß in Hoyerswerda. Jeder, der bleibt oder kommt, wird gebraucht - nicht nur als Konsument, Patient, Schüler oder Kunde. In einer Situation, die vielen Menschen in ihrer Dimension als fundamental neu und problematisch erscheint, wird jede verrückte Idee, jeder verquere Geistesblitz benötigt. Man will schließlich Hoytopia (wieder)errichten. Es geht im Prozess der Schrumpfung ganz grundsätzlich um eine Neubewertung städtischen Lebens, sozialen Zusammenhalts und eines gesicherten und qualitätsvollen Daseins. Ein neues Repertoire an Ideen und Lösungsansätzen, an adäquaten Perspektiven und treffsicherem Vokabular muss erstellt werden. Als ehemalige (und neue) Avantgardestadt hat Hoyerswerda Erfahrung mit derlei goldgräberisch-abenteuerlichem Elan. Zurzeit fehlen oft das nötige Selbstvertrauen, die damit einhergehende geistige Flexibilität und die materiellen Mittel, um kreativ neue Wege zu gehen. Eher macht sich Angst um die Abnahme nötiger wirtschaftlicher oder staatlicher Unterstützung breit. Doch wie viel Verantwortung kann man vom Staat überhaupt für eine schrumpfende Stadt einfordern? War es doch gerade dieser Staat, der die industriellen Strukturen der DDR zur Sanierung preisgab, so dass, oft chancenlos, als Resultat nur die "Deökonomisierung" des Ostens
In der ersten Dekade nach der Wiedervereinigung wurde vor allem die Wirtschaftsförderung als Garant für eine bessere Zukunft gehandelt. Mittlerweile merkt man, dass die internationalen, aber auch die nationalen Investitions-, Finanz- und Warenströme häufig an peripheren Regionen vorbeifließen. Die Hoffnung auf eine Solarfabrik, das "Karl-May-Land" oder andere Impulsgeber einer globalisierten Wirklichkeit waren leider unbegründet. Die sich erholende Wirtschaft kann das Schicksal dieser schrumpfenden Stadt nicht retten. Umgekehrt: Wird in diese Negativentwicklung nicht eingegriffen, laufen die gesunden Wirtschaftskerne der Region Gefahr, ihre wichtigste Grundlage zu verlieren. Fachkräftemangel lautet das neue Schlagwort: Um Fachkräfte in meine Gegend zu ziehen, muss ich im Wettkampf der sich entleerenden Regionen etwas Einzigartiges bieten können. In Hoyerswerda punktet man mit dem Lausitzer Seenland, der lebendigen Soziokultur und einer, wenn auch bedrohten, exzellenten Infrastruktur, was Sport, Freizeit, Medizin und Shopping angeht - alles weiche Standortfaktoren. Wer aber hält diese am Leben?
Der Staat gerät in die Pflicht, wenn die lokale Wirtschaft gewisse Grundfunktionen aus eigener Kraft nicht mehr aufrechterhalten kann. Doch hat der Staat seit geraumer Zeit gebetsmühlenartig die Idee der Zivilgesellschaft ins Feld geführt: Um "Leistungen" wie Kultur und diverse soziale Belange sollen sich ehrenamtliche Vereine und bürgerschaftliche Gruppen kümmern. Dass ein derartiges Engagement ein Mehr an Mitbestimmung und Demokratie bedeutet, leuchtet ein. Der Staat muss dafür die nötige Unterstützung bereitstellen und einer derartigen Form von Arbeit Wert und Chance geben.
Schrumpfungs-, nein: Lebensexperten
Einer jener Akteure, die sich über mehr Sicherheit freuen würden, ist Rosemarie, Chefin von "Spätlese" e.V. Hoyerswerda. Wie jeder Verein in einer schrumpfenden Stadt ist Rosemaries größtes Problem der Nachwuchs. Das dürfte für einen Seniorenverein überraschen. Das hohe Durchschnittsalter von knapp 50 Jahren hat Hoyerswerda in nur 40 Jahren von der jüngsten zur ältesten Stadt Deutschlands gemacht. Da müssten sich genug rüstige Senioren finden lassen. Doch auch diese, so wurde in den vergangenen Jahren beobachtet, verlassen nun die Stadt. Einige ziehen ihren Kindern hinterher. Ab einem gewissen Alter will man näher bei der Familie sein - für alle Fälle. Andere finden paradoxerweise nicht den gewünschten sanierten Wohnraum. Und man wird, denkt Rosemarie, im Alter eben auch bequemer.
Immerhin mehr als 60 Mitglieder zählt der Verein. Jeden Mittwoch trifft man sich im Wohnkomplex Nr. 3 im Bistro zum Kaffeenachmittag. Man(n), oder eher Frau, erzählt sich, wem es wie ergangen ist und was Neues ansteht. Gelegentlich wird heiter getanzt, es werden größere Feiertage zelebriert, Konzerte besucht oder eigene Modenschauen organisiert. Alle paar Monate geht man auf Reisen, ob zum Kurzausflug in die Lausitz oder über einige Tage weiter weg. Alles ganz normal - doch spielt die Schrumpfung natürlich auch in Rosemaries Vereinsarbeit eine Rolle. In Zeiten klammer öffentlicher Kassen wird auf den regulären Vorstandssitzungen viel über Geldsorgen geredet. Nicht alle können sich die Fahrten leisten. Zur Aufstockung der Vereinskasse sammelt man Altpapier und verkauft Selbstgehäkeltes und -gestricktes auf Stadtfesten. Dabei versucht man, neue Mitglieder zu werben oder Allianzen mit anderen Vereinen zu schmieden. Das eingenommene Geld wird benötigt für Blumensträuße, Geburtstags- und Trauerkarten. Man gestaltet Leben halt zusammen, vor allem, weil die eigenen Kinder oft fern der Heimat leben. Einige Mitstreiter werden sogar eine Zeit lang gepflegt oder regelmäßig im Krankenhaus besucht. Rosemaries Ehrenamt ist fast eine Vollzeitstelle. Wahrscheinlich unwissentlich ist sie, wie viele andere, zur Schrumpfungs- und Lebensexpertin geworden. Das erzwingt die Unsicherheit, der sie sich fortwährend im Alltag stellen muss.
Andere Lebensbereiche haben ähnliche Probleme: Typisch DDR, typisch Hoyerswerda - wo viele Plattenbauten errichtet wurden, gab es stets Bedarf nach dem eigenen Fleckchen im Grünen. Die zahllosen Schrebergartenvereine der Stadt zeugen davon. Auch sie stellen sich in der Schrumpfung neuen Herausforderungen. Die gute alte Datsche, selbst wenn die Sparte noch immer "Frohe Zukunft" heißt, ist bei jungen Leuten weniger gefragt. Viele ältere Menschen schaffen es nicht mehr, sie satzungsgemäß in Schuss zu halten. Wird man langfristig auch Schrebergärten zurückbauen? Was macht man in der Zwischenzeit, wenn viele ihr Gartenidyll noch behalten wollen? Langfristig wird man einzelne Kolonien zu Inseln zurückbauen. Der Obstbaumbestand bleibt erhalten und bildet eine neue reizvolle Landschaft in Hoyerswerdas Umgebung.
So weit die Zukunftsmusik. Bis dahin stehen noch praktische Fragen an. Eine Antwort ist das Projekt der Hoyerswerdaer Tafel. Diese kümmert sich in Hoywoy wie anderswo um Armenspeisung. Mit einer Handvoll Hilfskräften hat sie vor ein paar Jahren begonnen, leere Parzellen zu bewirtschaften. Das geerntete Obst und Gemüse wird an die Bedürftigen weitergeleitet. Doch auch dafür braucht man Unterstützung - wer bezahlt die Kosten, die dem Gartenverein entstehen, wer die Hilfskräfte, ganz zu schweigen von Geräten und Transport? Der Stadt, wie allen bekannt, fehlt jedweder finanzielle Spielraum. Dabei wären noch andere Projekte denkbar, bei denen neben dem Bevölkerungsrückgang auch die sozialen und demografischen Verwerfungen angegangen werden könnten. Was spricht zum Beispiel gegen Senioren-Garten-WGs? Wer sich nicht mehr traut, einen eigenen Garten zu pachten, tut sich mit anderen Senioren zusammen. Was beim Wohnen als alternsgerechte Senioren-WGs schon en vogue ist, kann doch im Freizeitbereich nicht verkehrt sein? Es geht dabei nicht um ein künstliches Am-Leben-Halten althergebrachter Strukturen. Im Gegenteil: Hier geht es um das mutige Ausprobieren neuer Lebensformen, um ein neues soziales Miteinander, welches sich den Aufgaben der Gegenwart stellt und versucht, die vorhandenen, sonst brachliegenden Ressourcen effizient im Sinne aller zu nutzen.
Ein letztes, ebenso vermeintlich banales Beispiel: Wie erhalte ich Sportstrukturen in einer Stadt, der das Geld für die Sanierung von Sportstätten fehlt, der Nachwuchs wegbricht und immer weniger Ehrenamtliche zur Verfügung stehen? In Hoyerswerda kümmert sich ein gut organisierter Dachverband um langfristige Lösungen und forciert geschickt Synergien in der Sportstättennutzung und im Mitglieder- und Sponsorenwerben jenseits der Vereinsmeierei. Im Sport ist man stolz, in Sachsen mit Abstand den höchsten Prozentsatz an organisierten Freizeitsportlern zu haben. Auch das macht Leben in einer schrumpfenden Stadt aus. Zum Erfolgsgeheimnis zählt, dass man sich auf alle Altersgruppen einstellt - Seniorensport ist aktuell der Renner. Nicht selten sieht man nordic-walkende Damengruppen im besten Alter oder ist über die Gelenkigkeit der Senioren-Tai-Chi-Gruppe erstaunt. Ferner werden früh und in guter Zusammenarbeit mit Schulen und Kindergärten den Jüngsten altersgerechte Angebote unterbreitet und das lokale Augenmerk auf Handball als Schwerpunkt gelegt. Der andere Publikumsliebling, Fußball, ist auf ansehnlichem Level für eine strukturschwache Region zu kostenintensiv. Als neue Taktik ist die sportliche Erschließung des im Entstehen befindlichen Lausitzer Seenlandes im Visier - mit Eventcharakter und Abenteuersport. All das soll gewährleisten, dass die wenigen Mittel zielgerecht eingesetzt werden. Die Mittel selbst sind aber nicht ersetzbar.
Ähnliches könnte man sich auch in den Bereichen Stadtumbau, Wohnen, Kultur und Soziales vorstellen - auch hier wurden mit wechselndem Erfolg Neuerungen ausprobiert. Doch vor allem, wenn es um sogenannte "freiwillige" Leistungen geht (obwohl Kultur in Sachsen als einzigem Bundesland nicht dazu zählt), wird schnell der Rotstift angesetzt. Kann sich eine schrumpfende Stadt essentielle Einschnitte im Bereich Lebensqualität leisten? Für diese weichen Standortfaktoren gilt es, in Zeiten neuer Probleme die Förderpolitik zu überdenken.
Neue Chancen, neue Freiheiten?
Ist Schrumpfung, wie oft beschworen, zur Chance geworden? Ich bin mir nicht sicher, ob Rosemarie und andere Engagierte ihr Tun derart verstehen. Fast mutet es zynisch an, ihre alltäglichen Probleme in beglückende Chancen umzudeuten. Fabuliere ich diese trotzdem herbei, vermeide ich es, die Schrumpfung selbst als Problem zu hinterfragen. Ich verorte sie nicht mehr in ihrem politischen Kontext und kann damit auch niemanden wenigstens anteilig für sie verantwortlich machen. Hoyerswerda ist an seiner Schrumpfung nicht selbst Schuld. Das gesamtgesellschaftliche Solidarprinzip muss auch hier greifen. Wer ein Ende des Solidarzuschlages herbeisehnt, sollte sich sowohl die Geschichte der Wiedervereinigung vergegenwärtigen als auch über entstehende soziale Kosten nachdenken. Man kann natürlich, wie einige Kritiker sagen, ganz Ostdeutschland weiter, ob mit oder ohne Solidarzuschlag, am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Oder man hinterfragt kritisch, warum in den vergangenen zwei Jahrzehnten oft nicht die richtigen Entscheidungen für die Zukunft Ostdeutschlands getroffen wurden. Sollte man für diese Zukunft nicht auch als politisch, administrativ und ökonomisch Verantwortliche neue Wege gehen? Die Erfolgsrezepte West bieten keine klaren Lösungsansätze für die Problemlage Ost. Neue Ideen braucht das Land!
Ein paar gute Ideen haben die Hoyerswerdaer schon heute auf Lager. Eine Argumentation, die mit Jugendlichen in einer Zukunftswerkstatt des Vereins "KulturFabrik" erarbeitet wurde, forciert folgende Strategie: Hoyerswerda solle sich wieder so aufstellen, wie es in seiner sozialistischen Phase gebaut wurde, nämlich als Wohnstadt für die umliegende Industrie. Diese muss verstärkt Fachleute über interessante Wohn- und Freizeitangebote anlocken. Die Wohn- soll jetzt jedoch zur Lebensstadt werden - entgegen den von Außenstehenden oft beschworenen Schreckensbildern der alternden, von Abriss bedrohten, tristen Plattenbausiedlung. Dazu gehören die gemütliche Altstadt und das immer attraktiver werdende Lausitzer Seenland ebenso wie eine einwandfreie neustädtische Infrastruktur, soziokulturelle Angebote und neue Ansätze, wenn es um Wohnen, Leben und Arbeiten geht: Die Laborstadt
Doch dafür braucht man genauere Vorstellungen von diesem Hoytopia, also eine Utopie, mit der man, in ständiger Anpassung an die jeweiligen Veränderungen, gut durch die Zeiten allgemeiner Unsicherheit kommt. "Ein Mensch ohne Utopie ist kein Mensch", wie Gerhard, ein ehemaliger Bergbauingenieur aus Hoyerswerda, sagt.
Doch wie stelle ich diese Zukunftsvision auf ein Fundament, das trägt, ohne ausschließlich an die lokale Wirtschaft oder versiegende Fördertöpfe gebunden zu sein? Sowohl Wirtschaft als auch Staat haben großes Interesse, die Erarbeitung neuer Lebens- und Arbeitsformen, neuer Formen des menschlichen Miteinanders zu unterstützen - sei es für das Fachkräfteproblem oder die hohen Kosten, welche die Gewährleistung des verfassungsmäßig verbürgten Grundrechts auf gleichwertige Lebensbedingungen
Willkommen in Hoytopia
Ein guter Freund will sogar die EU mit ins Boot holen. Er war es auch, der den Begriff "Hoytopia" prägte. In einem der sich entleerenden äußeren Wohnkomplexe würde er gerne das von vielen Seiten diskutierte, aber nie konkretisierte Projekt des Bürgergeldes praktisch umsetzen. Für drei Jahre sollen rund 3000 Menschen aus ganz Europa im Experiment ausprobieren, was alles entstehen kann, wenn man in seinen Grundbedürfnissen gesichert ist, weil Arbeit zur (freiwilligen) Option wird.
Was auf den ersten Blick wie eine Hippiekommune anmutet, könnte schon bald zum gängigen Lebensmodell für die Zeiten nach der Vollbeschäftigung und der mit ihr verbundenen Organisation der Gesellschaft auf Grundlage der Lohnarbeit werden.
Sogar der Freiheitsbegriff könnte gewinnbringend für alle erweitert werden. Mobilitätsfreiheit, 1989 hart erkämpft, sollte im 21. Jahrhundert auch die Freiheit und das Recht bedeuten, dort bleiben zu können, wo man will. Wie der bekannte, leider früh gestorbene Hoyerswerdaer Liedermacher Gerhard Gundermann schrieb: "Alle, die gehen woll'n, sollen gehen können./Alle, die kommen woll'n, sollen kommen können./Alle, die bleiben woll'n, sollen bleiben können."