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Wirtschaft in Ostdeutschland im 21. Jahrhundert | Deutsche Einheit | bpb.de

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Wirtschaft in Ostdeutschland im 21. Jahrhundert

Michael C. Burda

/ 17 Minuten zu lesen

Die Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft wird – umrahmt von langsamem Abschwung und von Entvölkerung – von räumlichen Lichtblicken der Stabilisierung oder sogar von Wachstumspolen gekennzeichnet sein.

Einleitung

Zwanzig Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung gleicht die wirtschaftliche Situation Ostdeutschlands dem sprichwörtlichen Wasserglas, das gleichzeitig halb voll und halb leer ist. Es gibt wohl kaum eine vergleichbare Episode des Wirtschaftswachstums und der Konvergenz. Auch kann man sich kaum eine entmutigendere Herausforderung vorstellen als die, vor der die deutschen Politiker Anfang der 1990er Jahre standen: Der Lebensstandard im Osten musste rasch angehoben werden, um zu verhindern, dass die Einwohner ihre Region scharenweise verlassen. Gleichzeitig sollte Ostdeutschland neue Investitionen aus wohlhabenderen Teilen der Welt anziehen. Es waren die jungen, gebildeten und produktiven Eliten, die ihre Heimat als Erste verließen. Ihr Verschwinden bedeutete für Ostdeutschland einen drohenden Verlust an Attraktivität sowohl für westdeutsche und internationale Investoren als auch für die Daheimgebliebenen. De facto gab es keine wirtschaftliche Alternative zur deutschen Vereinigung.

Für die Wirtschaftswissenschaft kam es zu neuen Fragestellungen. Robert Barro aus Harvard prophezeite, es werde 35 Jahre dauern, bis der Osten die Hälfte der 70-prozentigen Produktivitätslücke zum Westen aufholen würde. Diese Voraussage, die sich auf bemerkenswert robuste ökonometrische Ergebnisse aus den USA, Westeuropa und Japan stützte, stellte sich als wenig zutreffend heraus, es sei denn, man ignoriert die starken Produktivitätsanstiege der Jahre 1991 bis 1994. Des Weiteren bedeutete diese Annahme, dass Ostdeutschland eines Tages eine Kopie des Westens sein würde; paradoxerweise bestimmten die Ausgangsbedingungen und der Anpassungspfad den gleichgewichtigen Endpunkt des Systems - was wiederum bedeutet, dass dieser nicht eindeutig festgelegt sein würde. Anfang der 1990er Jahre sagte ich voraus, die ostdeutsche Wirtschaft könne im Jahr 2020 hoch industrialisiert sein wie die Region um Dresden-Leipzig-Halle im späten 19. Jahrhundert; ebenso könnten die neuen Bundesländer aber auch einen riesigen Nationalpark bilden, der Biodiversität von Flora und Fauna, einschließlich des legendären "Ossi", gewidmet. Diese Spannbreite möglicher Endzustände der ostdeutschen Wirtschaft hat vermutlich das Handeln der Regierung Kohl geleitet, das deutlich entschlossener war als das ihrer wirtschaftspolitischen Berater.

Konvergenz: eine Frage des Maßes

Im März 1990 gab Bundeskanzler Helmut Kohl den Ostdeutschen ein Wahlversprechen, das für den Ausgang der Bundestagswahl entscheidend war: die Aussicht auf blühende Landschaften des wirtschaftlichen Wachstums und Wohlstands. Wie ist dieses Versprechen nach zwei Jahrzehnten der Integration zu bewerten?

Angesichts der Ausgangsbedingungen in der DDR und des Lebensstandards in anderen vergleichbaren kommunistischen Staaten (etwa in der Tschechoslowakei) war die Geschichte der Wiedervereinigung ein kleines Wunder. Die realen Pro-Kopf-Einkommen - ein Maß, das regionale Preisdifferenzen bei Gütern und Dienstleistungen wie Mieten, öffentlichen Verkehrsmitteln und nichtgehandelten Gütern berücksichtigt - haben sich praktisch angeglichen. Dennoch bleibt das Wasserglas in vielerlei Hinsicht halb leer: Die Angleichung ging nicht mit einer Konvergenz der Produktivität pro Kopf oder pro Stunde einher. Die Produktivität bleibt bei ungefähr drei viertel des Westniveaus stehen. Die Arbeitslosenquote im Osten ist derzeit gut doppelt so hoch wie im Westen.

Für die Messung der ökonomischen Wohlfahrt ist der wichtigste Indikator der Konsum jener Güter und Dienstleistungen, die Glück, Vergnügen oder Lebenszufriedenheit stiften. Trotz abweichender Schätzungen kann man davon ausgehen, dass der durchschnittliche Pro-Kopf-Konsum im Osten 80 bis 85% des westlichen Durchschnittsniveaus erreicht hat. Dieser Abstand unterscheidet sich nicht mehr wesentlich von demjenigen zwischen den ärmeren nördlichen und den reicheren südlichen Bundesländern im Westen. Die Unterschiede im Konsumverhalten werden maßgeblich von den Preisen nichthandelbarer Güter wie Wohnungen, Lebensmittel und persönliche Dienstleistungen beeinflusst, die wiederum von den regionalen Wohlstandsniveaus sowie der Produktivität bei den gehandelten Gütern abhängig sind. Aufschluss erlaubt ein Blick auf die Konsumniveaus in Tabelle 1 (siehe Tabelle 1 der PDF-Version). Es fällt die Angleichung der Konsummuster ins Auge; das Datenmaterial wird von Aussagen der Ostdeutschen über ihr Wohlbefinden gestützt - vorausgesetzt, man klammert Gefühle der politischen Unterwerfung aus. Bemerkenswert ist auch, dass sich die Lebenserwartung - vielleicht einer der allgemein anerkanntesten Wohlstandsindikatoren - für Frauen in Ost- und Westdeutschland angeglichen hat, weitgehend auch für Männer, wobei die Westdeutschen eine nur um ein Jahr höhere Lebenserwartung haben als die Ostdeutschen.

Das Konsumverhalten mag zwar kein hinreichender Indikator für Glück und Wohlstand sein, aber dennoch gibt es einen engen Zusammenhang. Zugleich sind ein starkes Selbstwertgefühl und wirtschaftliche Unabhängigkeit nicht zu vernachlässigende Aspekte. Auch wenn die Arbeitslosenquoten in den vergangenen fünf Jahren erheblich gesunken sind, liegen sie doch immer noch ungefähr doppelt so hoch wie im Westen. Ein Konsum, der durch Transfers aus dem produktiveren Westen finanziert wird, ist langfristig nicht nachhaltig. Daher ist ein sorgfältiger Blick auf den "angebotsseitigen" makroökonomischen Indikator der Pro-Kopf-Produktivität - eine Messzahl, die sowohl die Produktivität der beschäftigten Arbeitskräfte als auch die Erwerbsquote misst - wesentlicher Bestandteil jeder umfassenden Bewertung von zwanzig Jahren deutscher Einheit.

Das makroökonomische Bild Ostdeutschlands mit einer Bevölkerung von ursprünglich rund 17 Millionen Menschen in den späten 1980er Jahren ist gemischt. Tabelle 2 (siehe Tabelle 2 der PDF-Version) zeigt die gängigsten makroökonomischen Konvergenzdaten. Nach der Einführung der D-Mark zum Wechselkurs von 1:1 war ein Schrumpfen der ostdeutschen Produktionswirtschaft unvermeidbar. George Akerlof et al. folgerten aus den einst streng geheimen Richtkoeffizienten der DDR-Planungsministerien, dass weniger als ein Fünftel der DDR-Industrie zu einem Wechselkurs von 1:1 wettbewerbsfähig war; ihre Berechnungen erwiesen sich als richtig. Nach dem Zusammenbruch der Produktion auf ungefähr ein Drittel des Wertes von 1989 ist sie im Vergleich zum Westen aber wieder stetig angestiegen - während der Rezession von 2001/2002 und sogar während des jetzigen Abschwungs. In den vergangenen fünfzehn Jahren wurde ein Großteil der Produktivitätslücke je gearbeiteter Stunde zwischen Ost und West geschlossen. Im August 2009 konnte sich das erste ostdeutsche Bundesland (Thüringen, 11,1%) einer niedrigeren Arbeitslosenquote als ein westliches Bundesland (Bremen, 12,2%) rühmen.

Rückblickend erscheinen die politischen Diskussionen der frühen 1990er Jahre erstaunlich naiv, weil man binnen weniger Jahre den buchstäblichen Phönix aus der Asche erwartet hat. Was waren die Gründe für diesen blinden Optimismus? Für die meisten ostdeutschen Produkte konnte man sich selbst bei einem Wechselkurs, der dem durchschnittlichen Richtkoeffizienten von 4,4 Ostmark für eine D-Mark entsprochen hätte, nur schwer einen Markt vorstellen. Die ostdeutschen Konsumenten haben 1990 und 1991 mit ihren Füßen abgestimmt und das Schicksal eines Großteils der damaligen Industrie im Osten besiegelt. Zwanzig Jahre später ist die Produktion mit Milliardeninvestitionen modernisiert worden, vor allem bei Konsumgütern und Zwischenprodukten, und sie erlebt eine beeindruckende Renaissance.

Von den drei Ursachen des ostdeutschen Rückstands bezüglich der Produktivitätslücke pro Kopf - mangelnde Kapitalausstattung, niedrige Auslastung der vorhandenen Arbeitskräfte, technischer Rückstand - ist die Lücke der Sachkapitalausstattung der ostdeutschen Industrie am weitesten verschmälert worden. Fortschritte bei den anderen Faktoren sind Ergebnisse des Strukturwandels, in dem sich die Ostdeutschen noch befinden. Diesen Strukturwandel zu begreifen, ist eine wesentliche Voraussetzung, um Szenarien für die Wirtschaft Ostdeutschlands zu entwickeln.

Schlüsselfaktoren der Integration

Kapitalmobilität vs. Mobilität der Arbeitskräfte.

Bereits kurz nach der Wiedervereinigung hat Horst Siebert den Transformationsprozess der Ostblockstaaten in weiser Voraussicht als "Integrationsschock" bezeichnet. Im Folgenden verwende ich Barry Eichengreens intuitive Definition ökonomischer Integration: das Erzielen einer effizienten Produktionsaufteilung zwischen zwei oder mehr geographischen Regionen, die eine Union bilden. Zunächst lässt die Akkumulation von Kapital in der ärmeren Region die Pro-Kopf-Produktion steigen. Zweitens wandern die Arbeitskräfte von der kapitalarmen in die kapitalreiche Region. Drittens profitiert die kapitalarme Region von der Mobilität des Kapitals durch Direktinvestitionen, die entweder über die internationalen Kapitalmärkte oder auf Kosten der kapitalreichen Nachbarregion (in diesem Fall Westdeutschland) finanziert werden.

Die Umverteilung ("Umallokation") von Arbeit und Kapital zwischen Ost und West ist erheblich und zu zeitlich unterschiedlichen Geschwindigkeiten erfolgt. In den ersten fünf Jahren nach dem Mauerfall verließen mehr als eine Million Menschen den Osten. Danach verlief die Abwanderung langsamer, um wieder zu steigen, als das Wachstum in der Region zurückging und die Arbeitslosenquoten anstiegen. Zudem gab es Anfang der 1990er Jahre einen Investitionsboom, der Mitte des Jahrzehnts seinen Höhepunkt erreichte: Zwei Drittel der kumulierten Investitionen nach Ostdeutschland flossen in den Wohnungsbau und die geschäftliche Infrastruktur, ein Drittel in die Ausrüstungsinvestitionen. Die Konzentration der Investitionsausgaben in der Infrastruktur wird häufig nicht nur als Ergebnis verzerrter Anreize gesehen, sondern auch als Effekt, der langfristige Konsequenzen für die Struktur der Güter- und Faktornachfragen hat. Nach einem sehr starken Start Anfang der 1990er Jahre sind die Investitionsquoten im Osten erheblich zurückgegangen und unterscheiden sich kaum noch von denjenigen im Westen.

Die steigende Kapitalausstattung im Osten Deutschlands war ein wichtiger Bestimmungsfaktor des in Tabelle 2 (siehe Tabelle 2 der PDF-Version) dargestellten Produktivitätsanstiegs. Dieser wurde nicht nur vom Anstieg der Investitionsausgaben getrieben, sondern auch vom Rückgang der Beschäftigung vor allem in den ersten Jahren nach der Vereinigung. In einigen Branchen ist die Kapitalintensität sogar über das westliche Niveau hinausgeschossen. So lag die offizielle Schätzung des gesamtwirtschaftlichen Verhältnisses von Kapital zu Arbeit im verarbeitenden Gewerbe bereits im Jahr 2002 mit 99% praktisch gleichauf mit dem Westen; hinter diesem Durchschnitt verbarg sich eine erhebliche Bandbreite, die von 66% in der Bekleidungsindustrie über 81% im metallverarbeitenden Gewerbe bis hin zu 125% in der Chemie- und 122% in der Automobilbranche reichte. Noch höhere Werte findet man bei Zwischenprodukten (durchschnittlich 123% des westlichen Wertes). Insgesamt bleibt allerdings das Kapital-Arbeits-Verhältnis im Osten Deutschlands laut Angaben des Statistischen Bundesamtes bei 84% des westdeutschen Niveaus.

Strukturwandel.

Ostdeutschland hat eine Phase intensiver Faktormobilität hinter sich. Derart massive Bewegungen von Produktionsfaktoren - hier Kapital gen Osten und Arbeit gen Westen - werden häufig von bedeutsamen strukturellen Änderungen begleitet, ein zu erwartender Prozess in einer Region, die lange von den Kräften der internationalen Spezialisierung und des Welthandels verschont war. Derweil findet eine starke, allerdings ungleichmäßige Erholung der ostdeutschen Industrie statt, die seit Mitte der 1990er Jahre auf eine erhebliche Umverteilung der Industrieproduktion gen Osten hindeutet.

Die auffälligen Unterschiede innerhalb der ostdeutschen Industrie lassen darauf schließen, dass die gesamtwirtschaftlichen Indikatoren erhebliche strukturelle Verschiebungen verbergen. So, wie es Friedrich August Hayek beschrieben hat, entdecken viele Branchen weiterhin ihre Rolle in der Weltwirtschaft, wobei die Exporte aus dem Osten im Vergleich zu den westlichen Staaten einen einzigartigen Wachstumspfad aufrechterhalten. Aber es sind auch eine Reihe anderer Faktoren am Werk, wobei sich in den meisten die Narben von Jahrzehnten sozialistischer Planung ebenso widerspiegeln wie fehlgeleitete westdeutsche Politikmaßnahmen. Der durch großzügige Steuererleichterungen für Investitionen in Wohngebäude ausgelöste Bauboom der 1990er Jahre etwa führte nicht nur zur massiven Ausweitung des Wohnkapitalstocks, sondern auch zu einem künstlich überdimensionierten Bausektor. Die Vereinigung führte auch nicht direkt dazu, dass das Niveau des öffentlichen Sektors auf westdeutsche Maße zurückgestutzt wurde, sondern dies erforderte ständige Anstrengungen, die auf große politische Hindernisse stießen. In realen BIP-Einheiten ausgedrückt, ist Ostdeutschland einschließlich Berlin von 1992 bis zur Wirtschaftskrise 2008 um etwa 2,7%, ohne Berlin um 3,7% jährlich gewachsen - verglichen mit 1,5% jährlichem realem Wachstum im Westen. Wenn man nur das verarbeitende Gewerbe betrachtet, belief sich das reale Wachstum im Osten auf 5,5% (einschließlich Berlin) und kolossale 8,1% ohne die (eindeutig nicht-industrielle) Hauptstadt. Man kann mit großer Zuversicht behaupten, dass die Deindustrialisierung des Ostens gestoppt und die Entwicklung umgekehrt wurde.

Zwar ist der Anteil Ostdeutschlands an der gesamtwirtschaftlichen Produktion weiterhin niedriger, als es dem Bevölkerungsanteil entspricht, und die Wachstumsraten sind auch Ausdruck des niedrigen Ausgangsniveaus der frühen 1990er Jahre, aber das gilt nicht für alle Wirtschaftszweige und Branchen. Weitere Verschiebungen der Industriestruktur zwischen Zweigen mit unterschiedlichen Wachstumsraten werden die gesamtwirtschaftliche Leistung beeinflussen, und zwar in der Zukunft immer positiver, je mehr angeschlagene Wirtschaftszweige verschwinden und je mehr die starken wachsen. Im verarbeitenden Gewerbe machen die neuen Bundesländer ohne Berlin nun 9% der gesamten deutschen Wertschöpfung in diesem Sektor aus, nach 7,6% im Jahr 2000 und 5,6% im Jahr 1995. In scharfem Kontrast hierzu steht, dass der Anteil der ostdeutschen Wertschöpfung im breit gefassten Dienstleistungssektor seit 1995 kaum, von 11,2 auf 11,7%, gestiegen ist. Hinter diesen Zahlen verbergen sich schrumpfende öffentliche und wachsende private Dienstleistungen. Der Anteil des Baugewerbes ist von 27,8% (1995) auf 16,9% (2005) gefallen, bleibt im Vergleich zu seinem westdeutschen Gegenstück aber noch überdimensioniert. Angesichts dieser gewaltigen Umwälzungen ist es nicht zu vermeiden, dass der Strukturwandel auch auf den Westen übergreift. In der Tat ist gleichzeitig mit der Ausdehnung des Produzierenden Gewerbes in den neuen Bundesländern ein deutlicher Wandel in den wirtschaftlichen Strukturen der alten zu erkennen.

Einer der wichtigsten Brennpunkte des Strukturwandels ist der Arbeitsmarkt. Ostdeutschland hat einen umwälzenden Strukturwandel erlebt - laut Schätzungen den Verlust von mehr als der Hälfte der Arbeitsplätze in der Industrie -, und dieses Ergebnis hat den strategischen Spielraum der Tarifverhandlungspartner erheblich eingeschränkt. Nach einer erfolgreichen Kampagne für Lohnverhandlungen in den ersten Jahren nach der Vereinigung fielen die gewerkschaftlichen Mitgliederzahlen der Tarifverhandlungspartner auf unter 20%. Gleichzeitig hat Unzufriedenheit mit dem Tarifverhandlungssystem dazu geführt, dass ostdeutsche Unternehmen die Arbeitgeberverbände verlassen und damit die Legitimität der Tarifverhandlungen in der Industrie, die in Deutschland einmal sehr stark waren, weiter geschwächt haben. Das Ergebnis war ein stetiger Rückgang der Lohnstückkosten, die einstmals als die höchsten in der Welt galten, nun erheblich niedriger als im Westen sind und damit eine Quelle für Wettbewerbsvorteile für neue ausländische Direktinvestitionen darstellen. Insgesamt sieht es so aus, als ob sich der Osten als Ausweg aus den Rigiditäten des Arbeitsmarktes herausstellt, die in der Diskussion der westdeutschen Arbeitsmärkte häufig betont werden.

Agglomeration und Standortwahl

Sicher ist es möglich, sich ein düsteres Bild Ostdeutschlands auszumalen - die Region verliert fortlaufend an Bevölkerung; bis zu 50000 Personen wandern jährlich ab. Die Investitionen sind auf einem Niveau stehen geblieben, das zwar beachtlich ist, aber keineswegs die Rekordzahlen aus der Mitte der 1990er Jahre erreicht. Selbst eine konventionelle Vorstellung der Volkswirtschaft würde eine düstere, pfadabhängige Zukunft für Ostdeutschland voraussagen. Diese Sichtweise spricht eher für die Vorstellung von Ostdeutschland als Nationalpark als für blühende Landschaften. Solange Menschen im erwerbsfähigen Alter Ostdeutschland verlassen, werden die langfristigen Anforderungen an das physische und das Humankapital für eine nachhaltige Entwicklung entsprechend zurückgehen.

Die wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen dieser Analyse sprechen eklatant gegen eine Politik des Laisser-faire. Ein positiver Schritt der Politik, der zu höheren Investitionen im Osten führt, würde die Erwartungen der Unternehmen und der Arbeitskräfte verändern, die sich dann wiederum gegen eine Abwanderung entscheiden würden; wenn die Arbeitskräfte bleiben, steigt die Produktivität der Investitionen in der Region und erhöht die Rendite des eingesetzten Kapitals, was wiederum mehr Investitionen anzieht.

Nach beinahe zwei Jahrzehnten haben die Agglomerationskräfte zum Entstehen einer zunehmend gitterartigen Entwicklungsstruktur im Osten Deutschlands geführt. Zwar scheinen die Mechanismen des endogenen Niedergangs am Werk zu sein, aber es sind auch viele Lichtblicke zu erkennen - außer Berlin wenigstens mehrere Großraumregionen, in denen die Bevölkerung gewachsen ist. Offenbar haben diejenigen, welche die Entvölkerung des Ostens betont haben, die Rolle der internen Wanderungsbewegungen, nicht nur nach Berlin, sondern auch nach Dresden, Leipzig oder Jena und eine Reihe anderer Städte, die man als Speckgürtel Berlins bezeichnet, unterschätzt. Die Ostdeutschen haben sich als weniger mobil erwiesen, als es die ökonometrische Datenlage, die nur auf durch Mobilität erzielbare Lohngewinne aufbaute, erwarten ließ. Im Rückblick wären selektive, speziell auf diese Gebiete gerichtete (und vielleicht auf Chemnitz, Cottbus, Gera, Magdeburg, Rostock oder Schwerin ausgedehnte) Politikmaßnahmen eine Alternative zu den gießkannenartigen Subventionen gewesen, die in schlecht ausgesuchten Infrastrukturprojekten endeten. Eine harte Selektionspolitik hätte wohl einen größeren Teil Ostdeutschlands vor dem wirtschaftlichen Niedergang gerettet.

Ein wenig berücksichtigter Vorteil Ostdeutschlands liegt in der geographischen Nähe der Region zu den Wachstumsmärkten der kommenden zwei bis drei Jahrzehnte. Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und andere Märkte Zentral- und Osteuropas sind rasch gewachsen. Ihre Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern hat auf Deutschland übergegriffen, und angesichts der Standortbedeutung für Handel und ausländische Investitionen ist es keine Überraschung, dass Ostdeutschland von dieser Nachfrage profitiert hat. Gleichzeitig waren die Direktinvestitionen aus Deutschland in diese Länder (vor allem in Polen) geradezu phänomenal. Die zunehmende Integration Ostdeutschlands mit Polen und anderen wachsenden Volkswirtschaften wird zusammen mit der fortschreitenden Vermögensbildung zu einer Renaissance der Grenzgemeinden und einer Stabilisierung der Grundstückswerte führen. Wenn Ostdeutschland beginnt, von ausländischen Direktinvestitionen polnischer und tschechischer Firmen und den Grundstückskäufen wohlhabender polnischer und tschechischer Familien zu profitieren, könnte das den Triumph der Wirtschaft über den Nationalismus einläuten.

Die Zukunft Ostdeutschlands

Die Deutschen haben auf ihrer Art der Vereinigung bestanden und einen hohen Preis dafür bezahlt. Das berauschende Wachstum des BIP in den ersten Jahren ist Mitte der 1990er Jahre zum Erliegen gekommen. Das ist zum Teil auf neue Steuerlasten im Zuge der Wiedervereinigung und zum Teil auf Gründe, die mit strukturellen Verschiebungen in der globalen Arbeitsteilung zu tun haben, zurückzuführen. Ein Großteil der Wirtschaft wurde 1990 durch die Währungsunion mit einem Federstrich zerstört; eine eigene Währung hätte den Ostdeutschen vielleicht fünf bis zehn Jahre an wirtschaftlichem Wohlstand beschert, aber sicherlich keine zwanzig Jahre. Das Ausmaß des Strukturwandels, der für eine Planwirtschaft notwendig ist, um international konkurrenzfähig zu werden, wurde unterschätzt. Bei einer um 70% des westdeutschen Niveaus schwankenden Pro-Kopf-Produktion und einer Arbeitsproduktivität von ungefähr 80% wird der weitere Konvergenzprozess eher schleppend verlaufen. Denn es geht nicht nur darum, die Ostdeutschen mit angemessenem physischem und Humankapital auszustatten, sondern auch darum, ihnen das gleiche Niveau an sozialer, institutioneller, geschäftlicher und Marketing-Infrastruktur sowie den richtigen Gütermix zur Verfügung zu stellen. Im Ergebnis wird die letzte Meile der Angleichung der Pro-Kopf-Produktivität und anderer Maßnahmen zur Sicherstellung der Wirtschaftskraft ohne weiteren Strukturwandel schwierig werden. Dennoch steht die ostdeutsche Wirtschaft aufgrund der bestandenen Feuerprobe sehr viel kräftiger und robuster da, als es die makroökonomischen Daten vermuten lassen.

Ostdeutschland steht eine höchst heterogene wirtschaftliche Zukunft bevor - nicht nur im qualitativen, sondern auch in einem sektoralen und räumlichen Sinn. In diesem Integrationsprozess bewegen sich die Produktionsfaktoren in entgegengesetzte Richtungen, selbst bei steigenden Produktionszahlen. Das Mobilitätsrennen zwischen Kapital und Arbeit hat zusammen mit tief greifenden strukturellen Veränderungen die Handlungsspielräume der Entscheidungsträger erheblich eingeschränkt. Beispielsweise hätte die Beibehaltung einer zweiten Währung bei Abwesenheit von Geldillusion wenig Erfolg gebracht, und angesichts der hohen Mobilität der Arbeitskräfte wären die Reallöhne in einer ostdeutschen Währung ebenso schnell gestiegen wie bei der Währungsunion. Faktormobilität war das Wahrzeichen der Integration und unterscheidet sie von ähnlichen Episoden in der Wirtschaftsgeschichte. Barrieren durch Sprache, Institutionen und kulturelle Unterschiede sind im vereinten Deutschland zu vernachlässigen; die Verhaltensmuster haben sich so signifikant angeglichen, dass man mittlerweile von einem gemeinsamen repräsentativen Haushalt sprechen kann.

Mit Blick nach vorne wage ich zu behaupten, dass das Glas eher halb voll als halb leer ist. Die kommenden Jahrzehnte werden Ostdeutschland ein relativ starkes Wachstum bescheren, das durch den Standortvorteil von den künftigen Wachstumsmärkten in Zentral- und Osteuropa geprägt sein wird. Dank der Erfahrungen der Vereinigung sind die Arbeitsmärkte flexibler als im Westen; der Druck des jüngsten Nachfrageeinbruchs für hochwertige Investitionsgüter und langlebige Konsumgüter wird wahrscheinlich im Westen strukturelle Veränderungen auslösen, die der Osten bereits durchgemacht hat. Während struktureller Wandel und Anpassungen einen Kern hoch effizienter Industriezweige retten werden, wird das stetige Abwandern der Bevölkerung dazu führen, dass der Osten Deutschlands im 21. Jahrhundert einem Flickenteppich gleichen wird, in dem sich Wachstumszentren mit Gegenden abwechseln werden, die von chronischer Entvölkerung, Abhängigkeit von Sozialtransfers und lokalem Niedergang geprägt sind.

Aus diesen Gründen komme ich zu einer nuancierteren und optimistischeren Einschätzung als meine Kollegen Sinn oder Uhlig. Ein langsames Ausbluten der Bevölkerung ist unvermeidbar, wird aber längerfristig von einem Nord-Süd-Gefälle überlagert, bei dem alte Standortvorteile und traditionelle Agglomerationsmuster in den mitteldeutschen Regionen behauptet und verstärkt werden müssen. Der radikale Strukturwandel auf den Güter- und Arbeitsmärkten hat Ostdeutschland für die Herausforderungen der Globalisierung gewappnet und den Boden für Gewinne aus dem anhaltenden Wachstum und der Prosperität der neuen Marktwirtschaften Zentral- und Osteuropas bereitet. Es würde nicht überraschen, wenn sich der Bevölkerungstrend im nächsten Jahrzehnt umkehrt - wenn Ostdeutschland nach mehr als einem halben Jahrhundert des Dornröschenschlafs seine Rolle als neuer Wachstumspol für den europäischen Wirtschaftsraum wahrnimmt.

Dieser für die Veröffentlichung gekürzte Aufsatz wurde für eine Konferenz des German Historical Institute in Washington, DC im September 2009 verfasst. Ich danke Susanne Schöneberg, Felix Strobel und Femke Schmarbeck für ihre wertvolle Unterstützung. Übersetzung aus dem Englischen: Angela Lechner, München.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Robert Barro, Eastern Germany's Long Haul, in: The Wall Street Journal vom 3.5.1991.

  2. Vgl. Michael Burda/Charles Wyplosz, Labor Mobility and German Integration: Some Vignettes, in: Horst Siebert (ed.), The Transformation of Socialist Economies, Tübingen 1992.

  3. Karl-Heinz Paqué zitiert Aufsätze des Sachverständigenrats sowie der Bundesbank, die sich vehement gegen die Wirtschafts- und Währungsunion aussprachen: vgl. Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit, München 2009. Frühe wirtschaftliche Analysen: George Akerlof et al., East Germany In From the Cold: The Economic Aftermath of Currency Union. Brookings Papers on Economic Activity, Washington, DC 1991; Michael Burda, Capital Flows and the Reconstruction of Eastern Europe: The Case of the GDR after the Staatsvertrag, in: Horst Siebert (ed.), Capital Flows in the World Economy, Tübingen 1991; Hans-Werner Sinn/Gerlinde Sinn, Kaltstart, München 1991; Irwin Collier/Horst Siebert, The Economic Integration of Post-Wall Germany, in: American Economic Review, 81 (1991), S. 196-201; Rüdiger Dornbusch/Holger Wolf, Eastern German Economic Reconstruction, in: Olivier Jean Blanchard/Kenneth A. Froot/Jeffrey D. Sachs (eds.), The Transition in Eastern Europe, Vol. I, Chicago 1994.

  4. Vgl. Tilman Brück/Heiko Peters, Twenty Years of German Unification: Evidence on Income Convergence and Heterogeneity. DIW Discussion Paper 925, Berlin, Oktober 2009.

  5. Vgl. Joachim Ragnitz, Warum ist die Produktivität ostdeutscher Unternehmen so gering? Erklärungsansätze und Schlussfolgerungen für den Konvergenzprozess, in: Konjunkturpolitik, 45 (1999) 3, S. 165-187.

  6. Bei einer im November 2009 im Auftrag des "Tagesspiegel" und des ZDF erhobenen Meinungsumfrage bezeichneten 86% der Befragten (85% im Westen, 91% im Osten) die Wiedervereinigung aus heutiger Sicht als richtig: www.tagesspiegel.de/politik/deutschland/
    Deutsche-Einheit;art122,2942683 (30.6.2010). Laut derselben Umfrage glauben jedoch 60% der Westdeutschen, dass die Wiedervereinigung eher den Ostdeutschen genutzt habe, während mit 34% der größte Anteil der Ostdeutschen denkt, dass eher die Westdeutschen die Gewinner der Einheit sind.

  7. Vgl. Ostdeutschland. Transformation seit 1990 im Spiegel wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren. Sonderheft 1/2009, Institut für Wirtschaftsforschung (IWH), Halle/S., August 2009, S. 74.

  8. Richtkoeffizienten stellten die eigene Einschätzung der Planungsministerien bezüglich ihrer Fähigkeit dar, ausländische Devisen durch internationalen Handel zu erhalten. Da sie diese Zahlen auf einem sehr detaillierten Niveau erhielten, waren Akerlof und seine Kollegen in der Lage, die Wettbewerbsfähigkeit der Industriezweige genau zu erfassen.

  9. Vgl. R. Dornbusch/H. Wolf (Anm. 3).

  10. Natürlich war es politisch zielführend, Pessimisten wie Oskar Lafontaine entgegenzutreten, der die gewaltige Steuerlast, welche die Vereinigung den westdeutschen Steuerzahlern auferlegen würde, antizipiert hatte. Die Eile, mit der die deutsche Einigung vorangetrieben wurde, ist als Versuch zu sehen, sich über rationale Diskussionen über die wirtschaftlichen Aussichten für Ostdeutschland hinwegzusetzen, da diese den Einigungsprozess verzögert hätten.

  11. Horst Siebert, Das Wagnis der Einheit. Eine wirtschaftspolitische Therapie, Stuttgart 1992.

  12. Vgl. Barry Eichengreen, One Money for Europe: Lessons from the U.S. Currency Union, in: Economic Policy, 10 (1990), S. 117-187.

  13. Vgl. R. Barro (Anm. 1).

  14. Vgl. dazu Michael Burda, Factor Reallocation in Eastern Germany after Reunification, in: American Economic Review, 96 (2006), S. 368-374; ders., What kind of shock was it? Regional Integration and Structural Change in Germany after Unification, in: Journal of Comparative Economics, 36 (2008), S. 557-567.

  15. Vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit, Juni 2009.

  16. Vgl. M. Burda 2008 (Anm. 14).

  17. Vgl. H.-W. Sinn/G. Sinn (Anm. 3); Hans-Werner Sinn, EU Enlargement, Migration and Lessons from German Unification, in: German Economic Review, 1 (2000) 3, S. 299-314.

  18. Vgl. K.H. Paqué (Anm. 3).

  19. Vgl. Tito Boeri/Alison Booth/Lars Calmfors, Unions in the 21st Century, Oxford 2005.

  20. Vgl. H.-W. Sinn/G. Sinn (Anm. 3).

  21. Vgl. Christian Merkl/Dennis Snower, The Caring Hand that Cripples: The East German Labor Market after Reunification, in: American Economic Review, 96 (2006), S. 275-382.

  22. Vgl. Harald Uhlig, Regional Labor Markets, Network Externalities and Migration: The Case of German Reunification, in: American Economic Review, 96 (2006), S. 383ff.

  23. Vgl. beispielsweise M. Burda 2006 (Anm. 14); Sebastian Böhm, Stabilität und Eindeutigkeit von Gleichgewichten in Modellen der räumlichen Faktormobilität in diskreter Zeit. Diplomarbeit, Humboldt-Universität zu Berlin, August 2009.

  24. Vgl. IWH (Anm. 8).

  25. Vgl. Jennifer Hunt, Staunching Emigration from East Germany: Age and the Determinants of Migration, in: The Journal of The European Economic Association, 4 (2006), S. 1014-1037; Michael Burda/Jennifer Hunt, From Reunification to Economic Integration: Productivity and the Labor Market in East Germany. Brookings Papers on Economic Activity, Washington, DC 2001.

  26. Jüngere Untersuchungen lassen eine Angleichung des Verhaltens der Ost- und Westdeutschen im Zeitablauf vermuten, vgl. z.B. M. Burda/J. Hunt (ebd.); Nicola Fuchs-Schündeln, Adjustment to a Large Shock - Do Households Smooth Low Frequency Consumption? Mimeo (unveröff. Paper), Harvard University 2005; Thomas Dohmen/Armin Falk/David Huffman/Jürgen Schupp/Uwe Sunde/Gert Wagner, Individual Risk Attitudes: New Evidence from a Large, Representative, Experimentally-Validated Survey. DIW Discussion Paper 511, Berlin, September 2005.

  27. Vgl. H.-W. Sinn (Anm. 17); H. Uhlig (Anm. 22).

Ph.D. Economics, geb. 1959; Professor am Institut für Wirtschaftstheorie II (Makro) an der Humboldt-Universität zu Berlin, Spandauer Straße 1, 10099 Berlin. E-Mail Link: burdamic@cms.hu-berlin.de