Einleitung
Die deutsche Einheit stellt heute für die alltägliche Lebenspraxis eine Selbstverständlichkeit dar. Zugleich lässt sich nicht nur an der Verteilung der wirtschaftlichen Leistungskraft und der Vermögen, der Binnenwanderungen oder anhand kollektiver Identitäten eine hartnäckige Ost-West-Differenz erkennen. Auch das Kommunizieren über die ostdeutsche Transformation und die deutsche Einheit zeigt bis heute deutliche Asymmetrien und Ungleichheiten.
Sich mit den Diskursen der Einheit zu beschäftigen, ist kein Selbstzweck. Diskursanalytische Zugänge behaupten, dass sich in den Ausmaßen, Inhalten und Formen der Diskurse nicht nur die sozialen Macht- und materiellen Verteilungsverhältnisse ausdrücken. Vielmehr repräsentiert die Diskursgestaltung selbst ein wichtiges Formierungselement der politischen, ökonomischen und kulturellen Machtstrukturen. Diskurse bilden soziale Realitäten nicht ab, sondern konstruieren sie in hegemonial umkämpfter Form, wodurch sie die Möglichkeiten der Veränderung sozialer Praxis mitbestimmen.
Wie haben sich vor diesem Hintergrund in drei soziopolitisch höchst relevanten Feldern (parteipolitisch-programmatischer, sozialwissenschaftlicher und massenmedialer Diskurs) die Diskurse über die deutsche Einheit und Ostdeutschland in zwanzig Jahren entwickelt? Welche Differenzen und Interdiskurse sind beobachtbar?
Diskursiver Bedeutungsverlust, Event-Orientierung, Ritualisierung
Die diskursive Beschäftigung mit dem Thema "Ostdeutschland" und "deutsche Einheit" hat in den vergangenen zehn Jahren weiter an Bedeutung verloren. In den überregionalen Massenmedien etwa haben sich - je nach Messmethode und Sample - die Anteile von Beiträgen zu Ostdeutschland und zum ostdeutschen Umbruch seit Anfang der 1990er Jahre halbiert oder sind, wie eine eigene Erhebung für zwei überregionale Tageszeitungen zeigt (siehe Abbildung der PDF-Version), sogar bis auf ein Achtel des Ausgangswertes geschrumpft. Das Ausmaß der Berichterstattung zur deutschen Einheit hat sich im selben Zeitraum noch einmal leicht verringert und bewegt sich heute im Bereich von etwa einem Prozent aller Beiträge.
Im sozialwissenschaftlichen Diskursfeld folgte dem Boom der Ostdeutschland- und Vereinigungsforschung eine Stabilisierung auf hohem Niveau bis zum Ende der 1990er Jahre. In den vergangenen zehn, vor allem aber fünf Jahren ist ein deutlicher Rückgang entsprechender Forschungsanstrengungen festzustellen. Die Verminderung bewegt sich im Bereich von etwa 30 bis 50 Prozent gegenüber den Höchstwerten.
Im parteipolitisch-programmatischen Diskurs, wie er sich exemplarisch in der Entwicklung von Parteitagsthemen, Berichten und Leitbildern zeigt, wird eine Dynamik sichtbar, die nach einem Hoch (1989/90-1993/94) zunächst ein deutliches Abschmelzen der Auseinandersetzung zeigt. Zwischen 1998, dem Regierungsantritt der rotgrünen Regierungskoalition, und 2005 erfolgte ein Wiedererstarken, das seitdem einer erneuten Schrumpfung gewichen ist, sich allerdings bis 2008/09 über dem Niveau der Jahre 1996/97 bewegt.
Ein wichtiges Merkmal der quantitativen Dynamik in allen drei Diskursfeldern ist die Event-Orientierung. Neben dem Hochschnellen der massenmedialen Aufmerksamkeit gegenüber dem Osten im Zusammenhang mit Großereignissen und Skandalen (G7-Gipfel in Heiligendamm; Investitionsruinen im Osten; Landtags- oder Bundestagswahlen) lösen diskursübergreifend Gedenk- und Feiertage, herausragend der Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober, und insbesondere deren Jubiläen (zuletzt 2004/05 sowie 2009/10) Schübe an medialer Beschäftigung aus, wobei seit Ende der 1990er Jahre vor allem in den Massenmedien und partiell im politischen Diskurs zugleich eine Ritualisierung erkennbar ist.
Parteipolitisch-programmatischer Diskurs
Der hegemoniale Diskurs im parteipolitisch-programmatischen Feld hat seit 1990 eine Reihe thematischer Wandlungen erfahren. Dabei lässt sich eine Verlaufskurve rekonstruieren, die bei staatsrechtlichen und politischen Aspekten ("äußere Einheit") ansetzte (1989-1991), dann die wirtschaftlichen Umbauprozesse in Ostdeutschland ("wirtschaftliche Einheit") sowie - zeitlich leicht versetzt - die institutionellen und politisch-kulturellen Vereinigungsprobleme fokussierte ("innere Einheit", 1992-1998). Daran anschließend kehrte der Diskurs mit neuen Akzentsetzungen zu Problemen der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen in Ostdeutschland zurück und fragte nach dem Maß, den Zeithorizonten und Wegen einer "sozialen Einheit" (1999-2009).
Für die Gestaltung der Diskurse und ihre Wirkungen ist es von zentraler Bedeutung, wie Themen diskursiv kodiert werden. Kodierungen umfassen einerseits die kognitive Ordnung des kommunizierten Materials. Dabei wird unter Bezug auf Weltbilder und Ideologien nicht nur eine Auswahl und Hierarchisierung von Themen sowie die Ein- und Ausgrenzung zulässiger Probleme vorgenommen, sondern ein Deutungs- und Erklärungsrahmen generiert, der spezifische Semantiken und Bedeutungsketten einschließt. Zudem erfolgt eine Bewertung diskursiver Beiträge und der ihnen zugrunde liegenden sozialen Praxis. Diese normative Komponente ist mit den realen Machtverhältnissen, also den Interessenlagen, Machtpositionen und Konfliktlinien im Handlungsfeld, unauflösbar verwoben.
Die Kodierungen durch die hegemonialen Diskursgemeinschaften und ihre Eliten sind nicht alternativlos. Neben Auseinandersetzungen und Entwicklungen innerhalb von Diskursgemeinschaften, hier etwa politische Parteien oder Koalitionen, sind idealtypisch zwei weitere Formen zu unterscheiden. Zum einen ringen konkurrierende Gemeinschaften im Rahmen des jeweils legitimen Diskurses, d.h. einer grundsätzlich geteilten Werteordnung, Weltdeutung und Semantik sowie wechselseitiger Anerkennung als legitime Diskursteilnehmer, um angemessene und machtvolle Wirklichkeitsdeutungen. Exemplarisch kann hier auf die politisch-programmatischen Konflikte zwischen CDU/CSU und SPD verwiesen werden. Zum anderen ist auf explizite Gegendiskurse aufmerksam zu machen. Diese ruhen auf substanziell anderen Weltbildern, Ideologien sowie Bewertungsrahmen und üben damit "Fundamentalkritik" an den hegemonialen Positionen, was bis zur Infragestellung des Macht- und Deutungsrahmens reichen kann. Damit sind kommunikative Missverständnisse, Barrieren oder sogar Exklusionen des Gegendiskurses verbunden. Der jahrelange Umgang von CDU/CSU und FDP mit der PDS etwa illustriert diese Praxis.
Für das politisch-programmatische Feld wird für die Jahre 1990 bis etwa 1997/98 eine hegemoniale Position des liberal-konservativen Diskurses erkennbar, wobei die einflussreichsten Sprecherinnen und Sprecher Westdeutsche waren. Diese Position kodierte den Vereinigungsprozess durch eine doppelte Deutungs- und Bewertungsfigur: Einerseits sollten durch den "Beitritt" nach Artikel 23 GG nicht nur die DDR-Eliten endgültig entmachtet und weitere "soziale Experimente" ausgeschlossen werden, sondern rasch "blühende Landschaften" in den neuen Ländern entstehen. Dieses "Aufblühen" sollte andererseits durch das Programm "Aufbau Ost" unterstützt werden, das als kurzfristiger solidarischer Kraftakt aller Deutschen kommuniziert wurde. "Beitritt" und "Aufbau" suggerierten dabei sowohl die Notwendigkeit eines wirklichen Neubeginns - also keines Umbaus - als auch die klare Ausrichtung auf einen institutionellen "Nachbau West" sowie (politisch-)kulturelle Anpassungsprozesse des Ostens, die schließlich zur "inneren Einheit" führen sollten.
Der alternative Diskurs wurde von SPD und Bündnis 90/Die Grünen geführt, wobei hier ostdeutsche Politikerinnen und Politiker deutlich stärker profilbildend wirkten. Dieser Diskurs setzte drei zentrale Kontrapunkte: Erstens sollte die deutsche Einheit keinen einseitigen Anpassungsprozess vorsehen, sondern in Reflexion der DDR-Geschichte und der demokratischen Reformen 1989/90 als Vereinigung Gleicher vollzogen werden. Dafür standen symbolisch der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR und die favorisierte Form der Vereinigung nach Artikel 146 GG. Zweitens wurde in dieser links-libertären Diskursgemeinschaft bestritten, dass es angesichts der Misserfolge im "Aufbau Ost" (Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit) zu einer raschen Herstellung gleichwertiger Wirtschafts- und Lebensverhältnisse wie sozialer Identitäten und Wertordnungen nach dem Muster der alten Bundesrepublik kommen werde. Demgegenüber wurde auf die produktive Funktion eigenständiger Institutionalisierungen, soziokulturell differenter Erfahrungen und pluraler Identitäten aufmerksam gemacht. Drittens wurde trotz der unverkennbaren Erfolge die Notwendigkeit einer längerfristigen staatlichen und gesellschaftspolitischen Gestaltung einer "sozialen Einheit" hervorgehoben. Diese Kodierungen gewannen ab 1994/95 an Einfluss und begannen die liberal-konservative Hegemonie zu unterminieren.
Marginalisiert und in den ersten Jahren sogar exkludiert blieb der politische Gegendiskurs, wie er von der PDS unter großer Dominanz ostdeutscher Sprecherinnen und Sprecher geführt wurde. Hier kodierten das Verständnis des Beitritts als "Kolonialisierung", materielle und symbolische "Enteignung" sowie ein "zweitklassiger" Status der Ostdeutschen die Wirklichkeitsdeutung. Dabei wurde der Gesamtprozess von Transformation und deutscher Einheit in den ersten Jahren fast durchgängig als Misserfolg bewertet.
Zusammenfassend lassen sich für die 1990er Jahre deutliche Spaltungstendenzen mit der Folge wechselseitiger Sterilisierungen und Ritualisierungen feststellen, wobei die Abschottungen zwischen den politischen "Blöcken" die entscheidenden darstellten, die von ost-westdeutschen Asymmetrien ergänzt wurden. Diese Konstellation hat sich in den vergangenen zehn Jahren zum Teil deutlich verändert. Sowohl die Dynamiken des Transformations- und Vereinigungsprozesses mit seinen wechselnden komplexen Problemlagen und ambivalenten Zwischenbilanzen wie die zwischen den Blöcken gebildeten Koalitionen auf Landes- und Bundesebene haben zu einer partiellen Verwischung diskursiver Lagergrenzen, ja zu wechselseitigen inhaltlichen Annäherungen gegenüber den (ost-)deutschen Entwicklungsperspektiven geführt.
Aus den jüngsten Leitbildern für Ostdeutschland (2008/09) lassen sich lagerübergreifend zwei zentrale Referenzpunkte destillieren. Der erste besteht in der Vorstellung von sozialer Gleichheit bzw. Gleichwertigkeit zwischen Ost- und Westdeutschland. Diese erstreckt sich nicht allein auf materielle Einkünfte, Anrechte und Leistungen sowie Lebensbedingungen ("Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse", Art. 72 GG). Sie enthält auch demokratische Partizipation und die soziale Wertschätzung von gelebten Leben, von Eigensinn und Identitäten. Allerdings differieren dabei die Ausdeutungen: Während die CDU hinsichtlich des materiellen Gleichwertigkeitsaspekts am reserviertesten geblieben ist und zugleich auf wachsende Defizite in westdeutschen Problemregionen verweist, beharrt Die Linke auf einer engen Interpretation unter gleichzeitiger Hervorhebung der Überwindung sittlicher Missachtungen.
Eine zweite, stärker auf die ostdeutschen Zukunftschancen zielende Referenzfolie bedient sich modernisierungstheoretischer Modelle. Hier betonen alle Parteien die erheblichen sozioökonomischen Entwicklungschancen Ostdeutschlands, wodurch die neuen Bundesländer zu Schrittmachern der Modernisierung Deutschlands und zu europäischen Modellregionen werden können. Diese Referenzfolie wird in die überwölbenden Weltbilder und Ideologien der Parteien integriert, so dass für die CDU die "Chancengesellschaft" unter Betonung investiver Potenziale im Mittelpunkt steht, wohingegen die SPD das Leitbild eines "modernen und sozialen" Ost- und Gesamtdeutschlands mit Blick auf eine moderne Arbeitnehmerschaft entwirft. Bündnis 90/Die Grünen wie Die Linke verorten demgegenüber die Chancen Ostdeutschlands im "doppelten Umbruch"
Sozialwissenschaftlicher Diskurs
Der sozialwissenschaftliche Diskurs zeichnet sich zunächst thematisch durch eine dem politisch-programmatischen Diskurs vergleichbare Verlaufskurve aus. Dabei zeigte sich in den ersten beiden Jahren eine gewisse Sprach-, ja Konzeptlosigkeit in der Forschung, die von der "friedlichen Revolution" und der Dynamik des deutschen Vereinigungsprozesses überrascht worden war. Schnell kam es dann aber zu einer Konturierung des Diskurses, der konzeptuell ein polares Feld aufspannte: Auf der einen Seite wurde ein Erklärungs- und Deutungsrahmen entwickelt, der die ostdeutsche Transformation als "nachholende Modernisierung" (W. Zapf) und den Vereinigungsprozess im Kern als institutionellen Implementationsprozess der bundesdeutschen Ordnung von oben nach unten sowie paralleler Enkulturationen der Ostdeutschen interpretierte. Schon 1995/96 wurde in dieser wissenschaftlichen Diskursgemeinschaft, die zwar in einzelnen Aspekten Kritik am realen Vereinigungsprozess übte, sich aber insgesamt affirmativ zum politischen Beitrittsmodell und seiner Transformationslogik verhielt, von einem (weitgehenden) Erfolg des Umbaus und der Vereinigung gesprochen, wodurch sich weitere, exzeptionelle Transformations- und Vereinigungsforschung erübrige.
Auf der anderen Seite etablierte sich ein Erklärungs- und Bewertungsrahmen, der sich kritisch mit dem systemtheoretisch-modernisierungstheoretischen Modell auseinandersetzte. Dabei sind zwei Varianten zu unterscheiden. Ein alternativer Diskurs kritisierte die Leerstellen im Bereich von Machtinteressen und Machtverhältnissen im Vereinigungsprozess, die Unterbelichtung soziokultureller Aspekte ("Sozialintegration" gegenüber institutioneller "Systemintegration"), mithin den Mangel an Analysen ostdeutscher Transformationsprozesse von unten. Darüber hinaus wurde die einengende Perspektive auf deutsch-deutsche Verhältnisse, auf den Nachbau der (keineswegs umfänglich "modernen") westdeutschen Institutionenordnung sowie ein Mangel an mittelosteuropäischen Vergleichen beanstandet. Mit dieser erkenntniskritischen Positionierung war im Regelfall eine Gesellschaftskritik am Modus der Vereinigung und der ostdeutschen Transformation verbunden. Diese konzentrierte sich auf das Modell einer neoliberal und neokonservativ geleiteten Beitrittslogik und des Institutionentransfers unter Marginalisierung bzw. Missachtung ostdeutscher Subjekte, deren Erfahrungen, Interessenlagen und Partizipationschancen ("Bürger zweiter Klasse"). Für diese Diskursgemeinschaft überwogen bis Mitte der 1990er Jahre die Misserfolge des Vereinigungsprozesses in ökonomischer, sozialer und soziokultureller Hinsicht, ohne den durch die gewaltigen finanziellen Transfers von West nach Ost möglich gewordenen Massenwohlstand gering zu schätzen. Ein zweiter alternativer Diskurs radikalisierte diese Kritik und positionierte sich als prinzipieller Gegendiskurs. Für diesen handelte es sich bei der Vereinigung um eine "Kolonialisierung der DDR" (W. Dümcke/F. Vilmar), welche die Ostdeutschen zu reinen Objekten degradierte.
Zwar wurden diese Diskurskonstellation und ihre Spaltungslinien auch von den jeweils herangezogenen Theorien und Forschungsprogrammen grundiert. Als einflussreicher erwiesen sich aber politisch-ideologische Verortungen, der soziale und akademische Status sowie die Herkunft. Während die erste Position mit ihren heterogenen Spielarten im Kern von der akademisch-professionellen Soziologie und in ihr durch westdeutsche Forscherinnen und Forscher mit eher liberal-konservativen politischen Einstellungen vertreten wurde, sammelten sich im erstgenannten alternativen Diskurs neben einer Minderheit westdeutscher SozialwissenschaftlerInnen des akademischen Betriebs vor allem Ostdeutsche mit eher linksreformistischer Orientierung, wobei letztere bestenfalls am Rand der akademischen Forschung (als befristet Beschäftigte) oder im freien außeruniversitären Raum agierten. Die Position des radikalen und akademisch weitgehend ausgegrenzten Gegendiskurses wurde von wenigen linken westdeutschen, aber auch von im Zuge des Elitentransfers akademisch exkludierten ostdeutschen, oft älteren Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern eingenommen. Es kann nicht überraschen, dass der erstgenannte Diskurs eine hegemoniale Stellung eroberte und sie in den ersten fünf Jahren auch hielt. Danach schwand zwar sein Einfluss, und die Hegemonie ging schrittweise an den zweiten Diskurs über. Das war aber mit einem deutlichen Bedeutungsverlust dieses Forschungsfeldes für die akademisch-professionelle Sozialwissenschaft verbunden. Seitdem wandert eine schrumpfende Ostdeutschland- und Vereinigungsforschung immer stärker in den Osten und an freie außeruniversitäre Institute jenseits des akademischen Mainstreams.
Inhaltlich war seit Mitte/Ende der 1990er Jahre eine Vermittlung der ersten beiden Positionen und die Entwicklung empirisch gesättigter, komplexer und langzeitorientierter Erklärungs- und Bewertungsmodelle beobachtbar. Die seit etwa 2001/02 erkennbare Wiederaufwertung wirtschaftlich-sozialer Themen war nicht nur mit der endgültigen Überwindung aller Konzepte einer westdeutschen "Blaupause" und uniformen "Gleichheit" verbunden, sondern zielte mit dem Forschungsprogramm des "doppelten Umbruchs" und der Integration neuer Aspekte, wie sie die Schlagwörter Nachhaltigkeit, Innovation, Region, Demographie und Diskurs markieren, auf eine Freilegung genuin ostdeutscher Zukunftschancen und sogar "Avantgardismen" (W. Engler), die für den Gesamtstaat innovative Entwicklungskorridore öffnen.
Mit diesen neuen Orientierungen ist es dem sozialwissenschaftlichen Diskurs seit Ende der 1990er Jahre gelungen, trotz seiner akademischen Marginalisierung wieder ein aktiver und innovativer Partner im Interdiskurs mit politischen Akteuren zu werden und an der Formierung neuer Leitbilder für (Ost-)Deutschland entscheidend mitzuwirken.
Massenmedialer Diskurs
Die Sonderstellung des massenmedialen Diskurses wird bereits an der Entwicklung seiner Themen erkennbar. Im deutlichen Unterschied zu den beiden anderen Feldern hat im vergangenen Jahrzehnt, vor allem in den Jahren 2004 bis 2008, die Beschäftigung mit wirtschaftlich-sozialen Themen und insbesondere mit Entwicklungen im Bereich der Unternehmen sowie der Innovations- und Bildungschancen im Osten erheblich nachgelassen - auf etwa 50 Prozent des Ausgangswertes. Dafür haben politische Themen etwas gewonnen. Wichtiger aber erscheint der gegenwärtige Trend einer "Verschiebung" des Themas Ostdeutschland in den Bereich Feuilleton und "Unterhaltung": Der Anteil der Beiträge dieses Ressorts hat sich annähernd verdoppelt.
Dieser Befund konvergiert mit Inhaltsanalysen des massenmedialen Diskurses in den Jahren zwischen 1990 und 2005/07. Neben der bereits vermerkten Event-Orientierung zeichnete er sich einerseits durch die Exotisierung der Ostdeutschen und Ostdeutschlands, also die Thematisierung ihrer vermeintlichen Besonderheiten, Abweichungen und Anomalien gegenüber Westdeutschland, aus. Anderseits wurden ostdeutsche "Idiosynkrasien" und Transformationsprobleme häufig skandalisiert und der öffentlichen Erregung, der Lächerlichkeit, aber auch distanzierender Belehrung preisgegeben. Die wichtigsten skandalträchtigen Themen waren "Vergangenheitsbewältigung" (DDR-Herrschaftsregime, SED/Stasi-Seilschaften, Dopingpraxis), Transferproblematik ("Daueralimentierung des Ostens", "Milliardengrab Ost", Rentenhöhen im Osten) sowie Politik und Personal der PDS/Die Linke. Dabei wurde in der Häufigkeit, der jeweiligen Ausrichtung und in der Bewertung einerseits eine politisch-kulturelle Differenzierungslinie, andererseits eine deutliche Ost-West-Scheide sichtbar. In den überregionalen Print- wie elektronischen Medien (Sendeformaten) mit Standort und/oder starken Zielgruppen in den neuen Ländern ("SuperIllu", "Berliner Zeitung" oder das politische TV-Magazin "Fakt" des MDR) besaß das Thema Ostdeutschland einen wesentlich höheren Stellenwert als in Medien bzw. Formaten mit eindeutig west- und gesamtdeutscher, eher konservativer oder auf die Wirtschaft zielender Ausrichtung (z.B. FAZ, taz, "Capital", "Focus" oder das TV-Magazin "Report" des BR). Kodeseitig überwog im Westen in den meisten überregionalen Medien wie FAZ oder "Focus" ein exotisierender, skeptischer Blick und eine Negativbewertung Ostdeutschlands und der Ostdeutschen, wobei sich die linksliberalen Blätter ("Die Zeit", taz) um Neugier, Offenheit und einen Blick von unten auf die Vereinigungsprozesse bemühten und sich insofern von Einseitigkeiten bis zu einem gewissen Grade absetzten. Umgekehrt dominierten im Osten ("SuperIllu", "Neues Deutschland") Heimatnähe, Verklärung, Ostalgie und die Skandalisierung deutsch-deutscher "Ungerechtigkeiten".
Zusammenfassend erschienen Ostdeutschland und Ostdeutsche in den hegemonialen Massenmedien zwischen 1993 und 2007 vor allem als geschichtliche, insbesondere durch das negativ bewertete "Herrschaftsregime der DDR" (aus-)gezeichnete Bevölkerungsgruppe; als etwas Besonderes, als exotische und abgeschlagene Peripherie; als Belastung der bundesrepublikanischen Gesellschaft, vor allem ihres Wohlstandes; als passive, abwartende, (er)leidende Bevölkerungsgruppe; insgesamt als Region, für die negative Zukunftsaussichten bestehen. Dieser bis in die jüngste Zeit reichende hegemoniale Diskurs setzt sich mit seiner Kodierung deutlich von den seit Ende der 1990er Jahre erfolgten Verschiebungen und inhaltlichen Veränderungen in den beiden anderen Diskursfeldern ab. Erst seit wenigen Jahren gibt es signifikante Ansätze, die Eigenartigkeit des Ostens und der Ostdeutschen nicht nur abwertend oder nostalgisch zu gebrauchen, sondern durch die Verknüpfung mit "Hoffnung", "Aktivität" oder "Innovation" positiv zu besetzen und damit auch für Debatten um die Zukunft Gesamtdeutschlands zu öffnen. Ob und inwieweit sich dieses neue Diskursmoment nachhaltig durchsetzen wird, kann gegenwärtig noch nicht gesagt werden.
Plausibilisiert wird die lang anhaltende Hegemonie des Ausblendungs-, Absonderungs- und Negativdiskurses, wenn zum einen an die nach wie vor bestehenden massenmedialen Teilöffentlichkeiten in Ost- und Westdeutschland gedacht wird. Einerseits lesen Ostdeutsche im Durchschnitt deutlich weniger überregionale Tageszeitungen, Wirtschaftsmagazine und politisch orientierte Wochenzeitschriften, wohingegen spezielle "Ostzeitungen" (herausragend: "SuperIllu") und Regionalblätter sowie die privaten Fernsehsender hohe Verbreitung besitzen. Andererseits erweist sich der Mediensektor nicht nur bezogen auf die Eigentümerstruktur als westdeutsche Domäne. So befinden sich bis auf wenige ostdeutsche Ausnahmen mit unterdurchschnittlichen Auflagenhöhen (wie "Neues Deutschland") alle Zeitungen und Zeitschriften mehrheitlich im Besitz westdeutscher oder internationaler Eigentümer. Auch die Chefredaktionen - selbst der ostdeutschen privaten wie öffentlich-rechtlichen Medien - werden von westdeutschen Journalisten dominiert.
Von Diskursmauern zu Diskursbrücken?
Vier Befunde der Analyse sind zu resümieren. Erstens springt die durchgehende Schrumpfung der Beschäftigung mit Ostdeutschland und der deutschen Einheit in allen drei Feldern ins Auge, die im sozialwissenschaftlichen und massenmedialen Feld am ausgeprägtesten ist. Zweitens ist auffällig, dass in den hegemonialen Diskursen aller drei Felder über lange Zeit eine Kodierung Ostdeutschlands und Ostdeutscher als "besonders", "zurückgeblieben", "problematisch" oder "belastend" vorgenommen wurde, wobei diese zuerst im parteipolitisch-programmatischen und sozialwissenschaftlichen Feld relativiert bzw. durch neue Hegemonien überwunden wurde, hingegen in den einflussreichen Massenmedien bis heute relevant ist. Drittens befördert die - allerdings parteipolitisch und politisch-kulturell gebrochene - diskursive Ost-West-Scheide in Ausmaß, Themenselektion und (bewertender) Kodierung die Existenz von Diskursmauern zwischen beiden Landesteilen. Dabei scheinen die Massenmedien nicht nur die "höchsten" Mauern errichtet zu haben, sondern sich auch die längste Zeit mit ihrem Abtragen zu nehmen, womit sie den anderen beiden Diskursfeldern um fünf bis zehn Jahre hinterherhinken. Viertens schließlich ist bemerkenswert, dass sich die Ostdeutschen in allen Feldern in der Position subalterner Sprecherinnen und Sprecher befinden, jedenfalls nur ausnahmsweise zu den einflussreichen "Diskurseliten" gehören, wobei das Maß der westdeutschen Dominanz vom politisch-programmatischen über das sozialwissenschaftliche zum massenmedialen Feld zunimmt.
Eine abschließende Bewertung muss zunächst konstatieren, dass weder die feldübergreifende Schrumpfung noch ein Minoritätenstatus der Ostdeutschen für sich genommen problematisch sind. Ersteres lässt sich auch als "Ankunft im Alltag" der deutschen Einheit interpretieren, der ein außerordentliches Maß der Beschäftigung nicht mehr erfordert. Letzteres ist zunächst rein faktisch der Fall: Den heute etwa 13 Millionen Ostdeutschen stehen eben über 65 Millionen Westdeutsche gegenüber. Dass die Ostdeutschen damit nicht einen gleich großen diskursiven "Raum" wie die Westdeutschen beanspruchen können, ist evident und demokratisch.
Was aber aus wohlfahrtsdemokratischer Perspektive anhaltend problematisch ist und der Veränderung bedarf, ist erstens die Überwindung der nach wie vor verbreiteten Devianz- und mehr noch: Subalternitätsperspektive auf Ostdeutschland. Tatsächlich hat der - demokratisch legitimierte - Beitrittsmodus der Vereinigung in allen Diskursen Westdeutschland (bzw. die alte Bundesrepublik) als "Normal Null" (K.S. Roth) gesetzt, an dem sich alles Ostdeutsche messen lassen muss, dem es untergeordnet ist. Es ist das Andere, welches sich in dem beitrittsbedingten Deutungs- und Bewertungsrahmen immer besonders zu rechtfertigen hat. Zwar hat diese Logik im Zuge des Transformations- und Vereinigungsprozesses Risse bekommen. An ihrer Aufhebung muss aber in allen Diskursfeldern weiter "gearbeitet" werden, soll eine prinzipielle materielle und symbolische Gleichheit der Bürger in Ost und West erreicht werden. Dabei ist nach allen aktuellen Umfragen und Analysen für die meisten Ostdeutschen die sittliche Anerkennung oder soziale Wertschätzung als Gleiche weitaus wichtiger als ein schnelles oder vollständiges Erreichen einer umstrittenen bleibenden "Gleichwertigkeit der materiellen Lebensverhältnisse".
Kaum weniger problematisch sind zweitens nicht nur die vor allem in den Massenmedien fortbestehenden ost- und westdeutschen Teilöffentlichkeiten, die wechselseitiges Anerkennen, Lernen und Gestalten einer gemeinsamen Zukunft erheblich erschweren. Auch der bis heute defizitäre, demokratietheoretisch aber so zentrale diskursive Austausch der Massenmedien mit dem politisch-programmatischen und dem sozialwissenschaftlichen Feld muss befördert werden.
Drittens schließlich brauchen wirklich demokratische Diskurse der Einheit eine angemessene Vertretung der Ostdeutschen in den hegemonialen Diskurseliten, mithin die Überwindung ihrer bis heute anhaltenden Marginalisierung in den Eliterekrutierungen jenseits der legislativen Sphäre.