Einleitung
Der Ruf nach einer internationalen Regulierung von Arbeit hat die Entwicklung der Industriegesellschaften seit ihrem Entstehen begleitet. Seit Beginn der Industrialisierung in Europa nach 1750 gerieten traditionelle Wirtschafts- und Sozialordnungen unter den Druck einer Dynamik, in welcher die weniger produktive durch die produktivere Arbeit verdrängt wurde. Durch die neue dramatische Entwicklungsdynamik wurde den Menschen in traditionellen (allermeist bäuerlichen) Wirtschafts- und Lebensweisen oft die materielle Grundlage entzogen, ohne dass ihnen ausreichende Ressourcen für wirtschaftliche Alternativen zur Verfügung standen; und mit dem heraufziehenden Bürgertum wurden traditionelle Herrschafts- und Ordnungsvorstellungen delegitimiert, ohne dass sich für die große Mehrheit der Bevölkerungen die Lebensverhältnisse verbesserten. Damit stellte sich die Problematik ordnungspolitischer Rahmenbedingungen für Wohlstands- und Wohlfahrtsmehrung: Reicht es aus, der Wirtschaftsdynamik mglichst ungehindert freien Lauf zu lassen oder bedarf es politischer Gestaltungsräume zur ihrer Lenkung? "Ein internationales Gesetz über die industrielle Arbeit ist die einzig mögliche Lösung des großen Sozialproblems", urteilte der elsässische Besitzer einer Seidenmanufaktur Daniel Legrand schon 1857 und setzte sich für eine auf sechs Stunden am Tag begrenzte Arbeitszeit für Kinder ein. Anlässlich der Weltausstellung von 1900 in Brüssel bildete sich die private Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz und bewirkte 1906 in Bern die Unterzeichnung erster zwischenstaatlicher Abkommen über Produktionsbedingungen wie das Verbot des hochgiftigen weißen Phosphors bei der Fertigung von Streichhölzern.
Aber erst nach dem Zivilisationsschock des Ersten Weltkriegs kam es im Rahmen des Friedensvertrags von Versailles 1919 zur Gründung der bis heute bestehenden Internationalen Arbeitsorganisation (IAO). Den gesellschaftlichen Anstößen zu ihrer Gründung entsprechend sah sie für jedes Mitgliedsland eine "dreigliedrige" Beteiligung von Regierung, Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen bei allen Beratungs- und Beschlussfassungen vor. In der Präambel zu ihrer Verfassung von 1919, die bis heute gilt, heißt es: "Der Weltfrieden kann auf die Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden. Nun bestehen aber Arbeitsbedingungen, die für eine große Anzahl von Menschen mit soviel Ungerechtigkeit, Elend und Entbehrungen verbunden sind, dass eine Unzufriedenheit entsteht, die den Weltfrieden und die Welteintracht gefährdet. Eine Verbesserung dieser Bedingungen ist dringend erforderlich."
Das bis heute einzigartig für internationale Organisationen vorgesehene Vertretungsprinzip der Dreigliedrigkeit bringt zum Ausdruck, dass Gerechtigkeit in einer Weltsozialordnung innerhalb und zwischen Staaten auf der Anerkennung gleichberechtigter Interessen beruht, die in Verhandlungen über Arbeits- und Sozialbedingungen einbezogen werden müssen. Bekräftigt und völkerrechtlich weiterentwickelt wurde diese frühe Auffassung noch während des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Jahrzehnten danach: "Der Kampf gegen die Not muss innerhalb jeder Nation und durch ständiges gemeinsames internationales Vorgehen unermüdlich weitergeführt werden", wird in der IAO-Erklärung von Philadelphia von 1944 unterstrichen. Auch werden gemäß der 1945 angenommenen Charta der Vereinten Nationen (VN) laut Artikel 55 die "Verbesserung des Lebensstandards, die Förderung von Vollbeschäftigung und der Voraussetzungen für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und Aufstieg" angestrebt. Einschlägige Artikel enthält überdies die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Und die beiden Menschenrechtspakte, der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) von 1966 formulieren in ihren Präambeln analog, dass das Ideal vom freien Menschen, der frei von Furcht und Not lebt, nur verwirklicht werden könne, wenn Verhältnisse geschaffen würden, in denen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte die gleiche Bedeutung hätten wie bürgerliche und politische Rechte.
Der IAO kommt als VN-Sonderorganisation zentrale Bedeutung zu, wenn es angesichts gravierender Wirtschafts- und Sozialkrisen um die soziale Dimension einer global governance geht. Hier wird Arbeitspolitik als Grundlage für jede weiter gehende Sozialpolitik gesetzt, der es neben Regeln auch um Ausgleich durch Umverteilung und Versorgung mit dem Lebensnotwendigen gehen muss. So wurden in den 91 Jahren des Bestehens der IAO von der Internationalen Arbeitskonferenz (Plenarorgan der IAO) über 188 (ratifikationsbedürftige) Übereinkommen und 199 Empfehlungen angenommen, 76 Übereinkommen wurden im letzten Revisionsprozess als aktuell bestätigt und den heute 183 Mitgliedstaaten zur Ratifikation empfohlen, auf deren völkerrechtlich verbindlicher Basis umfangreiche Aufsichtsverfahren in Gang gesetzt werden. Zu diesen Verfahren gehören neben regelmäßigen Staatenberichten und ihrer Auswertung während der jährlich tagenden Internationalen Arbeitskonferenz auch Beschwerde- und Klageverfahren durch Gewerkschafts- und Regierungsvertreter und den Verwaltungsrat (exekutives Organ der IAO).
Neben den auf Normen bezogenen Aktivitäten ist der IAO-Stab im Bereich der technischen Hilfe und des capacity building tätig und mit der ständigen Weiterführung und Revision der organisatorischen Wissensbasis befasst, bei der es um Analysen und Lageeinschätzung in den verschiedenen sozioökonomischen Kontexten der Welt, auch um Evaluationen eigener Aktivitäten geht. Dies ist auch erforderlich, weil sich seit der Gründung der IAO die von ihr in den Blick genommene Arbeitswelt stark verändert hat. Mit der Dekolonisierung und den neuen Ländermitgliedschaften wuchs die Herausforderung, Arbeit in einem entwicklungspolitischen Zusammenhang zu betrachten; mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und einem neuen Globalisierungsschub rückten erneut Reichweite und Geltung der universell konzipierten, aber flexibel umzusetzenden Arbeits- und Sozialstandards in den Mittelpunkt.
Veränderungen der Arbeitswelt durch Globalisierung
Nach dem zweiten Öl-Schock Ende der 1970er Jahre, durch den in den Industriestaaten Stagflation (Nullwachstum bei steigender Inflation) und ein dramatischer Anstieg von Arbeitslosigkeit ausgelöst wurde, zerbrach der Jahrzehnte währende politische Konsens innerhalb der Industriegesellschaften über Grundprinzipen von Sozialstaatlichkeit. Dominant wurde die Ökonomie einer fälschlicherweise "neoliberal" genannten Schule, die auf rein wirtschaftliche Anreize als Grundlage von Wachstum und Beschäftigung setzt und in jeglicher Regulierung des Arbeitsmarkts tendenziell schädliche Marktverzerrungen sieht. Entsprechend wurden Strategien der Privatisierung, Rücknahme des öffentlichen Beschäftigungssektors, Rückbau von Arbeitsschutz und sozialer Sicherung, Liberalisierung von Handel und Finanzen und eine restriktive Geld- und Steuerpolitik als angemessene Politik propagiert und durchgesetzt. In den verschuldeten Ländern Lateinamerikas, Afrikas und einiger asiatischer Länder wurde in den 1980er Jahren eine solche Politik auch konsequent im Rahmen des Washingtoner Konsenses in Gestalt von (Staatsaktivitäten abbauenden) "Strukturanpassungsplänen" als Bedingung für die Gewährung von Krediten von Weltwährungsfonds und Weltbank verfolgt. Auch in den EU-Ländern und in der EU-Kommission fanden, wenngleich vielerorts durch tradierte Politikkulturen gedämpft, neoliberale Rezepte einer weitgehenden Deregulierung Anklang. Am weitesten wurden die Finanzmärkte dereguliert, mit den inzwischen bekannten Ergebnissen einer Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise. Im Zuge dieser Entwicklung haben fast alle Staaten einen Teil ihrer bis dahin vorhandenen politischen Steuerungsfähigkeit verloren. Sozialstaatliche Vorkehrungen werden seitdem weniger unter dem Gesichtspunkt einer öffentlichen Investition für eine gewünschte Sozialintegration als hinsichtlich eines vermeintlichen Nachteils im globalen Wettbewerb um Privatinvestitionen betrachtet.
Seit den 1970er Jahren investieren multi- und transnational agierende Unternehmen mit Hauptsitz in den Industrieländern (und neuerdings auch in den asiatischen Schwellenländern) nicht nur - wie schon zuvor - weltweit in den Abbau von Rohstoffen und in die Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte für den Export; sie errichten auch weltweit Produktionsstätten für industrielle Güter - dies sowohl zur Markterschließung vor Ort (wie in Brasilien oder China) als auch mit dem Ziel der Kostensenkung für die Belieferung des eigenen heimischen Marktes in den Industriegesellschaften (outsourcing, insourcing). Dadurch wird der Welthandel zu einem erheblichen Anteil zu einem Austausch von Waren zwischen verschiedenen Standorten von Multis. 1999 machte beispielsweise solcher "Intrafirmenhandel" ein Drittel des Handels zwischen Japan und den USA aus. Schon ab den 1970er Jahren wuchs der Welthandel prozentual stärker als die Weltproduktion von Gütern, und ab Mitte der 1980er Jahre stiegen auch die grenzüberschreitenden Kapitalbewegungen auf rasante Weise an - weltweit, aber auf bestimmte Kernregionen konzentriert; schließlich begannen reine Finanztransaktionen die Produktivkapitalbewegungen bei Weitem zu überschreiten. Die Aktivitäten in Entwicklung, Planung, Produktion und Dienstleistungen großer westlicher Konzerne werden in globalen sogenannten Wertschöpfungsketten dezentralisiert, also - nach Maßgabe von unternehmensstrategischen, letztlich gewinnorientierten Investitionsimperativen - auf Standorte an verschiedenen Orten der Welt ausgelagert, weiterverlagert, zurückverlagert oder auch aufgegeben. Immer mehr Unternehmen investierten zudem offensichtlich einen erheblichen Teil ihrer Gewinne in spekulative Geschäfte. Volkswirtschaftliche Entwicklung im Rahmen einzelner betroffener politischer Gemeinweisen ist bei diesen Entscheidungen nicht im Blick.
Die Folgen dieser strukturell-asymmetrischen Art von Globalisierung stellen sich in den verschiedenen Regionen und sozioökonomischen Kontexten der Weltwirtschaft verschieden dar. Für nahezu alle gilt aber, dass die Einkommensunterschiede dramatisch anstiegen. Das Auseinanderdriften zeigt sich sowohl zwischen den Staaten als auch innerhalb der Staaten: Die Daten der Weltbank zeigen, dass sich zwischen Anfang der 1960er Jahre und Anfang des neuen Jahrhunderts in 94 Ländern, für die entsprechende Daten vorlagen, die Kluft zwischen dem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen der 20 ärmsten Länder im Verhältnis zu dem der 20 reichsten Länder von 1 zu 54 auf 1 zu 121 vergrößerte. Diese drastische Entwicklung von Ungleichheit wird verdeckt, wenn die Verbesserungen in den bevölkerungsreichen neuen Exportländern China und Indien, die wenigstens das Ausmaß der extremen Armut trotz gleichzeitig wachsender innerer Ungleichheit reduzieren konnten, in die globalen Zahlen eingerechnet werden. Diese und einige kleinere Länder wie Südkorea konnten aus der Exportförderung volkswirtschaftlichen Gewinn ziehen, hatten sich aber keineswegs dem Marktöffnungsdiktat gebeugt, sondern ihre Wirtschaftspolitik selbst gezielt staatsinterventionistisch gesteuert - allerdings auf Basis einer Wirtschafts- und Arbeitspolitik, die sich über Rechte bei der Arbeit hinwegsetzt und insbesondere Frauen diskriminiert. In der Folge eines Wettlaufs bei Steuersenkungen, besonders auf Kapitaleinkommen, sanken mit den eingenommenen Steuern auch die staatlichen Ausgaben für Bildung, Gesundheit und andere öffentliche Aufgaben; Infrastrukturen wurden vielfach privatisiert. In Afrika, Osteuropa, Zentralasien, Lateinamerika und Mittelasien stieg der Anteil der Menschen in absoluter Armut. In vielen fortgeschrittenen Industrieländern zeigt sich der Trend für die Einkommens- und Vermögensverteilung während der vergangenen hundert Jahre als Bild einer "offenen Sichel": Lohnspreizung sowie Reichtums- und Armutsdifferenzierung zu Beginn und zum Ende des 20. Jahrhunderts.
Von besonderer Bedeutung ist die weltweite Zunahme (und nicht wie modelltheoretisch prognostiziert die Abnahme) von informalisierter Arbeit - jener Form von Beschäftigung, die sich außerhalb von formaler Registrierung und damit verbundenen staatlichen Schutzrechten bewegt - als Folge dieser deregulierten Globalisierungspolitik. In Lateinamerika wird von einer "Delaborisierung" gesprochen: Der Anteil arbeits- und sozialrechtlich geschützter Beschäftigungsverhältnisse sank zugunsten von Kontraktarbeit und Alleinselbständigenarbeit sowie von befristeter Beschäftigung, Teilzeitarbeit und einem starken Anstieg verschiedener Arbeitsformen in der informellen Ökonomie mit ihren verletzlichen Beschäftigungsformen. In Afrika ist als Folge der Globalisierung vor allem der Druck auf kleinbäuerliche Existenzen, besonders von Frauen, hervorzuheben: Im Gegensatz zum erklärten Freihandelsziel verdrängen subventionierte landwirtschaftliche Produkte aus Industrieländern wie den USA und den EU-Staaten im südlichen Afrika die - nicht selten zuvor mit Entwicklungshilfe aufgebauten - örtlichen Existenzen wie bei der Geflügelhaltung und im Fischfang. Das Weltwirtschaftswachstum in den Jahren vor der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise hat auch vielen der etwa 1,5 Milliarden formal registrierten lohnabhängigen Beschäftigten keinen erhöhten Wohlstand gebracht. In den Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) stieg die Niedriglohnquote (zwei Drittel des Median) zwischen 1996 und 2006 von 17 auf 18 Prozent. Die Lohnquote (Anteil der Löhne am Bruttoinlandsprodukt) ist in den vergangenen Jahren in drei Vierteln aller Länder geschrumpft. Die Reallohnzuwächse der Industrieländer betrugen zwischen 2001 und 2007 höchstens ein Prozent; in Deutschland waren es 0,5 Prozent. Auch das Arbeitsleben in der EU hat sich in den vergangenen Jahrzehnten erheblich verändert: sowohl was die Qualität der Beschäftigungsverhältnisse anbelangt, als auch die der Arbeit selbst. Bei den Beschäftigungsverhältnissen ist die Zunahme von unterbezahlten und gering geschützten Dienstleistungen sowie Teilzeitarbeit besonders von Frauen auffällig.
Decent Work Agenda
Dass Arbeitskraft nicht ohne die Person, zu der sie gehört, zu haben ist, also jede Nutzung menschlicher Arbeitskraft auch die Würde des Menschen tangiert, wird seit Kurzem wieder thematisiert. Bis weit in die 1990er Jahre war die IAO im Konzert der internationalen Institutionen eher marginalisiert. Zwar hatten sich die 120 Regierungschefs während des Sozialgipfels von 1995 in Kopenhagen zu den drei großen Zielsetzungen bekannt: soziale Inklusion, Vollbeschäftigung und Armutsreduktion in Verbindung mit grundlegenden Menschenrechten bei der Arbeit. Aber allein die Armutsreduktion ist im Jahr 2000 in die Liste der VN-Millenniumsziele für Entwicklung aufgenommen worden - ohne Bezug auf Probleme von Beschäftigung und Arbeit. Die deutliche Trennung ökonomischer von sozialen Dimensionen in den internationalen Governance-Strukturen hatte sich mit der Gründung der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) 1996 noch verstärkt: Regierungen und Arbeitgebervertreter aufstrebender Schwellenländer des Südens sprachen sich gegen jedes Junktim von sozial-normativen Kriterien und Freihandel aus, weil sie darin Wettbewerbsverzerrungen zu ihrem Nachteil sahen. Erst 1998 gelang es der IAO mit der "Erklärung über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit" einen anfänglich bescheidenen normativen Grundkonsens für die Welt der Arbeit zustande zu bringen. Da das Arbeitsrecht nicht zum öffentlichen Recht gezählt wird, gab es bis dahin kaum Verbindungen zwischen arbeitsrechtlichen und menschenrechtlichen Diskursen, obwohl schon in der IAO-Erklärung von Philadelphia 1944 eine an Rechten orientierte Sprache gewählt wurde ("Arbeit ist keine Ware").
Bei den von der IAO erklärten grundlegenden Rechten oder Kernarbeitsnormen, die in acht IAO-Übereinkommen völkerrechtlich judifiziert sind, geht es um das Recht auf Vereinigungsfreiheit bzw. kollektive Tarifverhandlungen, die Abschaffung von Zwangsarbeit, die Beseitigung (spezifizierter) Kinderarbeit und das Verbot von Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf (wie nach Geschlecht oder Hautfarbe). Diese grundlegenden Prinzipien und Rechte lassen sich als faire Wettbewerbsregeln für die internationale Wirtschaft legitimieren. In ihrem normativen Sinn sind sie als Ermöglichungsrechte zur Existenzerhaltung und -entfaltung zu verstehen. Es sind liberale Grundrechte; im Unterschied zu der Vielzahl von IAO-Regelungsgebieten im Arbeits- und Sozialrecht schaffen sie für sich allerdings noch keinen materiellen Schutz: So garantieren sie weder ausreichenden Lebensunterhalt noch gesunde Arbeitsbedingungen. Zur Förderung der Menschenwürde bei der Arbeit sind sie unabdingbar, zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen allein unzureichend. Zu den prioritär zu fördernden Übereinkommen werden daher vom IAO-Stab auch die Übereinkommen über Arbeitsaufsicht, Sozialeinrichtungen, die Festsetzung von Mindestlöhnen und Arbeitnehmervertreter im Betrieb gezählt.
Auf dieser normativen Grundlegung konnte die Decent Work Agenda der IAO von 1999 aufbauen. Ihr Anspruch ist die Inklusion aller arbeitenden Menschen in das Mandat der IAO. Juan Somavía, der erste nicht aus einem klassischen Industrieland kommende Generaldirektor der IAO, formulierte in seiner programmatischen "Agenda für weltweit menschenwürdige Arbeit" als vorrangiges Ziel, "Möglichkeiten zu fördern, die Frauen und Männern eine menschenwürdige und produktive Arbeit in Freiheit, Sicherheit und Würde und unter gleichen Bedingungen bieten". Der IAO müsse es "auch um Erwerbstätige außerhalb des formellen Arbeitsmarktes gehen, um die Arbeitnehmer in ungeregelten Verhältnissen, um Selbständige und Heimarbeiter". Die Decent Work Agenda der IAO benennt vier strategische Grundsätze, die zu Lebensbedingungen beitragen sollen, in denen sich Menschen entwickeln können: produktive Beschäftigung (also Arbeit, die über die bloße Existenzerhaltung hinaus Bedürfnisse erfüllen kann), Rechte bei der Arbeit, Sozialschutz in den Lebensphasen, in denen der eigene Unterhalt nicht durch Arbeit gesichert werden kann (Kindheit, Krankheit bzw. Invalidität, Beschäftigungslosigkeit und Alter) und Sozialdialog (also das Prinzip, Arbeitende in allen Entscheidungen, die Arbeit betreffen, in einem Verhandlungsprozess mit Arbeitgebern oder auch Regierungen zu beteiligen).
Die IAO steht mit Blick auf alle vier Grundsätze vor der Herausforderung, die strukturellen Unterschiede und Interdependenzen der sozioökonomischen Kontexte (Schwellen-, Entwicklungs-, Industrie- und Transformationsländer) zu beachten, um sowohl ökonomischen Entwicklungsnutzen als auch unveräußerliche Rechte zu befördern. Von besonderer Bedeutung ist, wie dem Grundgedanken des klassischen Arbeitsrechts, also der Stärkung der Verhandlungsmacht der schwächeren Seite (Arbeitnehmer), auch im Fall von unregelmäßiger und alleinselbständiger Arbeit Rechnung getragen werden kann. Hier sind gewerkschaftliche und genossenschaftliche Vereinigungen entscheidend, besonders wenn es um die faktische Beachtung von Recht und Gesetz vor Ort geht. In ihren spezifischen Länderprogrammen bemüht sich die IAO auch um die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen in der informellen Ökonomie. Dazu gehören Konzepte für ein "globales soziales Minimum" und die Organisation basaler sozialer Sicherungssysteme, um Kinder sowie kranke, verletzliche und alte Menschen zu schützen.
Die Decent Work Agenda konkretisiert und aktualisiert das Mandat der IAO und ist zugleich eine Managementstrategie, um sowohl ihre vielfältigen eigenen Aktivitäten konsistent aufeinander zu beziehen, als auch um die gebotene Kohärenz der diversen Institutionen und Akteure der Weltwirtschaft zu überprüfen und einzufordern. Dabei geht es vor allem um die Respektierung und Umsetzung geltender internationaler Normen, wobei die Kernarbeitsnormen hervorgehoben werden. Die Agenda bringt die Unstimmigkeiten (Inkohärenz) in den gegenwärtigen internationalen Regelungs- und Steuerungsmaßnahmen zum Vorschein, etwa wenn eine Regierung im Rahmen von Weltbank, Internationalem Währungsfonds, WTO und EU eine andere Politik als innerhalb der IAO vertritt. Erst 2005 sind Beschäftigungsförderung und decent work in die Liste der VN-Millenniumsziele aufgenommen worden; 2006 wurde das Konzept vom VN-Wirtschafts- und Sozialrat bestätigt. Zur gleichen Zeit hat auch die EU diese Zielsetzung in ihre Programmatik eingefügt. Die Decent Work Agenda hat es also ansatzweise vermocht, die klassische Zielsetzung der IAO wieder auf die internationale Tagesordnung zu setzen: eine gerechte Entwicklung für alle, auf der Grundlage einer fairen Globalisierung. Schon 1969 hatte die IAO mit ihrem "Weltbeschäftigungsprogramm" Aufgaben der ländlichen Entwicklung in den Blick genommen. Dreißig Jahre danach begann sie damit, durch eine Priorisierung bestimmter Normen und durch Maßnahmen des capacity building in Ländern des Südens die Anerkennung und Umsetzung ihrer aktuellen Normen zu befördern. Als besonders erfolgreich gilt dabei das Internationale Programm zur Abschaffung der Kinderarbeit, wenngleich das Ziel der Überwindung von Kinderarbeit in der Welt - selbst, was ihre schlimmsten und gefährlichsten Formen anbelangt - noch in weiter Ferne ist und sich durch die derzeitige Krise noch weiter entfernt hat.
Bedeutung von Institutionen
Weltweite Probleme wie Kinderarbeit, Zwangsarbeit, rechtlich ungeschützte informelle Arbeit sind politisch zu bearbeiten. Seit den staatlichen Rettungsschirmen für Banken im Jahr 2008 gibt es eine veränderte Diskussionslage über die Notwendigkeiten staatlicher Handlungsfähigkeit. Schon im Bericht über den Einfluss der Weltkommission für die soziale Dimension der Globalisierung von 2007 ist die dringende Notwendigkeit eines policy space unterstrichen worden. Dort und an vielen anderen Stellen ist immer wieder die Problematik mangelnder Kohärenz in nationalen und internationalen Entscheidungen benannt worden. Diese liegt insbesondere darin, dass die Missachtung sogar der grundlegenden Rechte bei der Arbeit (Vereinigungsfreiheit, Verbot der Kinderarbeit, Diskriminierung und Zwangsarbeit) teils ignoriert, teils sogar gefördert wird, wenn es um Konditionen für Kredite von Seiten der internationalen Finanzinstitutionen geht. Erst in jüngster Zeit gibt es verstärkte Koordinierungsansätze zwischen den internationalen Institutionen. 2008 bestätigten die Mitglieder der IAO die integrale Einheit ihrer strategischen Zielsetzungen in Gestalt ihrer "Declaration on Full and Productive Employment and Decent Work". Auch die allgemeine Unterstützung eines von der IAO lancierten (auf dieser Erklärung aufbauenden) Globalen Beschäftigungspakts angesichts der Weltwirtschaftskrise im Sommer 2009 zeigt eine neue Aufgeschlossenheit für die IAO-Ziele - ohne dass damit schon ausgemacht ist, dass es tatsächlich zu einer neuen Politik in und zwischen den Staaten kommen wird.
Von entscheidender Bedeutung ist, dass seit der Liberalisierung des Kapitaltransfers mit den multi- und transnational operierenden Unternehmen neue Akteure von beispielloser Gestaltungsmacht entstanden sind, die außerhalb der in der IAO vertretenen Mitgliedsgruppen operieren. Zur Einbindung dieser neuen Akteursgruppe, die das Weltwirtschaftsgeschehen prägt, wurden schon 1976 durch die OECD-Leitlinien und 1977 durch die IAO-Grundsätze und eigene Berichtsverfahren geschaffen. Die Kernarbeitsnormen wurden Anfang des neuen Jahrhunderts in beide Regelwerke ausdrücklich aufgenommen. Angesichts der immer größer gewordenen Handlungsmacht und der ausbleibenden Erfolge dieser Instrumente, die auf staatlichen Verpflichtungen zur Einwirkung auf die multinationalen Unternehmen beruhen, entstand 1999 mit dem Global Compact der VN ein freiwilliges Selbstverpflichtungssystem für Unternehmen. Seine Wirkungsweise soll auf dem marktbezogenen Anreiz beruhen, den guten Ruf eines Unternehmens durch Bindung an zehn Prinzipien, darunter die in den IAO-Kernarbeitsnormen formulierten Standards, zu befördern. Auswertungen zeigen allerdings, dass die Aktivitäten sogenannter gesellschaftlicher Unternehmensverantwortung (corporate social responsibility), in deren Kontext sich eine unübersichtliche Vielfalt privater Verhaltenskodizes, Zertifikate und Gütesiegel oft ohne expliziten und engen Bezug auf die international anerkannten IAO-Normen entwickelt hat, wegen mangelnder Mechanismen mit Blick auf Beschwerden, Sanktionen oder Wiedergutmachung im Falle der Übertretung meist wirkungslos bleiben. Eine soziale Rechenschaftspflicht ist daher unabdingbar; Marktmechanismen reichen nicht. Zudem kann eine anwaltschaftliche Vertretung durch Nichtregierungsorganisationen zwar entrechteten Menschengruppen helfen, nicht aber deren eigene kollektive Stimme in selbstbestimmten Vereinigungen ersetzen. Es ist daher äußerst bedenklich, dass von allen Kernarbeitsnomen gerade die beiden Übereinkommen zur Vereinigungsfreiheit und zu kollektiven Tarifverhandlungen die geringsten Ratifizierungen aufweisen, und dass bei jüngeren Rechtsprechungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) eine Relativierung der Grundrechte zugunsten wirtschaftlicher Grundfreiheiten vorgenommen wurde. Hilfreich erweisen sich demgegenüber die Rahmenübereinkommen globaler Gewerkschaften mit transnationalen Unternehmen. Aber ihre Anzahl von etwa 60 ist bei etwa 60000 "Multis" äußerst gering.
Die westlichen Industrieländer machen heute die Erfahrung, dass die Folgen ihrer Politik des Freihandels ohne Respekt für grundlegende Rechte bei der Arbeit und der deregulierten Finanzmärkte auf sie selbst zurückfallen: in Gestalt von Wohlstands- und Wohlfahrtsverlusten, ungesteuerter Migration aus verelendeten Regionen der Welt sowie damit zusammengehender mangelhafter Durchsetzung auch nationalen Arbeitsrechts. Nachdem über Jahrzehnte die IAO-Normen von vielen Regierungen ihrer Mitgliedsländer vernachlässigt wurden, wird in der gegenwärtigen Krise wieder eine Verbindung zwischen der sozialen und der ökonomischen Dimension gesellschaftlicher Entwicklung hergestellt - auch indem die ökonomischen Kosten einer Vernachlässigung sozialer Dimensionen in den Gemeinwesen berechnet werden. Kostenkalkulation kann allerdings den politischen Willen zur Anerkennung weltweit geltender grundlegender Arbeits- und Sozialnormen nicht ersetzen. Diesen zu befördern, ist Aufgabe bürgerschaftlichen Engagements.