Einleitung
Der Aufbau von Institutionen für globale Ordnungspolitik ist nach Ansicht vieler Fachleute für internationale Politik weniger eine Frage der Wahl als vielmehr eine notwendige Reaktion auf drängende globale Probleme wie zunehmende soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, Klimawandel, Finanzkrise oder internationaler Terrorismus. Unsere Bemühungen sollten sich daher nicht auf die Frage konzentrieren, ob diese globale Ordnungspolitik wünschenswert ist oder nicht, sondern darauf, wie sie effizient und integrativ gestaltet werden kann.
Der erste wichtige Schritt auf dem Weg zu mehr Integration in der globalen Ordnungspolitik muss zweifellos die Überwindung des Nord-Süd-Konflikts sein. Um dies zu erreichen, müssen wir aufmerksamer auf Kräfte-Ungleichgewichte im gegenwärtigen internationalen System achten, aber auch ein Gespür entwickeln für historische Empfindlichkeiten und regional unterschiedliche Perspektiven auf die globalen Probleme, die uns alle betreffen.
Obwohl die im folgenden Interview vorgetragenen Einschätzungen sehr persönliche Meinungsäußerungen sind, geben sie doch Aufschluss darüber, wo die zentralen Diskussionspunkte liegen könnten: Ist die Schaffung international verbindlicher Normen als ein integrativer Prozess vorstellbar oder spiegeln diese zwangsläufig die Prioritäten mächtiger Staaten? Haben bereits bestehende Institutionen wie die Vereinten Nationen (UN) die erforderliche Legitimität, den Prozess globaler Normenbildung zu koordinieren oder haftet ihnen der Makel an, dass sie in einer historischen Periode westlicher Dominanz entstanden sind? Und werden aufstrebende Schwellenländer wie China, Indien oder Brasilien – die wirtschaftlich und politisch stark genug sind, um auf der globalen Bühne mitzuspielen – dabei prinzipiell eine wichtige und positive Rolle einnehmen?
Übersetzung aus dem Englischen: Georg Danckwerts.
Fehlen gemeinsame globale Visionen?
Betrachten wir die schwierigen und oft verwirrenden Verhandlungen während des Weltklimagipfels in Kopenhagen im vergangenen Jahr, die Unfähigkeit der internationalen Institutionen, weitsichtige und systemische Antworten auf die derzeitige Finanzkrise zu geben, oder den Stillstand in der 2001 von der WTO gestarteten Doha-Runde, so scheint sich die Weltgemeinschaft schwer damit zu tun, wirksame Lösungen für globale Probleme zu entwickeln. Könnte der Grund dafür sein, dass es uns zurzeit an gemeinsamen globalen Visionen und globalen Normen mangelt?
Siddharth Mallavarapu: Ich würde die derzeitigen Schwierigkeiten nicht als Sackgasse globaler Regierungsfähigkeit sehen. Eher hat das Tempo, mit dem sich globale Institutionen entwickeln, in letzter Zeit nachgelassen. Trotz des allgemeinen Pessimismus nach Kopenhagen können wir einen generellen Konsens darüber erkennen, dass mehr gemeinschaftliches Handeln und gemeinsame globale Werte vonnöten sind. Globale Ordnungspolitik ist jedoch nicht so einfach zu bewerkstelligen. Die wichtigsten Streitpunkte betreffen ihre Modalitäten und ihre Inhalte. Dabei geht es sowohl um pragmatische Angelegenheiten wie die Gestaltung der Institutionen als auch um komplexe Probleme, etwa wie die Einigung auf globale Gerechtigkeit bei der Lastenverteilung aussehen sollte oder wie wir eine eigene globale Identität schaffen können. Diesen Fragen können wir nicht ausweichen.
Thomas Fues: Ich finde die Idee überzeugend, dass die eigentliche Ursache für die Lähmung in der globalen Politik in einer "normativen Krise" zu suchen ist. Nach dem Ende der von den westlichen Staaten dominierten hegemonialen Ordnung leben wir jetzt in einer multipolaren Welt, in der aufstrebende Staaten aus dem Süden zur Spitze aufgerückt sind. Doch die internationale Gemeinschaft hat sich noch nicht auf normative Grundprinzipien geeinigt. Dies ist ein entscheidender Umstand, der den Misserfolg der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen erklärlich macht. Die Regierungen konnten sich nicht auf eine Formel für die gerechte Lastenverteilung bei den Kosten für die Emissionsminderung und für die Anpassung an die Folgen des Klimawandels einigen. Wir erleben derzeit eine Fragmentierung globaler Autoritäten, den Rückfall in einen "anarchischen" Zustand internationaler Beziehungen, wie es realistische Theoretiker vorhergesagt haben. Vertrauen, Zusammenarbeit und die Errichtung einer kooperativen multilateralen Ordnung werden entscheidend von der Verständigung auf eine universale Ethik abhängen.
Trotz der Schwierigkeiten, die Sie heraufziehen sehen, stellen Sie beide nicht die Notwendigkeit in Frage, gemeinsame globale Werte zu finden. Warum sollten Ihrer Meinung nach in erster Linie Normen grundlegender Bestandteil von globaler Ordnungspolitik sein?
Thomas Fues: Für mich ist der wichtigste Baustein von Regierungsführung der einzelne Mensch. Globale Ordnungspolitik kann sich nicht durch Verfolgung nationaler Eigeninteressen legitimieren oder durch systemische Ziele wie Stabilität und Verhinderung zwischenstaatlicher Kriege. Sie gewinnt ihre Legitimation vielmehr durch die Verbesserung der Lebensbedingungen jedes einzelnen Menschen bei gleichzeitiger Gewährleistung einer gesunden Biosphäre und des Überlebens der anderen Lebewesen dieser Erde. Folgt man dieser Logik, so gibt es meines Erachtens verschiedene Wege, die Notwendigkeit von Ethik für globale Ordnungspolitik zu erklären. Dem Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen zufolge besitzen universelle Normen einen inneren Wert für menschliches Leben und Wohlergehen, besonders da die Individuen in einer globalisierten Gesellschaft stärker miteinander verbunden sind. Jüngere Generationen beginnen, ihren Horizont über nationale und Gruppenidentitäten hinaus auszuweiten und globale Anliegen wie "Gerechtigkeit für alle" zu unterstützen. Ethik besitzt außerdem einen instrumentellen Wert, indem sie die Produktivität und die Stabilität der globalen Wirtschaft steigert. Während Armut und Ausgrenzung soziale Spannungen verschärfen, begünstigen Gleichheit und Menschenrechte Innovation und nachhaltige Entwicklung. Und schließlich hat Ethik eine konstruktive Qualität. Dies bezieht sich auf die Erkenntnis, dass universelle Standards angesichts der Verschiedenheit der Kulturen, Religionen und Wertesysteme auf dieser Welt nicht ohne weiteres verständlich sind. Im Verlauf der Gespräche und Verhandlungen über die Prinzipien und Prioritäten bei der Bewältigung globaler Angelegenheiten erfahren Gesellschaften einen fortlaufenden Wandel des Selbst- und des Fremdbildes und lernen, eine kosmopolitische Dimension in ihre "grundsätzlich unvollständige Identität" zu integrieren. Dieser letzte Punkt wird hervorgehoben vo" Homi K. Bhabha, Professor an der Universität Harvard und einer der wichtigsten Experten auf dem Gebiet zeitgenössischer postkolonialer Forschung.
Sie beide erwähnen "Lastenverteilung" als ein zentrales Thema fairer globaler Ordnungspolitik. Internationale Verhandlungen wie kürzlich in Kopenhagen haben gezeigt, dass verschiedene Staaten offensichtlich sehr unterschiedliche Vorstellungen von den "Lasten" haben, die sie tragen sollten. Wie können wir zu einem gemeinsamen Verständnis von globaler Gerechtigkeit gelangen?
Thomas Fues: Meiner Meinung nach sollte die Schaffung globaler Normen als zweigleisiger Prozess betrachtet werden: deduktiv von oben – zum Beispiel, indem übereinstimmende Grundwerte der Weltreligionen für eine gemeinsame Basis sorgen – und induktiv von unten. Ein schönes Beispiel für letzteres stellen die aktuellen Vorschläge für globale Klimapolitik dar, besonders hinsichtlich der Anrechenbarkeit des verbleibenden Umweltraums (environmental space) für Treibhausgasemissionen – der so genannten Senkenkapazität (sink capacity). Politiker vom indischen Premierminister Manmohan Singh bis hin zu Bundeskanzlerin Angela Merkel sind sich mit Wissenschaftlern darin einig, dass der zur Verfügung stehende Umweltraum egalitär pro Kopf anzurechnen sei – was bedeutet, dass jeder Mensch auf diesem Planeten letzten Endes dieselbe Emissionsquote zugeteilt bekäme. Multipliziert mit der Einwohnerzahl eines Landes würde dies nationale Emissionsquoten ergeben. Würden sich die Nationen bei der Klimapolitik auf diese Formel einigen, so könnte das Prinzip gleicher Pro-Kopf-Ansprüche auf das globale Gemeingut auch auf andere übernationale Umweltgüter angewandt werden. Dies wäre eine mächtige Komponente globaler Ethik, erwachsen aus direktem zwischenstaatlichem Dialog.
Siddharth Mallavarapu: Wenn wir über eine gemeinsame Auffassung von globalen Werten sprechen, muss zuerst einmal sichergestellt werden, dass das Provinzielle – die Werte irgendeines Hegemons – nicht wieder in der Maske des Universalen daherkommt. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Die erste Generation von Menschenrechten war vorrangig auf bürgerliche und politische Rechte ausgerichtet, während die Entwicklungsländer sich dafür einsetzten, ökonomische und soziale Rechte als nicht weniger grundlegend anzusehen und sie in eine Charta der Menschenrechte mit aufzunehmen. Die zweite Generation der Menschenrechte berücksichtigte diese Rechte dann schließlich auch in breiterem Ausmaß. Dies legt nahe, dass im Hinblick auf eine Hierarchie der Werte unterschiedliche Landkarten existieren, mit anderen Worten, dass es unterschiedliche Antworten auf die Frage gibt: Was ist am wichtigsten? Eine Lösung für dieses Problem wäre, diese unterschiedlichen Landkarten zu registrieren und zur Diskussion zu stellen. Dies ist zwar nicht unmöglich, wird aber schwierig zu erreichen sein. Selbst innerhalb staatlicher Grenzen ist die Etablierung gemeinsamer Normen und einer nationalen Identität umstritten. Schlaglichtartig deutlich wird dies in Situationen ethnisch-nationaler Polarisierung, wie sie bis vor kurzem in Sri Lanka zwischen Singhalesen und Tamilen zu beobachten waren.
"Warum immer nur auf Kant verweisen?"
Sie erwähnen die Etablierung einer gemeinsamen Identität auf der nationalen Ebene: Kann der Prozess der Ausweitung globaler Ordnungspolitik mit den Staatenbildungsprozessen verglichen werden, wie sie zum Beispiel in Europa während des 19. Jahrhunderts stattfanden?
Siddharth Mallavarapu: Die Analogie ist sicherlich begrenzt. Regierungsführung jenseits der Grenzen des Nationalstaats wirft eine eigene Problematik auf. Während man zunehmend erkennt, dass eine zu scharfe Unterscheidung zwischen Einheimischem und Internationalem nicht angebracht ist, bleiben doch immer noch einige Unterschiede. Für den Prozess der Staatenbildung ist eine klare Übertragung von Strukturen unerlässlich. Beim Regieren innerhalb eines Landes geht es um Verwaltung, um Souveränität und Konstitutionalismus, alles Aspekte, die im Allgemeinen außerhalb staatlicher Grenzen an Bedeutung verlieren. Das grundsätzliche Problem auf internationaler Ebene wäre also, wie Ordnungspolitik durchgesetzt werden kann, ohne dass eine Regierungsgewalt ihr Nachdruck verleiht. Wie etablieren wir einen Korpus von Bestimmungen, ohne über eine supranationale Ordnungsinstanz zu verfügen? Wie gelangen wir zu universell akzeptierbaren Normen?
Thomas Fues: Der Unterschied auf der globalen Ebene ist, dass eine Weltregierung weder in Sicht noch wünschenswert ist. Vielmehr muss globale Ordnungspolitik sich auf die Motivation zu freiwilligem Zusammenschluss und freiwilliger Kooperation stützen. Die Anreize dafür werden in dem Maße zunehmen, wie die Vorteile geteilter Souveränität angesichts wechselseitiger globaler Abhängigkeiten offensichtlicher werden. Anstatt sich nationale Modelle anzusehen, könnte es nützlicher sein, die Gestaltung regionaler Blöcke wie der Europäischen Union oder der Gemeinschaft Südostasiatischer Staaten (ASEAN) zu betrachten. Der EU-Vertrag von Lissabon besitzt mit der Charta der Grundrechte eine starke ethische Grundlage, die neben den traditionelleren bürgerlichen und politischen Rechten auch wesentliche ökonomische und soziale Rechte umfasst. Diese Bereitstellung eines einheitlichen normativen Rahmens für den Kontinent sehe ich als entscheidenden Meilenstein auf dem Weg zu einer europäischen Unionsbürgerschaft. Auch die 2007 verabschiedete ASEAN-Charta enthält gemeinsame Grundsätze für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit, jedoch allgemeiner gehalten als im europäischen Dokument. Es scheint, als hätten die politischen Führer im Zuge des regionalen Integrationsprozesses den grundlegenden Wert einer gemeinsamen Ethik für den supranationalen Konstitutionalismus erkannt.
Wie können diese Ergebnisse auf die globale Ebene übertragen werden?
Thomas Fues: Zunächst einmal könnten regionale Gemeinschaften, die gemeinsame normative Prinzipien verankern, durchaus zum Modell für eine globale Ordnungspolitik werden. Und um diese Argumentation noch einen Schritt weiter zu führen: Möglicherweise gibt es auch Wege, bereits vorhandene und entstehende regionale Wertesysteme in einem übergeordneten universalen Normen- und Regelkorpus zusammenzuführen. Um sich in diese Richtung zu bewegen, bräuchten wir eine vergleichende Analyse der ethischen Substanz regionaler Integrationsregime. Zusätzliche Erkenntnisse über regionenübergreifende gemeinsame Wertesysteme könnten aus der Betrachtung kontinentaler Menschenrechtsregime kommen, wie sie in Afrika, Amerika und Europa existieren. Einem ähnlichen methodischen Ansatz folgte 1993 das Parlament der Weltreligionen, als es verkündete, dass eine globale Ethik implizit bereits existiere in Form von gemeinsamen Grundwerten aus den Glaubenslehren: Gewaltlosigkeit, Respekt für das Leben, Toleranz und Solidarität.
Siddharth Mallavarapu: Sicher, es gibt einige Grundideen, denen jeder zustimmt: die Bedeutung einer guten Lebensqualität, menschliches Wohlbefinden, das Recht auf Leben. Aber wenn wir von der Festschreibung globaler oder regionaler Normen sprechen, müssen wir meines Erachtens das Konzept der "geo-kulturellen Epistemologien" einbringen, das der Argentinier Walter Mignolo
Wie können die Spaltungen, die Sie ansprechen – geokulturelle, von historischen Erfahrungen geprägte, etc. – überwunden werden? Existieren bereits Modelle, die mehr Legitimität besitzen als andere? Oder müssen wir nach neuen Lösungen suchen?
Thomas Fues: Ich würde sehr pragmatisch vorgehen und darauf schauen, was bereits vorhanden ist. Unter dem Dach der Vereinten Nationen hat die internationale Staatengemeinschaft über die Jahre einen beeindruckenden Korpus verbindlicher Rechtsvereinbarungen verabschiedet, ergänzt durch unverbindliches "weiches Recht" (soft law) in Form von politischen Selbstverpflichtungen. Hiermit besteht bereits ein umfassendes System globaler Ethik. Frühe Beispiele dafür sind die Charta der Vereinten Nationen (1945) und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948). Detailliertere Regelungen sind in der Sammlung von Menschenrechtskonventionen und zwischenstaatlichen Vereinbarungen über arbeitsrechtliche Standards zu finden, die von den meisten Staaten ratifiziert worden sind. Hohe moralische Normen sind enthalten in dem ehrgeizigen Paradigma "nachhaltige Entwicklung", das die UN-Generalversammlung im Zuge der Weltkonferenzen der Neunzigerjahre – wie des Erdgipfels 1992 in Rio de Janeiro, des Weltsozialgipfels 1995 in Kopenhagen und der Frauenkonferenz 1995 in Peking – sukzessive verabschiedet hat. Von besonderer Bedeutung für die Ethik globaler Ordnungspolitik ist die Millenniumserklärung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000, die hohe Standards für Friedenserhaltung, Armutsbekämpfung und Nachhaltigkeit setzt.
Siddharth Mallavarapu: Die Vereinten Nationen sind zweifellos die weltweit am besten legitimierte internationale Körperschaft. Meiner Meinung nach ist es jedoch im Interesse der Legitimierung erforderlich, zurück zu den regionalen oder lokalen Quellen zu gehen, um globale Werte zu finden. In Indien sind Mahatma Gandhi und der bekannte bengalische Dichter, Schriftsteller und Musiker Rabindranath Tagore ausgezeichnete Beispiele für lokal verwurzelte Kosmopoliten. Warum immer nur auf Kant verweisen, wenn von Kosmopoliten die Rede ist? Sicher, er hatte der Welt einige sehr wichtige Gedanken zu bieten, aber wir müssen auch hoch entwickeltes Gedankengut in anderen Teilen der Welt berücksichtigen. Aus meiner Sicht sind regionale Referenzen unverzichtbar, um zu einem globalen Konsens über Werte und Normen zu gelangen. Die Archive müssen geöffnet werden, um das Denken Afrikas, Lateinamerikas und Asiens aus Vergangenheit und Gegenwart mit einzubeziehen. Und dies muss aus ehrlichem Interesse heraus geschehen, nicht nur als eine Geste des guten Willens. Zunächst einmal aber müssen wir alle bessere Zuhörer werden. Erst daraus ergibt sich das Weitere.
Thomas Fues: Ich würde zustimmen, dass auch viele Beispiele aus der Vergangenheit wertvolle Quellen für die Konstituierung globaler Normen sein können. Ich denke zum Beispiel an die Regierungsgrundsätze des indischen Königs Ashoka (304-232 v.Chr.), der ein auf ethischen Verpflichtungen beruhendes politisches System errichtete, das die Gleichheit aller Menschen, den Respekt gegenüber den Religionen, Gewaltlosigkeit, das Verbot von Sklaverei und Todesstrafe, den Schutz der Umwelt und das Wohlergehen der Tiere zur Grundlage hatte. Sein Königreich wird als das erste angesehen, das Nachbarstaaten humanitäre Unterstützung zukommen ließ, unter anderem medizinisches Personal, medizinische Einrichtungen, Medikamente und Ingenieure. Ein anderes interessantes Beispiel bietet die Tang-Dynastie in China (618-907) mit ihren kosmopolitischen Errungenschaften wie der friedlichen Koexistenz ethnischer Gemeinschaften, religiöser und kultureller Freiheit, Frauengleichberechtigung und einem gewissen Maß an Rechtssicherheit. Nach meinem Verständnis müsste ein globales ethisches Bezugssystem, das auf historischen Erfahrungen, religiösen Lehren und kulturellen Werten gründet, in offener und transparenter Form gründlich bedacht und ausgehandelt werden, vorzugsweise unter Schirmherrschaft der Vereinten Nationen. Dazu könnte ich mir entweder eine Konsensentscheidung der UN-Generalversammlung oder ein Mehrheitsvotum vorstellen, bei dem eine begrenzte Anzahl ablehnender Stimmen zulässig ist.
"Niemand zwingt eine Regierung, eine Menschenrechtsvereinbarung zu ratifizieren"
Und wo sehen Sie die größten Herausforderungen an diese universellen Projekte?
Thomas Fues: Wir müssen eingestehen, dass die Wirkungskraft von normativen Bezugssystemen wie dem der UN schwach ist, da Mitgliedstaaten sie ungestraft nach Belieben missachten können. Es gibt große Lücken im Kontrollsystem, und es fehlen Sanktionsmechanismen – außer in der internationalen Sicherheit und im Handel. Diese Fehlstellen wirken wie ein strukturelles Privileg zur willkürlichen Ausübung souveräner Rechte – zur Verfolgung enger nationaler Eigeninteressen – gegenüber einem ethisch begründeten Konzept "aufgeklärter Souveränität" (Stephen Harper), das auf globale Verantwortung und multilaterale Zusammenarbeit gleichermaßen Wert legt. Eine weitere Herausforderung für die Schaffung von Normen durch die UN kommt in der Verkleidung antikolonialer Emanzipation daher. So behaupten bestimmte Kreise, dass ethische Standards und die jeweilige Hierarchie moralischer Prioritäten generell dazu geschaffen wurden, den Interessen westlicher Staaten zu dienen. Diese Sichtweise lässt die breite Beteiligung politischer Führer und Gelehrter aus den Entwicklungsländern außer Betracht. Dennoch entstammen die beanstandeten Dokumente historisch gesehen unstrittig einer Periode westlicher Vorherrschaft. Es wäre daher empfehlenswert, einen neuen Prozess für eine globale Ethik zu initiieren, der Multipolarität reflektiert und ausdrücklich auf Wertesysteme und historische Erfahrungen des Südens zurückgreift.
Siddharth Mallavarapu: Dies ist nicht allein eine Frage der historischen Perspektive. Eine der großen Herausforderungen ist der Widerspruch zwischen dem Prinzip der gleichberechtigten rechtlichen Stellung aller UN-Mitgliedstaaten und den krassen Unterschieden bei der tatsächlichen Stellung der Staaten im Weltsystem. Die Vereinten Nationen sind wahrscheinlich das attraktivste Forum, um gemeinsam über globale Werte zu diskutieren. Aber sogar innerhalb des UN-Systems besteht mit dem Sicherheitsrat ein exklusiver Klub. Die UN-Generalversammlung, die bei weitem repräsentativer ist als der Sicherheitsrat, ist nicht halb so einflussreich. Die Strukturen der UN bedürfen dringend einer Reform. Und auch außerhalb der UN scheint das Leben mancher mehr zu zählen als das Leben anderer. Die anfängliche internationale Tatenlosigkeit angesichts des Völkermordes in Ruanda ist ein typisches Beispiel.
Heißt das, das wahre Problem liegt gegenwärtig eher in der Struktur des globalen ordnungspolitischen Rahmens als in den Werten, auf denen er basiert?
Siddharth Mallavarapu: Dies ist sicherlich eine Frage ebenso der Werte wie der Strukturen. Was die Werte betrifft, so steckt der Teufel hier im Detail. Ein Streitpunkt, der in den Entwicklungsländern für erheblichen Ärger sorgt, sind beispielsweise Beihilfen für die Landwirte in den entwickelten Staaten, während gleichzeitig die Handelsbedingungen eine extreme Schieflage zu ungunsten der Bauern in den Entwicklungsländern aufweisen. Es gibt viele solcher Beispiele. Tatsächlich müssen wir die Frage nach der Demokratisierung des internationalen Systems stellen.
Thomas Fues: Es stimmt, dass westliche Staaten in der Vergangenheit – und manchmal auch heute noch – moralische Anliegen wie Menschenrechte und gute Regierungsführung benutzt haben, um verdeckte eigene Interessen gegenüber den Entwicklungsländern zu verfolgen. Ein Beispiel dafür ist die anhaltende Kontroverse über eine "Mitverantwortung zum Schutz", die mancher als bedeutende kosmopolitische Neuerung ansieht, während andere sie als Vorwand für neoimperiale Einmischung anklagen. Jedoch würde eine vollständige Zurückweisung der UN-Ethik den Beitrag missachten, den viele politische Führer, Wissenschaftler und Aktivisten aus dem Süden zur Gestaltung und Durchsetzung solcher normativer Bezugssysteme geleistet haben. Auch diskreditierte eine solche Zurückweisung die freiwillige breite Zustimmung und den Beitritt von Staaten zu den vorgeschlagenen Deklarationen und Konventionen. Niemand zwingt eine Regierung, eine Menschenrechtsvereinbarung zu ratifizieren, auch wenn es innenpolitischen Druck geben mag. Aber sobald sie es getan hat, muss sie auch ihrer Verantwortung für die im Dokument enthaltenen Abmachungen und Verfahrensweisen nachkommen.
Siddharth Mallavarapu: Politische Führer aus dem Süden haben tatsächlich eine wichtige Rolle bei der Gestaltung globaler normativer Bezugssysteme gespielt. In Indien beispielsweise setzte man besonders zur Regierungszeit Nehrus (1947-1964) großes Vertrauen in den Multilateralismus und das System der Vereinten Nationen
Thomas Fues: In meinen Augen wäre der beste Weg, um vorwärts zu kommen, eine zweigleisige Strategie. Einerseits muss es ein Kontrollsystem für bestehende Verpflichtungen geben, das deren Nichteinhaltung öffentlich macht. Das Kontrollsystem muss dabei unabhängig und neutral sein, damit jede Spur einer Beeinflussung von Prozess und Ergebnis durch Machtinteressen ausgeschlossen ist. Andererseits ist eine neue politische Initiative nötig, die auf einer originären Synthese von Wertesystemen und Kulturen aus allen Teilen der Welt gründet. Noch wichtiger ist es, den freiwilligen Charakter jeder Selbstverpflichtung unter allen Umständen zu schützen. Dazu sollten westliche Staaten darauf verzichten, Entwicklungshilfen oder andere Vergünstigungen an die Erfüllung ethischer Maßstäbe zu knüpfen.
"Die neuen Schwergewichte aus dem Süden müssen ihre Karten auf den Tisch legen"
Sie sprechen das Problem der Nichterfüllung an. Wie kann die Weltgemeinschaft sicherstellen, dass globale Regeln und Prinzipien eingehalten werden, wenn es keine Weltregierung gibt? Und wer würden höchstwahrscheinlich die größten "Regelbrecher" sein?
Thomas Fues: Ebenso wie auf nationaler Ebene organisierte Kriminalität existiert, ist auch auf der Ebene der globalen Ordnungspolitik zu erwarten, dass sich gewisse skrupellose Akteure nicht an ethische Normen halten. Wir müssen also einen Weg finden, sie zurückzuhalten. Solche böswilligen Akteure können autoritäre Regime oder private Körperschaften sein, zum Beispiel aus dem Wirtschaftssektor. Es müssen effektive, unabhängige Mechanismen zur Überprüfung und zur gerichtlichen Urteilsfindung eingerichtet werden, die in gewissem Umfang auch Zwangsmaßnahmen einschließen können. In einem Schlüsselbereich globaler Ordnungspolitik – dem Handel – verfügen wir bereits über gut funktionierende Sanktionsmechanismen im Rahmen der WTO. Konflikte werden von unparteiischen Schlichtungsbehörden bearbeitet. Zahlreiche Staaten, schwache und starke, nutzen diese Regelung mit Erfolg. Natürlich setzt dies voraus, dass diese Staaten einen Teil ihrer Souveränität einer überstaatlichen Behörde übertragen. Die zentrale Herausforderung ist jetzt, wie dieses aufgeklärte Verständnis von nationaler Souveränität auf andere Bereiche globaler Ordnungspolitik übertragen werden kann.
Siddharth Mallavarapu: In der Tat besteht das Haupthindernis in der nationalen Souveränität. Ich denke, die Weltgemeinschaft hat leider das "Wir-Gefühl" noch nicht vollständig verinnerlicht. Zwar spielen globale Institutionen eine wichtige Rolle bei der Schaffung einer globalen Identität, aber einstweilen überwiegen noch traditionelle Auffassungen von Souveränität. Dies ist bedauerlich in einer zunehmend globalisierten Welt, und sicherlich ist es ein Teil des Problems, aber dies ist nun einmal der Stand der Dinge. Die Weltgemeinschaft verfügt bereits über Elemente eines weiter reichenden Konstitutionalismus, aber Staaten unterliegen auch der Tendenz, immer wieder in unterschiedliche nationale Logiken zurückzufallen.
Thomas Fues: Ich möchte nicht so pessimistisch sein. Wie gesagt, existieren bereits einige Mechanismen: Die WTO verfügt über ein unabhängiges Schlichtungsverfahren, und alle WTO-Mitglieder unterwerfen sich ihm. Oder nehmen Sie die Menschenrechtskonventionen: "Schattenberichte" von nichtstaatlichen Akteuren können beträchtlichen Druck auf abweichende Staaten ausüben, obwohl es keinen formalen Sanktionsmechanismus im Bereich der Menschenrechte gibt.
Siddharth Mallavarapu: Sanktionsmechanismen mögen in einigen Bereichen besser funktionieren als in anderen. Doch der entscheidende Punkt bleibt die Gesamtlegitimität der beteiligten Institutionen wie auch der gewählten Instrumente, die aus der Sicht der Benachteiligten genau zu prüfen sind. Solange sie als unrechtmäßig empfunden werden, weil sie nicht alle Vorstellungen einbeziehen, werden sie wohl nicht die erforderliche dauerhafte Basis bieten, auf der eine neue Architektur globaler Regierungsführung errichtet werden kann. Dazu kommen Befürchtungen, dass mit zweierlei Maß gemessen wird. Betrachten wir einmal den Internationalen Strafgerichtshof. Wie groß ist wohl die Wahrscheinlichkeit, dass irgend ein mächtiges Staatsoberhaupt aus den hochentwickelten Industriestaaten hier vorgeführt und zu seinen oder ihren politischen Exzessen verhört wird. Meines Erachtens ist der Gedanke der Wahrnehmung sehr wichtig: Wir können großartige Regeln und Institutionen haben, aber solange sie nicht universell als fair wahrgenommen werden, stehen wir wieder am Ausgangspunkt.
Westliche Gelehrte und Politiker nehmen zunehmend zur Kenntnis, dass große Entwicklungsländer – China, Indien, Brasilien, Südafrika und andere – die globale Bühne betreten haben. Spielen diese Länder eine eigenständige Rolle bei der Verankerung eines globalen ordnungspolitischen Rahmens? Und sind sie in der Lage, größere globale Gerechtigkeit zu erreichen?
Siddharth Mallavarapu: Hier sind wir Zeuge eines weltgeschichtlich interessanten Zusammentreffens. Was aus dieser Gelegenheit gemacht wird, ist bisher noch nicht absehbar. Realisten unter den Fachleuten für internationale Beziehungen erinnern uns gern daran, dass die Grundzüge der Macht sich ähneln, auch wenn sie in verschiedenen Regionen angesiedelt ist. Wenn Staaten erst einmal zu ersten Liga gehören, werden sie ihre eigenen, neuen Interessen vertreten. Ich neige eher dazu, zu untersuchen, ob im jeweiligen außenpolitischen Stil Brasiliens, Indiens oder Chinas aufgrund ihrer jeweils einzigartigen Lage und ihres weltgeschichtlichen Hintergrunds eine gewisse Unverwechselbarkeit zum Tragen kommen wird. Um das Beispiel Indiens aufzugreifen: Dieses Land meldete sich unter der Führung von Jawaharlal Nehru zu einer Reihe von Fragen (Entkolonialisierung, Abrüstung, Entwicklungsfragen) weitaus vernehmlicher zu Wort als indische Regierungen der jüngeren Vergangenheit. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass heutige Regierungen in Indien diese Themen weniger wichtig nehmen. Indien ist jedoch in seinem außenpolitischen Stil heute wesentlich umsichtiger, manche sagen, wesentlich pragmatischer, wobei ich nicht glaube, dass Nehru weniger pragmatisch war, nur weil er sich regelmäßiger und sichtbarer auf der Weltbühne äußerte.
Thomas Fues: Meiner Meinung nach stellt gerade ihre wirtschaftliche und politische Bedeutung eine große Herausforderung für diese aufstrebenden Mächte selbst dar. Heute hat die G20 die G8 im Hinblick auf die Gestaltung der globalen Agenda praktisch verdrängt. Doch die G20 muss ihre Identität und Bestimmung erst noch finden. Sie hatte sich gegründet als Ad-hoc-Hüterin globaler öffentlicher Güter, besonders mit Blick auf die Stabilität des Finanzsystems, das globale Wachstum und offene Märkte. Mit ihrem Beitritt in den Club haben die aufstrebenden Mächte freiwillig nicht nur die Privilegien, sondern auch die Verpflichtungen globaler Führerschaft übernommen. Niemand hat sie gezwungen beizutreten. Sie haben nun die Aufgabe, globale Institutionen voranzubringen, die auf normativen Fundamenten fußen. Dies werden sicherlich nicht die westlich geprägten Werte der Vergangenheit sein. Aber die neuen Schwergewichte aus dem Süden müssen nun ihre Karten auf den Tisch legen und der Weltöffentlichkeit mitteilen, wofür sie im Hinblick auf die globale Ordnung und auf Gerechtigkeit stehen.
Siddharth Mallavarapu: Dennoch sehe ich aufstrebende Mächte als extrem vorsichtige Akteure, wenn es darum geht, internationale Verpflichtungen einzugehen. Die Zusammenarbeit innerhalb des Südens zeigt heute andere Nuancen als in den Tagen der Blockfreien-Bewegung. Staaten sind rechenschaftspflichtig, sowohl innen- als auch außenpolitisch. Länder wie Indien sind sich bewusst, dass sie vor internen Entwicklungsherausforderungen stehen, und erkennen gleichzeitig, dass ihre derzeitigen Wachstumsraten, sofern sie über die kommende Dekade hinweg stabil bleiben, ihre Stellung innerhalb der Weltwirtschaft völlig verändern werden. Es ist ein schwieriger Balanceakt, der inneren oder der äußeren Entwicklung jeweils die richtige Bedeutung beizumessen. Ganz eindeutig aber ist zu erkennen, dass sich die globale Stimmungslage verändert, und sie ist im Großen und Ganzen optimistisch.
Das Interview fand am 13. April 2010 in Bonn statt.