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Bröckelt die "geistige Reserve des Okzidents"? | Spanien | bpb.de

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Bröckelt die "geistige Reserve des Okzidents"?

Matthias Jäger

/ 16 Minuten zu lesen

Spanien war jahrhundertelang eine Bastion des Katholizismus. Heute ist nicht zu verkennen, dass die Bindungskraft der (katholischen) Kirche in den vergangenen Jahrzehnten deutlich abgenommen hat.

Einleitung

Für den Vatikan ist Spanien die Feuerprobe für das zukünftige Verhältnis von Staat und Kirche in Europa." Derart kategorisch urteilte die "New York Times" zu Beginn vergangenen Jahres, und auch andere Stimmen sehen Spanien schon als "Anführer einer laizistischen Kulturrevolution in Europa". Angesichts einer unübersichtlichen religionspolitischen Großwetterlage auf dem Kontinent, die zwischen Schweizer Minarett-Verbot und Straßburger Kruzifix-Urteil viel Raum für Spekulationen lässt, fragen sich einige Beobachter: Zeigt die Entwicklung in Spanien, welche Rolle die Religion in Zukunft im säkularisierten Europa noch spielen soll?

Tatsächlich ist wohl derzeit nirgendwo in Europa das Verhältnis zwischen Staat und Kirche so umstritten wie in Spanien. In dem Land, das jahrhundertelang eine Bastion des Katholizismus war, der unter Franco gar offiziell zur Staatsreligion erhoben wurde, ist nicht zu verkennen, dass die Bindungskraft der (katholischen) Kirche in den vergangenen Jahrzehnten deutlich abgenommen hat und ihre Rolle innerhalb der Gesellschaft zunehmend für politischen Zündstoff sorgt. Eine besondere Zuspitzung erfuhr die Situation, als im Frühjahr 2008 innerhalb weniger Wochen der erzkonservative Kardinal Antonio María Rouco Varela - der in regelmäßigen Abständen zu Großdemonstrationen zur Verteidigung des katholischen Familienbildes aufruft - zum Vorsitzenden der spanischen Bischofskonferenz ernannt wurde und die sozialistische Regierung unter José Luis Rodríguez Zapatero - die in ihrer ersten Amtszeit einen linken Reformprozess sondergleichen durchgepeitscht hatte - im Amt bestätigt wurde. Vorausgegangen war den Parlamentswahlen damals ein Wahlkampf, in dem die katholische Kirche eine unverhohlene Wahlempfehlung ("moralische Orientierung") zugunsten der konservativen Volkspartei PP ausgesprochen hatte, während der Sprecher der Muslime im südspanischen Cordoba die Wahl der "fortschrittlichen Parteien" empfohlen hatte. Auch in jüngerer Zeit haben beide Seiten kaum eine Gelegenheit zur Provokation ausgelassen: Während die spanische Bischofskonferenz eine landesweite Plakatkampagne mit dem Tenor startete, dass der iberische Luchs in Spanien besser geschützt sei als das ungeborene menschliche Leben, entschied die sozialistische Regierung genau einen Tag nach den umstrittenen Äußerungen von Papst Benedikt XVI. zum Nutzen von Kondomen während dessen Afrikareise, spontan eine Million Präservative als Sofortmaßnahme gegen Aids nach Afrika zu schicken.

Dieser ideologisch aufgeheizte Konflikt reiht sich ein in eine Entwicklung des Auseinanderdriftens gesellschaftlicher Kräfte, deren Beziehungen durch die beginnende Aufarbeitung des Bürgerkrieges und der Franco-Diktatur nicht eben erleichtert werden, um die es aber in den vergangenen Jahren ohnehin schon nicht zum Besten stand. Während Spanien Nord- und Mitteleuropa gesellschaftspolitisch lange hinterherhinkte, hat die sozialistische Partei PSOE, die seit 2004 die Regierung stellt, das Land quasi auf die Überholspur gesetzt und innerhalb weniger Jahre eine "heilige Kuh" nach der anderen geschlachtet: Erst führte Spanien als zweites Land nach den Niederlanden die gleichberechtigte Ehe für homosexuelle Paare ein, anschließend eines der im EU-Vergleich schnellsten Scheidungsverfahren. Das Fach Bürgerkunde wurde komplementär zum Religionsunterricht eingeführt, die Sterbehilfe soll liberalisiert werden, und ein neues Abtreibungsrecht hat unlängst die letzten parlamentarischen Hürden genommen. Dass seit 2008 zum ersten Mal in der Geschichte Spaniens einem Kabinett mehr Frauen als Männer angehören, spiegelt zwar noch nicht die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse wider, sondern trägt eher pädagogische Züge. Das Bild von der hochschwangeren neuen Verteidigungsministerin Carme Chacon, die entschlossen die Reihen ihrer neuen Untergebenen abschritt, ging dennoch durch die internationale Presse und machte klar, wie tiefgreifend sich die spanische Gesellschaft seit einigen Jahren verändert. Diese Veränderungen versetzen die katholische Kirche, die trotz aller Öffnung neben dem Militär noch immer als ein Grundpfeiler des konservativen Spanien gilt, in eine schwierige Lage. Schon seit einigen Jahren lässt sich beobachten, dass der transicion política, dem Übergang zur Demokratie in den 1970er und 1980er Jahren, nach einer transicion social nun auch eine transicion religiosa zu folgen scheint - spanische Eltern nennen ihre Kinder längst nicht mehr selbstverständlich Piedad, Concepcion oder José María. Aber wie weit ist der Säkularisierungsprozess der spanischen Gesellschaft tatsächlich fortgeschritten? Genaue Mitgliederzahlen von Religionsgemeinschaften und verlässliche Aussagen zur Religiosität der Gesamtbevölkerung sind in Spanien nicht leicht zu bekommen, da im Land der Inquisition heute "niemand gezwungen werden (darf), sich zu seiner Weltanschauung, seiner Religion oder seinem Glauben zu äußern", ein Ausfluss der negativen Religionsfreiheit, der sich zum Beispiel auch auf offizielle Formulare und Anträge erstreckt. Eine aktuelle und umfassende Bestandsaufnahme der religiösen Lage in Spanien bietet der "Religionsmonitor" der Bertelsmann Stiftung, eine repräsentative Erhebung in 21 Ländern, die alle Kontinente und Weltreligionen berücksichtigt und dabei neben sechs weiteren EU-Ländern auch Spanien untersucht. Ein Vorteil dieses Instrumentes liegt darin, dass es die individuelle Religiosität der Spanierinnen und Spanier unabhängig von einer Kirchenmitgliedschaft erfasst.

Was glauben die Spanier eigentlich?

Nach dieser Erhebung nimmt Spanien heute im internationalen Vergleich der Religiosität eine mittlere Position ein: 27 Prozent der Spanierinnen und Spanier können danach als hochreligiös gelten, 52 Prozent als religiös, 19 Prozent als nichtreligiös. Damit liegt das "katholische Spanien" in etwa im westeuropäischen Durchschnitt, bleibt aber deutlich hinter ähnlich katholischen geprägten Ländern wie Polen oder Italien zurück. Die größte Dynamik entfaltet in Spanien derzeit nicht der Anteil der Katholiken (ca. 80 Prozent), sondern die wachsende Gruppe der Religionslosen, die bereits knapp 20 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Der Soziologe José Casanova vermerkt zu diesen Befunden: "Zu den bezeichnendsten Entwicklungen in den letzten Jahren zählen tatsächlich die vielen Fälle, in denen Spanier gerichtliche Schritte unternommen haben, um die katholische Kirche dazu zu zwingen, ihre Namen (...) aus den Taufregistern zu streichen." Dieses Engagement erstaunt aus deutscher Sicht nicht zuletzt deshalb, weil Spanien nach 1979 die Mandatssteuer eingeführt hat, nach der jeder Steuerpflichtige selbst wählen kann, ob 0,7 Prozent seiner Einkommenssteuer der Kirche oder einer (anderen) sozialen oder kulturellen Einrichtung zugute kommen sollen. Im Gegensatz zur deutschen Kirchensteuer kann man sich ihr aber nicht durch einen Kirchenaustritt entziehen.

Der Kirche macht nicht nur der beschleunigte Modernisierungsprozess und ihre teils sehr enge Verflechtung mit dem Franco-Regime zu schaffen, deretwegen sich viele Spanier in vergangenen Jahren von ihr abgewandt haben. Wenn man so will, werden der Kirche auch ihre große Tradition und die lange Zeit unangefochtene Monopolstellung zum Verhängnis. Wie in vielen anderen Gesellschaften, in denen die Religionszugehörigkeit in starkem Maße durch Geschichte und Tradition vorbestimmt ist, ist das intellektuelle Interesse, sich mit religiösen Themen auseinanderzusetzen - anders als in Ländern mit einem lebhaften "religiösen Markt" wie den USA - verhältnismäßig schwach ausgeprägt: Immerhin 30 Prozent der Spanier denken oft über religiöse Themen nach, aber nur 12 Prozent lesen oft religiöse oder spirituelle Bücher, 16 Prozent interessieren sich dafür, mehr über religiöse Themen zu erfahren (in den USA liegen diese Werte bei 64, 38 bzw. 30 Prozent).

"Catolicos light?"

Sehr klar lässt sich anhand der Daten des Religionsmonitors für Spanien erkennen, welche Bedeutung die Religiosität für den Alltag der Spanier hat: Zwar gibt etwa ein Drittel der Befragten an, im Alltag nach religiösen Geboten zu leben, immerhin einem Viertel ist die Teilnahme am Gottesdienst wichtig, und mehr als die Hälfte der Spanier glaubt daran, dass es einen Gott oder etwas Göttliches gibt. Ihre Religiosität ist aber nur für 32 Prozent der Spanier ein Lebensbereich, den sie als wichtig erachten. Zum Vergleich: Nahezu alle Befragten halten eine eigene Familie mit Kindern, jeder Vierte Arbeit und Beruf für wichtig. Und sofern sich die Spanier als religiös betrachten, wirkt sich dies im internationalen Vergleich weit unterdurchschnittlich auf ihren Alltag aus: Nur 17 Prozent etwa sagen von sich, dass sich ihre Religiosität deutlich auf ihre politische Einstellung auswirkt. Während die eigene Religiosität für 65 Prozent der Spanier eine hohe oder zumindest mittlere Bedeutung hat, wenn es um besondere Lebensereignisse wie Geburt, Heirat oder Tod geht, sehen nur 16 Prozent einen deutlichen Zusammenhang zwischen ihrem Glauben und ihrer Sexualität. Dieses Abstraktionsvermögen hat den Spaniern die (Selbst-)Bezeichnung als catolicos light eingebracht, die heute sehr genau zwischen ihrer religiösen Verwurzelung in den Dogmen der römisch-katholischen Kirche einerseits und den Auswirkungen auf die persönliche Lebensführung andererseits zu unterscheiden vermögen.

Bei diesen Befunden des Religionsmonitors handelt es sich zunächst um eine aktuelle Bestandsaufnahme. Einen Hinweis auf die zu erwartenden Entwicklungen der Religiosität in Spanien enthält jedoch die Aufschlüsselung nach Altersgruppen: Während bei den über 60-Jährigen die Hälfte der Befragten hochreligiös ist und nur 9 Prozent nicht religiös, sind es bei den 18- bis 29-Jährigen nur 11 Prozent Hochreligöse gegenüber 21 Prozent Nichtreligiösen. Auch die Weitergabe religiöser Inhalte durch Erziehung enthält ein Indiz für die Entwicklung der Religiosität innerhalb einer Gesellschaft: Fast alle Befragten geben an, selbst religiös erzogen worden zu sein, aber nur für ein Drittel der Spanier wirkt sich ihre Religiosität stark auf die Erziehung der eigenen Kinder aus. Neben dem Alter und dem Geschlecht - auch in Spanien sind Frauen deutlich religiöser als Männer - wird eine signifikant höhere Religiosität auch noch durch andere sozialstrukturelle Merkmale begünstigt, namentlich Partnerschaft und Kinderzahl. An diesen Zusammenhängen werden die zu erwartenden Auswirkungen des demografischen Wandels deutlich - denn immer mehr Kinder wachsen in Spanien als Scheidungskinder auf, und Spanien hat trotz der zwischenzeitlich eingeführten "Kinderprämie" eine der niedrigsten Geburtenraten weltweit.

Pluralisierung und Säkularisierung

Damit deuten alle Hinweise auf die zu erwartenden Entwicklungen der Religiosität in Spanien auf eine Anpassung an den religionssoziologisch feststellbaren Allgemeintrend Westeuropas hin, der seit Jahren durch religiöse Pluralisierung und Entkirchlichung geprägt ist. Eine geringe religiöse Vitalität der Gesamtgesellschaft bleibt jedoch auch nicht ohne Folgen für den geistlichen Nachwuchs. Ausgerechnet in dem Land, das zu allen Zeiten einflussreiche Ordensgemeinschaften innerhalb der römisch-katholischen Kirche hervorgebracht hat - von Dominikanern und Jesuiten bis hin zum Opus Dei und dem Neokatechumenalen Weg -, und das auch deshalb im Franquismus offiziell als reserva espiritual de occidente bezeichnet wurde, bricht der geistliche Nachwuchs weg: In Spaniens 70 Diözesen melden sich immer weniger Priesteramts-Kandidaten, nicht selten kann der Bedarf, der durch aus dem Amt scheidende Geistliche entsteht, nur durch Nachwuchs aus Afrika oder Lateinamerika gedeckt werden.

Daneben könnten auch der demografische Wandel und die starken Einwanderungswellen der vergangenen Jahre schon bald an der Monopolstellung des Katholizismus kratzen und merklich Bewegung in den "religiösen Markt" in Spanien bringen: Zwar kamen mit den zahlreichen Südamerikanern durchaus auch gläubige Katholiken ins Land und konnten die eher laue Religiosität der jungen Generation in gewissem Maße ausgleichen. Gleichzeitig verschiebt sich die regionale Verteilung der Einwanderer aber zugunsten von Menschen aus dem ehemaligen Ostblock - besonders aus Rumänien, Bulgarien und der Ukraine - und aus Nordafrika, die in der Regel christlich-orthodox bzw. muslimisch sind. Auch wenn die nicht-katholischen Gemeinschaften statistisch bisher kaum ins Gewicht fallen, prognostiziert der Soziologe Casanova deshalb, dass Spanien "im Begriff ist, zum ersten Mal seit der Vertreibung von Juden und Muslimen vor einem halben Jahrtausend wieder ein Land mit religiösem Pluralismus zu werden".

Convivencia, Alhambra-Modell, Mythos Toledo

Bis 1492 hatte die sogenannte convivencia, das jahrhundertelange weitgehend friedliche Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen im mittelalterlichen Spanien dem Land - und in der Folge auch Europa - eine einzigartige kulturelle Blütezeit beschert. In den vergangenen Jahren schien es jedoch eher, als habe Spanien diese historische Erfahrung kaum für sich fruchtbar machen können, als würden der "Mythos Toledo" oder das "Alhambra-Modell" oft zu leichtfertig bemüht: In dem Maße, in dem sich Spanien in den 1980er Jahren öffnete und vom traditionellen Auswanderungsland zu einem der wichtigsten Einwanderungsländer in Europa wurde, nahmen auch fremdenfeindliche Konflikte und religiöse Intoleranz zu, wie wir sie aus anderen europäischen Gesellschaften kennen. Einerseits hat die spanische Gesellschaft nach den tragischen Anschlägen islamistischer Terroristen auf mehrere Vorortzüge in Madrid im März 2004 im Umgang mit muslimischen Bürgern verhältnismäßig besonnen reagiert. Andererseits zeigt eine Studie des Pew Research Center vom Frühjahr 2008, dass 46 Prozent der Spanier heute eine eher schlechte oder sehr schlechte Meinung von Juden haben, 52 Prozent geben dies für ihr Verhältnis zu den Muslimen an. Damit nimmt Spanien eine wenig rühmliche Spitzenposition vor Polen, Russland, Deutschland, Frankreich und Großbritannien ein. Der "Gallup Islam-West Index" zählt die Spanier unter 21 Ländern zu denjenigen Befragten, die am wenigsten optimistisch auf das Verhältnis des Westens zur islamischen Welt blicken. Und auch der Religionsmonitor weist für Spanien im europäischen Vergleich deutlich unterdurchschnittliche religiöse Toleranzwerte aus.

Dennoch beruft man sich gerne auf die geschichtlichen Erfahrungen und geizte entsprechend nicht mit Symbolik, als das Königreich Spanien 1992 - genau 500 Jahre nach dem Inkrafttreten des Vertreibungsedikts der Katholischen Könige Ferdinand und Isabella von 1492 - mit der Spanisch-Muslimischen Kommission ein Kooperationsabkommen schloss, das pragmatische Regeln für die Anerkennung der Muslime und die Ausübung ihres Glaubens im Alltag enthält, vom Schutz islamischer Feiertage und Gebetszeiten über die religiöse Betreuung von Muslimen in Krankenhäusern, Altenheimen und beim Militär bis hin zu muslimischen Speise- und Reinheitsvorschriften. Damit waren die Spanier vergleichbaren europäischen Gesellschaften Anfang der 1990er Jahre einen guten Schritt voraus, allein um die praktische Umsetzung des Kooperationsabkommens ist es bisher noch eher bescheiden bestellt. Aus heutiger Sicht erfolgreicher erscheint die Gründung einer an die Religionsbehörde im Justizministerium angehängten Stiftung "Pluralismus und Zusammenleben" (Fundacion Pluralismo y Convivencia) durch den spanischen Ministerrat im Jahr 2004, die sich in ihrer Satzung ausdrücklich der Förderung der Religionsfreiheit verschreibt. So wie 1967 das sogenannte "Protestantenstatut" - eine Konsequenz der Erklärung über die Religionsfreiheit vom 7. Dezember 1965 im Rahmen des Zweiten Vatikanischen Konzils - markieren auch die bilateralen Abkommen mit einzelnen nicht-katholischen Religionsgemeinschaften von 1992 und die Aktivitäten der Fundacion seit 2004 wichtige Schritte auf dem Weg zu einem souveräneren Verhältnis der katholischen Mehrheit zu den religiösen Minderheiten und einer Sensibilisierung der spanischen Behörden.

Dass der Umgang mit religiösen Minderheiten in Spanien historisch bedingt bis heute einige interessante Besonderheiten aufweist, mag ein Beispiel aus dem Bereich des Staatsbürgerschaftsrechts verdeutlichen: Im Jahr 2008 wurden insgesamt 120 sephardische Juden nach Spanien eingebürgert, die aufgrund ihrer spanischen Vorfahren eine "besonders innige und tiefe Verbundenheit mit Spanien auf emotionaler und historischer Ebene" für sich in Anspruch nehmen konnten. Diese bevorzugte Behandlung bei der Einbürgerung, wie sie bereits seit einigen Jahren praktiziert wird, forderten mittlerweile auch Vertreter muslimischer Verbände für die Nachkommen der 1610 aus Spanien vertriebenen getauften Mauren (moriscos) ein. Weitgehend unerforscht ist bisher, inwieweit sich die lange Präsenz des Islam auf der iberischen Halbinsel und deren zahlreiche Zeugnisse, die das Kulturerbe des Landes entscheidend mitprägen, auf Selbstbewusstsein und Selbstverständnis der eingewanderten Muslime auswirken, oder ob dieser Rückbezug für die Mehrheit der Muslime keinerlei Rolle spielt. Explizit beschwören bisher nur islamistische Terroristen die Vergangenheit: Das Terrornetzwerk al-Qaida rief schon vor geraumer Zeit alle Muslime Nordafrikas in einer Videobotschaft dazu auf, al-Andaluz zurückzuerobern, die jahrhundertelange Herrschaft des Islam über Spanien wiederherzustellen.

"Theo-Cons" vs. laizistische Eiferer

Es bleibt abzuwarten, wie sich die religiöse Pluralisierung in den nächsten Jahren auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und auch auf die Positionierung der katholischen Kirche in Spanien auswirken wird. Letztere hat nach wie vor den Übergang vom Staatskirchentum zur Kirche im modernen, säkularen Staat zu bewältigen und wird die Formen der Zusammenarbeit mit dem Staat neu aushandeln müssen. Dieser Prozess dürfte auch für das Selbstverständnis von Kirche in anderen Ländern Europas von Interesse sein.

Die scharfen politischen und juristischen Kontroversen über den Charakter der Trennung von Staat und Kirche in den vergangenen Jahren und die starke soziale Polarisierung in Bezug auf die Rolle der Religion im öffentlichen Raum rühren auch daher, dass die religionsrechtlichen Verhältnisse in Spanien nicht mehr uneingeschränkt der tatsächlichen gesellschaftlichen Lage entsprechen. Einige Sozialisten würden deshalb jahrzehntealte Vereinbarungen lieber heute als morgen aufkündigen. Auf ihrem Parteitag im Juli 2008 einigte sich die PSOE jedoch zunächst einmal auf die auch von Regierungschef Zapatero bevorzugte Linie, dass die im Staatsvertrag mit dem Vatikan der katholischen Kirche zugestandenen exklusiven Privilegien bis auf Weiteres nicht angetastet werden. Man wolle eine größere Trennung von Staat und Kirche nicht erzwingen, sondern vielmehr die Entwicklung der spanischen Gesellschaft in diese Richtung "leiten und begleiten". Im Juni 2009 kündigte das zweite Kabinett Zapatero - von dem erstmals in der 30-jährigen demokratischen Geschichte des Landes kein einziger Minister seinen Amtseid auf die Bibel geleistet hat - an, das Gesetz zur Religionsfreiheit aus dem Jahre 1980 (Ley Orgánica de Libertad Religiosa) grundlegend zu reformieren, das neben der Verfassung den normativen Rahmen des Staat-Kirche-Verhältnisses in Spanien entscheidend bestimmt.

Mit seiner Verfassung von 1978 hatte sich Spanien im europäischen Spektrum zwischen Staatskirchentum und Laizismus deutlich am deutschen Beispiel einer "hinkenden" Trennung von Staat und Kirche orientiert und die entsprechenden Artikel teilweise wörtlich aus dem Grundgesetz bzw. der Weimarer Verfassung übernommen. Man kennt daher trotz aller kulturgeschichtlichen nationalen Besonderheiten auch ähnliche religionspolitische Diskussionen, von konfessionellem Religionsunterricht bis zu den Auseinandersetzungen über Moscheebauten - und seit November 2008 hat nun selbst das "katholische Spanien" sein erstes Kruzifix-Urteil. Ihre Beziehung zum Staat ist für das Wesen der katholischen Kirche in Spanien jahrhundertelang prägend gewesen. Diese traditionell starke rechtliche Verflechtung lässt sich selbst am aktuellen Verfassungstext noch ablesen: Obwohl Artikel 16 neben der Religionsfreiheit und der Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften auch die grundsätzliche konfessionelle Neutralität des Staates betont, spricht er im letzten Absatz doch wieder von "der katholischen Kirche und den anderen Konfessionen" - eine Formulierung, die erst auf Betreiben der spanischen Bischöfe in den Text aufgenommen wurde. Gregorio Peces-Barba, einer der sieben Väter der spanischen Verfassung, bekannte dazu einmal: "Es war ein Fehler, die katholische Kirche in der Verfassung namentlich zu nennen."

Besonders im Lichte der religiösen Pluralisierung des Landes und der Anerkennung religiöser Minderheiten, aber auch der nach wie vor bestehenden Privilegien der katholischen Kirche wird das spanische Religionsverfassungsrecht in den nächsten Jahren weiter auf dem Prüfstand stehen. Die katholische Kirche wird ihrerseits einen Weg finden müssen, den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung zu tragen und mit ihrer ureigenen Botschaft gerade unter den Jugendlichen wieder anschlussfähig zu werden. Da kommt es wie gerufen, dass Papst Benedikt XVI. bei der Abschlussmesse des vergangenen Weltjugendtages in Sydney unter großem Jubel der spanischen Gläubigen verkündete: "The World Youth Day 2011 will take place in Madrid, Spain!" Gastgeber wird dann der Erzbischof der spanischen Hauptstadt und Papst-Vertraute Kardinal Antonio María Rouco Varela sein, der in einer ersten Stellungnahme sofort die außergewöhnliche Bedeutung hervorhob, die das Treffen in Madrid für die Kirche in Spanien hat. Nicht zuletzt stellt der Weltjugendtag, ebenso wie der geplante Papstbesuch im November 2010 in Barcelona und Santiago, auch eine große Chance zur Imagepflege dar. In Umfragen zum Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in verschiedene gesellschaftliche Institutionen bilden zwar in Spanien fast immer die politischen Parteien das Schlusslicht - auf dem vorletzten Platz findet sich jedoch regelmäßig die katholische Kirche.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Rachel Donadio, For Vatican, Spain is a Key Front in Church-State Battle, in: The New York Times vom 6.1.2009, S. 6; Ute Müller, Spaniens Wahlverlierer Rajoy will wieder gegen Zapatero antreten, derweil muss sich der sozialistische Wahlgewinner auf die harte Opposition der Kirche gefasst machen, in: Die Welt vom 13.3.2008, S. 4.

  2. Artikel 16 Absatz 2 der spanischen Verfassung von 1978, deutsch u.a. bei Adolf Kimmel/Christiane Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, München 2005, S. 789-830.

  3. Vgl. dazu Andrés Ollero Tassara, Anmerkung 1 zu Art. 10: Religionsfreiheit aus spanischer Perspektive, in: Klaus Stern/Peter J. Tettinger, Europäische Verfassung im Werden, Berlin 2006, S. 334-344.

  4. Vgl. für alle im Folgenden aufgeführten Daten den Anhang zu Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2009; dies., Religionsmonitor 2008 - Spanien: Überblick zu religiösen Einstellungen und Praktiken, Gütersloh 2009.

  5. Vgl. Centro de Investigaciones Sociologicas (CIS), Studie 2775, Madrid 2008.

  6. José Casanova, Religiosität in Spanien: Eine interpretative Lektüre der Resultate des Religionsmonitors, in: Bertelsmann Stiftung, Analysen (Anm. 4), S. 229-264, hier: S. 230; vgl. auch Javier Cáceres, Katholisch bis in alle Ewigkeit: In Spanien ist es kaum noch möglich, rechtsgültig aus der Kirche auszutreten, in: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 2.10.2008, S. 8.

  7. Vgl. KNA-Informationsdienst, (2009) 47, S. 7.

  8. José Casanova, Religiosität in Spanien: Eine erste Kommentierung der Resultate des Religionsmonitors für Spanien, in: Bertelsmann Stiftung, Spanien (Anm. 4), S. 22-29, hier: S. 23.

  9. Vgl. José María Ridao, Die Furcht vor einem muslimischen Spanien: Wie die Historiker der "Reconquista" die katholische Einheit der iberischen Halbinsel erfanden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 18.9.2006, S. 42; Francisco García Fitz, Auf dem Weg zum Djihad: Die Toleranz im islamischen Spanien ist nur ein multikultureller Mythos, in: Die Welt vom 1.6.2006, S. 28.

  10. Vgl. The Pew Global Attitudes Project, Unfavourable Views of Jews and Muslims on the Increase in Europe, Washington, D.C. 2008, online: http://pewglobal.org/reports/pdf/262.pdf (18.8.2010).

  11. Vgl. World Economic Forum, Islam and the West: Annual report on the State of Dialogue, Genf 2008, S. 20-27, online: www.weforum.org/pdf/C100/Islam_West.pdf (18.8.2010).

  12. Vgl. Acuerdo de Cooperacion del Estado Español con la Comision Islámica de España vom 10.11.1992.

  13. Vgl. Matthias Koenig, Repräsentanzmodelle des Islam in europäischen Staaten, in: Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hrsg.), Islam einbürgern. Auf dem Weg zur Anerkennung muslimischer Vertretungen in Deutschland, Berlin 2005, S. 19-32.

  14. Vgl. María José Ciáurriz, La Fundacion Pluralismo y Convivencia, in: Andrés Corsino Álvarez Cortina/Miguel Rodríguez Blanco (Hrsg.), Aspectos del régimen economico y patrimonial de las confesiones religiosas, Granada 2008, S. 105-121. Siehe auch die Internetseite der Stiftung: www.pluralismoyconvivencia.es.

  15. Vgl. Pressemeldungen des spanischen Justizministeriums vom 1. Februar, 8. Februar, 9. Mai, 13. Juni und 17. Oktober 2008 unter www.mjusticia.es (18.8.2010). Die Eingebürgerten stammten größtenteils aus der Türkei und Venezuela, wenige Antragsteller aus Israel und Marokko.

  16. Vgl. Ingo von Münch, Die deutsche Staatsbürgerschaft: Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft, Berlin 2007, S. XXXII.

  17. Vgl. KNA, Spanien will Kreuze aus öffentlichen Gebäuden verbannen, Madrid 6.6.2009. Die spanische Bischofskonferenz ihrerseits hat das Reformvorhaben unlängst als "kulturellen Sebstmord" bezeichnet, KNA, Spaniens Kirche: Religionsgesetz ist "kultureller Selbstmord", Madrid 26.6.2010.

  18. Vgl. María J. Roca, Das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen in Spanien im Vergleich zum deutschen Staatskirchenrecht, in: Europäische Zeitschrift des öffentlichen Rechts, 10 (1998) 2, S. 341-371.

  19. Urteil Nr. 288/2008 des Juzgado de lo contencioso administrativo No. 2 Valladolid vom 14.11.2008; vgl. auch Javier Cáceres, Kruzifix muss weichen: Spanisches Gericht verbannt Symbol aus Schule, in: SZ vom 24.11.2008, S. 7.

  20. Zit. nach: Paul Ingendaay, Beter und Arbeiter: Spaniens Sozialisten wollen nicht mit der Kirche brechen, in: FAZ vom 15.7.2008, S. 31.

M.A., geb. 1975; Studium der Rechtswissenschaften und Spanien- und Lateinamerikastudien in Freiburg, Mexiko-Stadt, Bielefeld und Madrid; Projektmanager bei der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh; derzeit berufsbegleitende Promotion zur Religionsfreiheit in Spanien. E-Mail Link: matthias.jaeger@bertelsmann-stiftung.de