Einleitung
Für den Vatikan ist Spanien die Feuerprobe für das zukünftige Verhältnis von Staat und Kirche in Europa." Derart kategorisch urteilte die "New York Times" zu Beginn vergangenen Jahres, und auch andere Stimmen sehen Spanien schon als "Anführer einer laizistischen Kulturrevolution in Europa".
Tatsächlich ist wohl derzeit nirgendwo in Europa das Verhältnis zwischen Staat und Kirche so umstritten wie in Spanien. In dem Land, das jahrhundertelang eine Bastion des Katholizismus war, der unter Franco gar offiziell zur Staatsreligion erhoben wurde, ist nicht zu verkennen, dass die Bindungskraft der (katholischen) Kirche in den vergangenen Jahrzehnten deutlich abgenommen hat und ihre Rolle innerhalb der Gesellschaft zunehmend für politischen Zündstoff sorgt. Eine besondere Zuspitzung erfuhr die Situation, als im Frühjahr 2008 innerhalb weniger Wochen der erzkonservative Kardinal Antonio María Rouco Varela - der in regelmäßigen Abständen zu Großdemonstrationen zur Verteidigung des katholischen Familienbildes aufruft - zum Vorsitzenden der spanischen Bischofskonferenz ernannt wurde und die sozialistische Regierung unter José Luis Rodríguez Zapatero - die in ihrer ersten Amtszeit einen linken Reformprozess sondergleichen durchgepeitscht hatte - im Amt bestätigt wurde. Vorausgegangen war den Parlamentswahlen damals ein Wahlkampf, in dem die katholische Kirche eine unverhohlene Wahlempfehlung ("moralische Orientierung") zugunsten der konservativen Volkspartei PP ausgesprochen hatte, während der Sprecher der Muslime im südspanischen Cordoba die Wahl der "fortschrittlichen Parteien" empfohlen hatte. Auch in jüngerer Zeit haben beide Seiten kaum eine Gelegenheit zur Provokation ausgelassen: Während die spanische Bischofskonferenz eine landesweite Plakatkampagne mit dem Tenor startete, dass der iberische Luchs in Spanien besser geschützt sei als das ungeborene menschliche Leben, entschied die sozialistische Regierung genau einen Tag nach den umstrittenen Äußerungen von Papst Benedikt XVI. zum Nutzen von Kondomen während dessen Afrikareise, spontan eine Million Präservative als Sofortmaßnahme gegen Aids nach Afrika zu schicken.
Dieser ideologisch aufgeheizte Konflikt reiht sich ein in eine Entwicklung des Auseinanderdriftens gesellschaftlicher Kräfte, deren Beziehungen durch die beginnende Aufarbeitung des Bürgerkrieges und der Franco-Diktatur nicht eben erleichtert werden, um die es aber in den vergangenen Jahren ohnehin schon nicht zum Besten stand. Während Spanien Nord- und Mitteleuropa gesellschaftspolitisch lange hinterherhinkte, hat die sozialistische Partei PSOE, die seit 2004 die Regierung stellt, das Land quasi auf die Überholspur gesetzt und innerhalb weniger Jahre eine "heilige Kuh" nach der anderen geschlachtet: Erst führte Spanien als zweites Land nach den Niederlanden die gleichberechtigte Ehe für homosexuelle Paare ein, anschließend eines der im EU-Vergleich schnellsten Scheidungsverfahren. Das Fach Bürgerkunde wurde komplementär zum Religionsunterricht eingeführt, die Sterbehilfe soll liberalisiert werden, und ein neues Abtreibungsrecht hat unlängst die letzten parlamentarischen Hürden genommen. Dass seit 2008 zum ersten Mal in der Geschichte Spaniens einem Kabinett mehr Frauen als Männer angehören, spiegelt zwar noch nicht die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse wider, sondern trägt eher pädagogische Züge. Das Bild von der hochschwangeren neuen Verteidigungsministerin Carme Chacon, die entschlossen die Reihen ihrer neuen Untergebenen abschritt, ging dennoch durch die internationale Presse und machte klar, wie tiefgreifend sich die spanische Gesellschaft seit einigen Jahren verändert. Diese Veränderungen versetzen die katholische Kirche, die trotz aller Öffnung neben dem Militär noch immer als ein Grundpfeiler des konservativen Spanien gilt, in eine schwierige Lage. Schon seit einigen Jahren lässt sich beobachten, dass der transicion política, dem Übergang zur Demokratie in den 1970er und 1980er Jahren, nach einer transicion social nun auch eine transicion religiosa zu folgen scheint - spanische Eltern nennen ihre Kinder längst nicht mehr selbstverständlich Piedad, Concepcion oder José María. Aber wie weit ist der Säkularisierungsprozess der spanischen Gesellschaft tatsächlich fortgeschritten? Genaue Mitgliederzahlen von Religionsgemeinschaften und verlässliche Aussagen zur Religiosität der Gesamtbevölkerung sind in Spanien nicht leicht zu bekommen, da im Land der Inquisition heute "niemand gezwungen werden (darf), sich zu seiner Weltanschauung, seiner Religion oder seinem Glauben zu äußern",
Was glauben die Spanier eigentlich?
Nach dieser Erhebung nimmt Spanien heute im internationalen Vergleich der Religiosität eine mittlere Position ein: 27 Prozent der Spanierinnen und Spanier können danach als hochreligiös gelten, 52 Prozent als religiös, 19 Prozent als nichtreligiös.
Der Kirche macht nicht nur der beschleunigte Modernisierungsprozess und ihre teils sehr enge Verflechtung mit dem Franco-Regime zu schaffen, deretwegen sich viele Spanier in vergangenen Jahren von ihr abgewandt haben. Wenn man so will, werden der Kirche auch ihre große Tradition und die lange Zeit unangefochtene Monopolstellung zum Verhängnis. Wie in vielen anderen Gesellschaften, in denen die Religionszugehörigkeit in starkem Maße durch Geschichte und Tradition vorbestimmt ist, ist das intellektuelle Interesse, sich mit religiösen Themen auseinanderzusetzen - anders als in Ländern mit einem lebhaften "religiösen Markt" wie den USA - verhältnismäßig schwach ausgeprägt: Immerhin 30 Prozent der Spanier denken oft über religiöse Themen nach, aber nur 12 Prozent lesen oft religiöse oder spirituelle Bücher, 16 Prozent interessieren sich dafür, mehr über religiöse Themen zu erfahren (in den USA liegen diese Werte bei 64, 38 bzw. 30 Prozent).
"Catolicos light?"
Sehr klar lässt sich anhand der Daten des Religionsmonitors für Spanien erkennen, welche Bedeutung die Religiosität für den Alltag der Spanier hat: Zwar gibt etwa ein Drittel der Befragten an, im Alltag nach religiösen Geboten zu leben, immerhin einem Viertel ist die Teilnahme am Gottesdienst wichtig, und mehr als die Hälfte der Spanier glaubt daran, dass es einen Gott oder etwas Göttliches gibt. Ihre Religiosität ist aber nur für 32 Prozent der Spanier ein Lebensbereich, den sie als wichtig erachten. Zum Vergleich: Nahezu alle Befragten halten eine eigene Familie mit Kindern, jeder Vierte Arbeit und Beruf für wichtig. Und sofern sich die Spanier als religiös betrachten, wirkt sich dies im internationalen Vergleich weit unterdurchschnittlich auf ihren Alltag aus: Nur 17 Prozent etwa sagen von sich, dass sich ihre Religiosität deutlich auf ihre politische Einstellung auswirkt. Während die eigene Religiosität für 65 Prozent der Spanier eine hohe oder zumindest mittlere Bedeutung hat, wenn es um besondere Lebensereignisse wie Geburt, Heirat oder Tod geht, sehen nur 16 Prozent einen deutlichen Zusammenhang zwischen ihrem Glauben und ihrer Sexualität. Dieses Abstraktionsvermögen hat den Spaniern die (Selbst-)Bezeichnung als catolicos light eingebracht, die heute sehr genau zwischen ihrer religiösen Verwurzelung in den Dogmen der römisch-katholischen Kirche einerseits und den Auswirkungen auf die persönliche Lebensführung andererseits zu unterscheiden vermögen.
Bei diesen Befunden des Religionsmonitors handelt es sich zunächst um eine aktuelle Bestandsaufnahme. Einen Hinweis auf die zu erwartenden Entwicklungen der Religiosität in Spanien enthält jedoch die Aufschlüsselung nach Altersgruppen: Während bei den über 60-Jährigen die Hälfte der Befragten hochreligiös ist und nur 9 Prozent nicht religiös, sind es bei den 18- bis 29-Jährigen nur 11 Prozent Hochreligöse gegenüber 21 Prozent Nichtreligiösen. Auch die Weitergabe religiöser Inhalte durch Erziehung enthält ein Indiz für die Entwicklung der Religiosität innerhalb einer Gesellschaft: Fast alle Befragten geben an, selbst religiös erzogen worden zu sein, aber nur für ein Drittel der Spanier wirkt sich ihre Religiosität stark auf die Erziehung der eigenen Kinder aus. Neben dem Alter und dem Geschlecht - auch in Spanien sind Frauen deutlich religiöser als Männer - wird eine signifikant höhere Religiosität auch noch durch andere sozialstrukturelle Merkmale begünstigt, namentlich Partnerschaft und Kinderzahl. An diesen Zusammenhängen werden die zu erwartenden Auswirkungen des demografischen Wandels deutlich - denn immer mehr Kinder wachsen in Spanien als Scheidungskinder auf, und Spanien hat trotz der zwischenzeitlich eingeführten "Kinderprämie" eine der niedrigsten Geburtenraten weltweit.
Pluralisierung und Säkularisierung
Damit deuten alle Hinweise auf die zu erwartenden Entwicklungen der Religiosität in Spanien auf eine Anpassung an den religionssoziologisch feststellbaren Allgemeintrend Westeuropas hin, der seit Jahren durch religiöse Pluralisierung und Entkirchlichung geprägt ist. Eine geringe religiöse Vitalität der Gesamtgesellschaft bleibt jedoch auch nicht ohne Folgen für den geistlichen Nachwuchs. Ausgerechnet in dem Land, das zu allen Zeiten einflussreiche Ordensgemeinschaften innerhalb der römisch-katholischen Kirche hervorgebracht hat - von Dominikanern und Jesuiten bis hin zum Opus Dei und dem Neokatechumenalen Weg -, und das auch deshalb im Franquismus offiziell als reserva espiritual de occidente bezeichnet wurde, bricht der geistliche Nachwuchs weg: In Spaniens 70 Diözesen melden sich immer weniger Priesteramts-Kandidaten, nicht selten kann der Bedarf, der durch aus dem Amt scheidende Geistliche entsteht, nur durch Nachwuchs aus Afrika oder Lateinamerika gedeckt werden.
Daneben könnten auch der demografische Wandel und die starken Einwanderungswellen der vergangenen Jahre schon bald an der Monopolstellung des Katholizismus kratzen und merklich Bewegung in den "religiösen Markt" in Spanien bringen: Zwar kamen mit den zahlreichen Südamerikanern durchaus auch gläubige Katholiken ins Land und konnten die eher laue Religiosität der jungen Generation in gewissem Maße ausgleichen. Gleichzeitig verschiebt sich die regionale Verteilung der Einwanderer aber zugunsten von Menschen aus dem ehemaligen Ostblock - besonders aus Rumänien, Bulgarien und der Ukraine - und aus Nordafrika, die in der Regel christlich-orthodox bzw. muslimisch sind. Auch wenn die nicht-katholischen Gemeinschaften statistisch bisher kaum ins Gewicht fallen, prognostiziert der Soziologe Casanova deshalb, dass Spanien "im Begriff ist, zum ersten Mal seit der Vertreibung von Juden und Muslimen vor einem halben Jahrtausend wieder ein Land mit religiösem Pluralismus zu werden".
Convivencia, Alhambra-Modell, Mythos Toledo
Bis 1492 hatte die sogenannte convivencia, das jahrhundertelange weitgehend friedliche Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen im mittelalterlichen Spanien dem Land - und in der Folge auch Europa - eine einzigartige kulturelle Blütezeit beschert. In den vergangenen Jahren schien es jedoch eher, als habe Spanien diese historische Erfahrung kaum für sich fruchtbar machen können, als würden der "Mythos Toledo" oder das "Alhambra-Modell" oft zu leichtfertig bemüht:
Dennoch beruft man sich gerne auf die geschichtlichen Erfahrungen und geizte entsprechend nicht mit Symbolik, als das Königreich Spanien 1992 - genau 500 Jahre nach dem Inkrafttreten des Vertreibungsedikts der Katholischen Könige Ferdinand und Isabella von 1492 - mit der Spanisch-Muslimischen Kommission ein Kooperationsabkommen schloss, das pragmatische Regeln für die Anerkennung der Muslime und die Ausübung ihres Glaubens im Alltag enthält, vom Schutz islamischer Feiertage und Gebetszeiten über die religiöse Betreuung von Muslimen in Krankenhäusern, Altenheimen und beim Militär bis hin zu muslimischen Speise- und Reinheitsvorschriften.
Dass der Umgang mit religiösen Minderheiten in Spanien historisch bedingt bis heute einige interessante Besonderheiten aufweist, mag ein Beispiel aus dem Bereich des Staatsbürgerschaftsrechts verdeutlichen: Im Jahr 2008 wurden insgesamt 120 sephardische Juden nach Spanien eingebürgert, die aufgrund ihrer spanischen Vorfahren eine "besonders innige und tiefe Verbundenheit mit Spanien auf emotionaler und historischer Ebene" für sich in Anspruch nehmen konnten.
"Theo-Cons" vs. laizistische Eiferer
Es bleibt abzuwarten, wie sich die religiöse Pluralisierung in den nächsten Jahren auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und auch auf die Positionierung der katholischen Kirche in Spanien auswirken wird. Letztere hat nach wie vor den Übergang vom Staatskirchentum zur Kirche im modernen, säkularen Staat zu bewältigen und wird die Formen der Zusammenarbeit mit dem Staat neu aushandeln müssen. Dieser Prozess dürfte auch für das Selbstverständnis von Kirche in anderen Ländern Europas von Interesse sein.
Die scharfen politischen und juristischen Kontroversen über den Charakter der Trennung von Staat und Kirche in den vergangenen Jahren und die starke soziale Polarisierung in Bezug auf die Rolle der Religion im öffentlichen Raum rühren auch daher, dass die religionsrechtlichen Verhältnisse in Spanien nicht mehr uneingeschränkt der tatsächlichen gesellschaftlichen Lage entsprechen. Einige Sozialisten würden deshalb jahrzehntealte Vereinbarungen lieber heute als morgen aufkündigen. Auf ihrem Parteitag im Juli 2008 einigte sich die PSOE jedoch zunächst einmal auf die auch von Regierungschef Zapatero bevorzugte Linie, dass die im Staatsvertrag mit dem Vatikan der katholischen Kirche zugestandenen exklusiven Privilegien bis auf Weiteres nicht angetastet werden. Man wolle eine größere Trennung von Staat und Kirche nicht erzwingen, sondern vielmehr die Entwicklung der spanischen Gesellschaft in diese Richtung "leiten und begleiten". Im Juni 2009 kündigte das zweite Kabinett Zapatero - von dem erstmals in der 30-jährigen demokratischen Geschichte des Landes kein einziger Minister seinen Amtseid auf die Bibel geleistet hat - an, das Gesetz zur Religionsfreiheit aus dem Jahre 1980 (Ley Orgánica de Libertad Religiosa) grundlegend zu reformieren,
Mit seiner Verfassung von 1978 hatte sich Spanien im europäischen Spektrum zwischen Staatskirchentum und Laizismus deutlich am deutschen Beispiel einer "hinkenden" Trennung von Staat und Kirche orientiert und die entsprechenden Artikel teilweise wörtlich aus dem Grundgesetz bzw. der Weimarer Verfassung übernommen.
Besonders im Lichte der religiösen Pluralisierung des Landes und der Anerkennung religiöser Minderheiten, aber auch der nach wie vor bestehenden Privilegien der katholischen Kirche wird das spanische Religionsverfassungsrecht in den nächsten Jahren weiter auf dem Prüfstand stehen. Die katholische Kirche wird ihrerseits einen Weg finden müssen, den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung zu tragen und mit ihrer ureigenen Botschaft gerade unter den Jugendlichen wieder anschlussfähig zu werden. Da kommt es wie gerufen, dass Papst Benedikt XVI. bei der Abschlussmesse des vergangenen Weltjugendtages in Sydney unter großem Jubel der spanischen Gläubigen verkündete: "The World Youth Day 2011 will take place in Madrid, Spain!" Gastgeber wird dann der Erzbischof der spanischen Hauptstadt und Papst-Vertraute Kardinal Antonio María Rouco Varela sein, der in einer ersten Stellungnahme sofort die außergewöhnliche Bedeutung hervorhob, die das Treffen in Madrid für die Kirche in Spanien hat. Nicht zuletzt stellt der Weltjugendtag, ebenso wie der geplante Papstbesuch im November 2010 in Barcelona und Santiago, auch eine große Chance zur Imagepflege dar. In Umfragen zum Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in verschiedene gesellschaftliche Institutionen bilden zwar in Spanien fast immer die politischen Parteien das Schlusslicht - auf dem vorletzten Platz findet sich jedoch regelmäßig die katholische Kirche.