Einleitung
Meldungen dieses Sommers: Am 13. Juni 2010 wird ein 17-jähriger Gymnasiast in Germering nahe München festgenommen, weil er offenbar einen Sprengstoffanschlag auf seine Schule plante. Am 7. Juli nimmt die Polizei im baden-württembergischen Ludwigsburg einen 16-jährigen Schüler fest, um einen Amoklauf zu verhindern - für die Polizeidirektion Ludwigsburg bereits die 17. Amokdrohung seit Jahresbeginn. Die Internetsuchmaschine Google liefert mittlerweile weit über 100.000 Einträge, wenn man nach "Amokdrohung" in Kombination mit "Schule" sucht. Auch wenn viele Drohungen nicht ernst gemeint sind, stellt sich doch die Frage, ob es neue, auch extreme Gewaltphänomene gibt, auf die sich Schulen einstellen müssen, und wie sie gegebenenfalls damit umgehen können. Dieser Frage werde ich in diesem Beitrag
Von der Schüler- zur Lehrergewalt
Die aktuelle Debatte um "Schule und Gewalt" wird vor allem durch die Gewalt von Lehrpersonen gegenüber ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schülern dominiert. Die in letzter Zeit bekannt gewordenen Fälle von sexueller Gewalt an (reform-)pädagogischen Einrichtungen haben die Öffentlichkeit erschüttert. Jede Gewalttat
Rasche Antworten wird es indes kaum geben, da im Fokus der schulbezogenen Gewaltforschung der vergangenen Jahre weniger die Gewalt von Lehrpersonen (und erst recht nicht deren sexuelle Übergriffe), sondern vor allem die Schülergewalt stand. Überhaupt - so zeigt ein Blick zurück - sind die jeweiligen Gewaltdebatten nur im historischen Kontext zu verstehen. So spielte bis Ende der 1980er Jahre das Thema "Schule und Gewalt" in der Öffentlichkeit, folglich auch in der Forschung, kaum eine Rolle. Zu jener Zeit wurde Schülergewalt vor allem als Reaktion auf Schulgewalt thematisiert, das heißt, Schülergewalt wurde als eine Art Gegengewalt zur institutionellen Gewalt gesehen, mit der Schülerinnen und Schüler den Leistungsdruck zu kompensieren und die Macht der Institution in Grenzen zu halten versuchten.
In den 1990er Jahren wurde das Thema "Gewalt an Schulen" - ausgelöst durch eine intensive Berichterstattung - dann zu einem "Medienereignis", was einen Forschungsboom zur Folge hatte. Dabei zeigte sich übereinstimmend, dass die von den Medien suggerierte drastische Zunahme von Schülergewalt nicht belegbar war. Vielmehr ergab sich ein differenziertes Bild: Verbale Aggressionen dominieren, mit Abstand folgen physische Gewalt und Vandalismus. Körperverletzung, Erpressung oder sexuelle Belästigung sind selten, häufiger dagegen Aggressionen gegenüber Lehrern sowie Lehreraggressionen gegenüber Schülern. Jungen sind für Gewalt anfälliger, wobei die geschlechterspezifischen Unterschiede umso mehr hervortreten, je härter die Gewaltformen sind. Nichtgymnasiale Schulformen, insbesondere Förderschulen und Hauptschulen, sind aufgrund ihrer Schülerklientel vergleichsweise stärker durch Gewalt belastet. Von den Jahrgangsstufen kristallisieren sich der siebte bis neunte Jahrgang als Schwerpunkte heraus. Als Gewalt fördernde beziehungsweise hemmende Faktoren wurden sowohl außerschulische als auch innerschulische Faktoren nachgewiesen, zum Beispiel die Lern- und Schulkultur, insbesondere die Qualität des Lehrer-Schüler-Verhältnisses. Daran anknüpfend wurden Möglichkeiten der schulischen Prävention und Intervention abgeleitet.
In der 2000er Jahren wurden nur noch wenige Studien zu Gewalt an Schulen veröffentlicht. Der Forschungsbedarf schien gedeckt, offen blieb jedoch, ob das "Gewaltproblem" kleiner geworden war. Die wenigen aktuellen Studien bestätigen im Wesentlichen die Untersuchungsergebnisse der 1990er Jahre, nach denen die überwiegende Mehrheit der Schülerinnen und Schüler friedfertig ist, wenngleich beachtliche Unterschiede in Abhängigkeit von der Schulform, den sozialen, regionalen und ethnischen Merkmalen zu verzeichnen sind.
Während zum sexuellen Missbrauch seitens der Schullehrkräfte keine Daten bekannt sind (zum einen, weil dieses Thema in der Pädagogik offenbar tabu ist, und zum anderen, weil es für die Forschung schwer zugänglich ist), liegen zur sonstigen Lehrergewalt einige Befunde vor. Danach gehört Gewalt, vor allem in psychischer Form, durchaus zum Handlungsrepertoire von Lehrkräften. Einer Untersuchung an österreichischen Schulen zufolge erlebten sich Schülerinnen und Schüler häufiger als Opfer von Lehrerangriffen als von Schülerangriffen.
Eine aktuelle repräsentative Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen unter 15-jährigen Schülern, die 2007/2008 erstmals auch Lehrergewalt einbezog, ergab einen Anteil von jeweils 27 Prozent, die angaben, von Lehrern lächerlich gemacht beziehungsweise gemein behandelt worden zu sein, zwei bis drei Prozent davon wöchentlich. 2,5 Prozent gaben sogar an, im zurückliegenden Schulhalbjahr von einer Lehrkraft geschlagen worden zu sein, dabei deutlich mehr Jungen als Mädchen.
Die Befunde zur Lehrergewalt signalisieren insgesamt einen beachtlichen Handlungsbedarf bei der Zivilisierung und Demokratisierung der Lehrer-Schüler-Interaktionen. Aggressives Handeln seitens der Lehrpersonen ist häufig ein Zeichen von Überforderung oder Überlastung, von mangelnden Konfliktlösungskompetenzen und fehlender kollegialer beziehungsweise sozialer Unterstützung. Schulische Beziehungskonflikte wiederum können die mitunter recht strapazierte Gesundheit der Lehrkräfte enorm belasten.
Als Strategien zur Verminderung von Lehrergewalt lassen sich folglich ableiten: die Entwicklung einer demokratischen Schulkultur und eines teamfähigen Lehrerkollegiums, die Förderung von sozialen Kompetenzen bei Schülern und Lehrern, die Verbesserung der schulischen Arbeitsbedingungen und - auf längere Sicht - die zielgerichtete Rekrutierung und Vorbereitung des Lehrernachwuchses.
Cyberbullying und happy slapping
Mit dem Einzug neuer Medien sind auch neue Formen des mobbing verbunden. Dazu gehören vor allem cyberbullying und happy slapping. Unter cyberbullying wird mobbing unter Einsatz von Medien verstanden, wenn ein Opfer über einen längeren Zeitraum per (Online-)Medien schikaniert und gedemütigt wird.
Cyberbullying kann verschiedene Formen annehmen: Beschimpfungen, Bloßstellen im öffentlichen Raum (Internet), Gemeinheiten oder Bedrohungen unter anderem per SMS, E-Mail oder Onlinechat, das Hinterlegen von entsprechenden Texten, zum Beispiel auf dem Pinboard von sozialen Netzwerken wie SchülerVZ, das Vortäuschen der Identität eines Mitschülers oder einer Mitschülerin und dessen beziehungsweise deren Kompromittieren, das Aufnehmen "peinlicher" Bilder oder Filme und deren Weiterleitung beziehungsweise Veröffentlichung, die Beschämung des Opfers durch E-Mails oder SMS mit persönlichen Inhalten, sogenannten Hass-Seiten oder Hass-Gruppen bei SchülerVZ, das gezielte Ausschließen des Opfers in den Internetforen oder bei Onlinespielen, das Androhen von Gewalt im Internet - und noch Vieles mehr.
Eine besonders extreme Form des cyberbullying ist das "happy slapping" ("Fröhliches Zuschlagen") beziehungsweise handy slapping, bei der Jugendliche (meist Jungen) Gewalttaten begehen, diese mit dem Handy filmen und die Filme anschließend verschicken und damit das Opfer bloßstellen und dauerhaft demütigen.
Zur Verbreitung der genannten Phänomene liegen erste Befunde vor, die belegen, dass cyberbullying in Chatrooms weit verbreitet ist. So gaben in einer Studie von 2007 rund vierzig Prozent der befragten Chat-Teilnehmer an, von anderen Chattern bereits beleidigt, gehänselt oder beschimpft worden zu sein. Jeder Zehnte gab an, im Chatroom schon erpresst, unter Druck gesetzt oder bedroht worden zu sein, und rund ein Viertel berichtete von Erfahrungen mit Ausgrenzung, Nicht-Beachtung oder Isolation.
In den Chatrooms spielt zudem die sexuelle Viktimisierung eine große Rolle. So gaben in der gleichen Studie gut zwei Fünftel der befragten jugendlichen Chatter an, während der Chatbesuche gegen ihren Willen nach sexuellen Dingen gefragt worden zu sein. Jeder Neunte habe bereits unaufgefordert Nacktfotos und fünf Prozent sogar Pornofilme zugeschickt bekommen. Acht Prozent seien vor der Webcam zu sexuellen Handlungen aufgefordert worden.
Untersuchungsergebnisse zum happy slapping belegen auch dessen relativ hohen Verbreitungsgrad. So räumt beispielsweise ein Drittel der jugendlichen Handy-Besitzer ein, dass in ihrem Freundeskreis Fotos und Videos gewalthaltigen oder pornografischen Inhalts kursieren. Fast jeder Zehnte gab zu, selbst schon einmal solche Inhalte empfangen zu haben. Ein Drittel der Jungen und ein Viertel der Mädchen berichteten, dass in ihrem Bekanntenkreis schon einmal eine Prügelei mit dem Handy gefilmt wurde, wobei die größte Verbreitung bei den 12- bis 15-Jährigen ermittelt wurde.
Da cyberbullying mittlerweile - ähnlich wie herkömmliches mobbing - zum Schulalltag gehört, stehen Schulen vor der Aufgabe, Gewaltprävention und Medienerziehung zu verbinden und dabei auch das Internet einzubeziehen. So sind Schülerinnen und Schüler sowie Eltern darüber aufzuklären, was im Chat passieren kann. Zugleich kann der Chatroom aber auch als Unterrichtsmedium genutzt werden. Außerdem können Schulen die Betreuung von Chats organisieren und Opfern helfen. Daneben sollten Lehrkräfte mit den Funktionen moderner Handys vertraut sein und wissen, dass entsprechende Videos und Bilder Gesprächsthemen unter der Schülerschaft sein können.
Im Rahmen der Medienerziehung sollte auch über die Auswirkungen und über mögliche Straftatbestände aufgeklärt werden. So sind Veröffentlichungen von Schlägereien oder Vergewaltigungen ebenso strafbar wie das Beleidigen in Foren oder Chatrooms. Unter Einbeziehung der Schüler- und Elternvertreter sollten klare Regeln über die Nutzung von Handys vereinbart und konsequent gegen Verstöße vorgegangen werden. Schülerinnen und Schülern sollte vermittelt werden, wie man sich vor cyberbullying schützen kann (zum Beispiel: keine Weitergabe von Passwörtern oder PINs, keine Reaktion auf Beleidigungen, Hilfe bei Erwachsenen suchen und anderes mehr). Auch Aufklärungskampagnen wie "Watch your web" können ein stärkeres Bewusstsein für einen verantwortungsvollen Umgang mit persönlichen Daten schaffen.
Amokläufe und Amokdrohungen
Zu den neueren Gewaltformen an Schulen müssen seit einigen Jahren auch Amokläufe und -drohungen gezählt werden. Während Amokdrohungen - ob als (Nachahmungs-)Tat aus Spaß, Langeweile oder Rache - inzwischen nicht mehr ganz so selten vorkommen, sind Amokläufe als eine besonders extreme Gewaltform nach wie vor sehr, sehr seltene Einzelfälle. Bei Amokläufen im Zusammenhang mit Schulen ist der Begriff school shootings angemessener, da es sich nicht um spontane, wahllose, sondern meist um zielgerichtete Angriffe mit Tötungsabsicht auf Lehrkräfte und/oder Mitschülerinnen und Mitschüler handelt, bei denen Waffen (Schuss-, Klingenwaffen, Bomben) zum Einsatz kommen und bei denen die Schule bewusst als Tatort gewählt wird.
Bis in die 1990er Jahre hinein waren Amokläufe vor allem ein in den USA auftretendes Phänomen. Mittlerweile sind sie an Schulen zu einer internationalen Erscheinung geworden.
Forschungsbefunde zu Schulamokläufen beziehungsweise school shootings lassen auf ein komplexes Ursachengefüge schließen. Wenngleich sich bisher kein einheitliches Täterprofil feststellen ließ (mit der Ausnahme, dass die Täter fast immer männlichen Geschlechts waren), wurde eine Reihe von Risikofaktoren ermittelt: In nahezu allen Fällen hatten die Täter ihre Taten angekündigt und gezielte Vorbereitungen getroffen. Sie konsumierten gewalthaltige Medien (Videos, Musik), zeigten starkes Interesse an Gewalt und Waffen und hatten vor allem auch Zugang zu Schusswaffen. Fast alle Täter galten als "unauffällig", wohnten im Elternhaus und entstammten der Mittelschicht. Einige der Täter hatten ein konkretes mediales Vorbild. Insgesamt betrachtet war ihre Tat ein verlängerter Suizid. Darüber hinaus hatten die Täter in den allermeisten Fällen soziale Zurückweisungen durch Gleichaltrige erlebt und kaum Unterstützung von Freunden, Eltern oder Lehrkräften bei (auch schulischen) Konflikten erfahren, was auf eine nicht unproblematische Rolle der Schule schließen lässt.
Da sich Schulamokläufe wohl nicht gänzlich verhindern lassen, kommt es darauf an, durch gezielte Amokprävention deren Wahrscheinlichkeit zu verringern. School shootings entstehen nicht aus dem Nichts, sondern sind das Ende eines meist längeren Entwicklungsprozesses, in dessen Verlauf sich Auffälligkeiten zeigen. Solche Tathinweise werden leaking genannt (englisch: leckschlagen, durchsickern). Direktes leaking wären zum Beispiel schriftliche (Aufsätze, Briefe, SMS, Chats), verbale oder in Zeichnungen, Fotos oder Filmen festgehaltene Tatankündigungen. Indirektes leaking können auffällige Verhaltensweisen sein wie intensive Beschäftigung mit Waffen, Krieg, früheren school shootings, gewalthaltigen Medien oder auch mit Suizid.
Lehrkräfte sollten leaking-Dokumente und Veränderungen im Verhalten von Schülern stets ernst nehmen, voreilige Stigmatisierungen jedoch vermeiden. Mittlerweile gibt es in vielen Bundesländern Sicherheitskonzepte für Schulen, schulinterne Krisenteams, ausgebildete Ansprechpartner sowie Notfallpläne für Schulen, in denen praktische Leitlinien für den Umgang mit Amoktaten enthalten sind (zum Beispiel Sofortreaktion, Einleiten von Schutzmaßnahmen, Informationsweitergabe, Nachsorge). Der Aufbau eines "Frühwarnsystems" zur Erkennung von Amoktaten (beziehungsweise deren Planung) ist zu empfehlen. Dieses sollte eingebettet sein in eine "Kultur des Hinschauens und Hinhörens".
Darüber hinaus werden in der Öffentlichkeit im Gefolge extremer Gewalttaten auch immer wieder Gegenmaßnahmen diskutiert, wie zum Beispiel ein Verbot des Waffenzugangs, die Begrenzung des Einflusses von gewaltverherrlichenden Medien sowie die besondere Verantwortungswahrnehmung seitens der Medien, die durch ihre reißerischen Berichte nicht unmaßgeblich zu Nachahmungstaten beitragen und die notwendige Sensibilität gegenüber den Trauernden mitunter vermissen lassen.
Fazit und Ausblick
Lehrergewalt, cyberbullying, Amokläufe - was ist daran neu? Lehrergewalt hat es an Schulen immer gegeben. Noch vor nicht allzu langer Zeit galt ein "Klaps" als ein bewährtes Züchtigungsmittel in Schule wie Familie. Neu ist, dass durch die aktuellen Enthüllungen von Missbrauchsfällen in (reform-)pädagogischen Einrichtungen die Frage nach dem Schutz vor Machtmissbrauch an Schulen, die Frage der professionellen Distanz und der Berufsethik der Lehrerschaft auf dem Prüfstand stehen. Das betrifft sowohl die Sensibilisierung für die Wahrung der Kinderrechte als auch die Forderung nach mehr Öffentlichkeit, Transparenz und Kontrolle in den Kollegien wie in den Lehrer-Schüler-Beziehungen sowie die Forderung nach einer gezielten Auswahl und Förderung des Lehrernachwuchses. Entsprechender Forschungs- und Handlungsbedarf ist angezeigt.
Dessen ungeachtet lässt sich bereits festhalten: Lehrergewalt und Schülergewalt sind meist ein Interaktionsprodukt und Ausdruck einer "Schulunkultur" und fordern geradezu eine demokratische, gewaltfreie Konflikt- und Schulkultur heraus. Dazu wurde in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von gewaltbezogenen und gewaltunspezifischen Handlungsansätzen entwickelt, die der weiteren Umsetzung in die Schulpraxis bedürfen.
Cyberbullying ist im Vergleich zum herkömmlichen mobbing kein völlig neues Phänomen, dennoch erreicht mobbing im Internet durch die zeitliche und räumliche Entgrenzung eine bisher nicht gekannte Intensität und Qualität, was für die Opfer die Schmerzen ins Unermessliche treiben kann. Lehrerinnen und Lehrer sollten deshalb die neuen Phänomene kennen und zusammen mit der Schüler- und Elternschaft klare Regeln für den Umgang mit mobbing sowie mit den neuen Medien wie Handys und Internet vereinbaren. Im Unterschied zum beinahe alltäglichen cyberbullying sind school shootings sehr extreme Einzelfälle. Gleichwohl sind Schulen gut beraten, entsprechende "Frühwarnsysteme" aufzubauen und Achtsamkeit und Sensibilität gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern zu zeigen.
Viele Schulen haben in jüngerer Zeit zahlreiche Präventionsaktivitäten organisiert, wenngleich sich die Präventionspraxis noch als verbesserungsbedürftig erweist und vor allem mehr Fortbildung notwendig wäre.