Einleitung
Weida de zhongguo" (großartiges Reich der Mitte) - so lautet das Urteil vieler Chinesen über ihr Land. Die Aussage wird oft spontan und wenig reflektiert getroffen, als wäre sie eine Selbstverständlichkeit. Das "großartige Reich der Mitte" ist ein Mythos, der so alt ist wie die Kultur des Reiches am Gelben Fluss und Yangtse-Strom. Eine beispiellose Entwicklung zu einem nicht nur wirtschaftlich bedeutenden Staat in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts lässt den Mythos heute wieder aktuell erscheinen.
Ursprünglich war der Begriff "Reich der Mitte" ein Plural und bezeichnete die geografische Lage kleiner Fürstentümer am Gelben Fluss, die als "Staaten der Mitte"
Der geografische Begriff "Reich der Mitte" wurde sehr bald zu einem kulturellen: Das, was in der Mitte lag und ein geeintes Reich bildete, galt als höherstehender und entwickelter als die meist nomadisierenden "Barbarenländer" an der Peripherie. Wer "in der Mitte" lebte, der war gewiss, in einer Region zu leben, die laut Selbstwahrnehmung als politisches und kulturelles Zentrum der Welt galt, ohne dass diese Region viel von der "Außenwelt", besonders jener in Europa, wusste. Auch viele Europäer waren bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts davon überzeugt, dass China eine der "bestmöglichen Welten", wenn nicht gar die "beste mögliche Welt" unseres Planeten darstellte - im Unterschied zu heute waren darunter viele prominente Deutsche: Denker wie Gottfried Wilhelm Leibniz oder Christian Wolff outeten sich damals als "China-Fans", die in sinoskeptischen und eurozentrischen Denkern wie Johann Gottfried Herder ihre "Gegenspieler" fanden. Ihre Diskurse drifteten schnell ins Extreme, egal ob Leibniz den chinesischen Kaiser als "hervorragenden Fürsten"
Gefühl des Besonderen: Mythos vom "Reich der Mitte"
Im griechischen Sinne ist unter dem Begriff "Mythos" eine Geschichte oder Erzählung zu verstehen, welche vielen Menschen in einer Gesellschaft bekannt ist, und welche die Welt der Menschen mit der Welt der Götter und Geister verknüpft. Doch ist dies im Folgenden nicht gemeint, wenn vom Mythos des "Reichs der Mitte" die Rede ist. Passender ist die Definition von Roland Barthes: Unter Mythos versteht er viel allgemeiner und wesentlich diesseitiger eine "Aussage" des aktuellen öffentlichen Diskurses. Er ist "im allgemeinsten Sinn (...) ein Begriff, ein Produkt oder ein Erklärungsmuster mit großer öffentlicher Ausstrahlung."
Der Gedanke des "Reichs der Mitte" erinnert an jenen Baum, den Roland Barthes als Beispiel für seine Definition des Mythos anführt: "Ein Baum ist ein Baum. Gewiss! Aber ein Baum, der von Minou Drouet ausgesprochen wird, ist schon nicht mehr ganz ein Baum, er ist ein geschmückter Baum, der einem bestimmten Verbrauch angepasst ist, der mit literarischen Wohlgefälligkeiten, mit Auflehnungen, mit Bildern versehen ist, kurz: mit einem gesellschaftlichen Gebrauch, der zu der reinen Materie hinzutritt."
Das "Reich der Mitte" galt als "Erfolgsstory", das selbst Krisenzeiten in Form von Eroberungen durch feindlich gesinnte Völker wie die Mongolen erfolgreich überstand. Der Erfolg bestand darin, diese "niedrig stehenden Barbaren" ohne entwickelte Agrar- und Stadtkultur und vor allem ohne entwickelte Literatur zu höherwertigen Menschen umzuformen - kurzum: sie zu sinisieren. Sie erhielten damit eine neue Identität: die chinesische. Der Mythos vom "Reich der Mitte" erweiterte sich um das in China verbreitete Bild einer "großen Familie" verschiedener Volksgruppen (minzu), die nun nach vielen blutigen Kriegen und Konflikten verbunden durch einen kulturellen Kanon lebten.
Einer beeindruckenden Verwaltungsbürokratie gelang es spätestens ab der Zeit der Han-Dynastie (206 v.Chr. bis 220 n.Chr.), chinesische Kulturmerkmale fest in die Organisationsstruktur des Staates zu integrieren, so dass diese zu einem allgemein verbindlichen Bildungskanon wurden. Der Konfuzianismus und seine Schriften gehörten zu den bekanntesten Merkmalen einer spezifisch chinesischen Kultur. Wer in China Erfolg haben beziehungsweise das Land führen wollte, der musste sich diese Kulturmerkmale aneignen. Dazu gehörte vor allem das darin vorgeschriebene Verhältnis zwischen Herrscher und Untertanen zu verinnerlichen, wie sie die fünf Beziehungen (wulun) konfuzianischer Ethik vorgeben.
Bis heute stellen diese Verhaltensprinzipien die Grundlage des chinesischen Staates dar. Ihre Erfüllung legitimiert das Mandat des Herrschers und ist Kernaufgabe der Politik. Ein wesentlicher Grund dafür, dass der Mythos des "Reichs der Mitte" bis heute aufrechterhalten werden konnte, so auch unter der "modernen", sogenannten sozialistischen Regierung, liegt im Erfolg dieses Regulierungsprinzips.
"Reiches Land und starkes Volk": Mythos von der Auferstehung Chinas
Mitte des 19. Jahrhunderts traf China der größte Schock seiner Geschichte: Die erfolgreichen Angriffe britischer Kanonenboote stürzten das stolze "Reich der Mitte" in die quasi-koloniale Abhängigkeit. Das historische Gedächtnis Chinas sah sich mit einem Male empfindlich gestört, weil der Mechanismus der "Sinisierung" des Fremden bei den "widerspenstig-arroganten Europäern" nicht funktionierte: Sie nahmen sich, was sie wollten, erzwangen einen ungleichen Vertrag nach dem anderen und trotzten sich weite Küstenstriche als Handelshäfen und koloniale Einflusszonen ab. Überall zeigten sie offen ihre technologische Überlegenheit. Zwischen 1894 und 1895 gelang es auch dem kleinen Inselreich Japan den großen Drachen China derart vernichtend zu schlagen, dass China "von dieser Zeit an nicht mehr Herr über sein Schicksal" war.
Spätestens mit der Niederlage des "Reichs der Mitte" im Opiumkrieg 1842 gegen die Engländer begann der hartnäckige chinesische qifu-Komplex, das Gefühl des "Gedemütigt werdens", aus dem nur die Zukunft das Land befreien konnte. Eine Zukunft, die aus "mehr Kampfstärke, erfolgreichen Kriegen gegen die Unterdrücker und allgemein mehr Aggressivität gegenüber Unterdrückern aller Art" bestehen müsste.
Zwar etablierten die Kommunisten unter Mao 1949 eine neue Dynastie und knüpften damit wieder an das starke "Reich der Mitte" der Vergangenheit an. Doch auch die "Mao-Dynastie", die Strategien politischer Stärke und wirtschaftlicher Autarkie verfolgte, konnte das kollektive Gefühl einer gedemütigten Nation nicht überwinden. Seine Herrschaftsjahre von 1949 bis 1976 werden im kollektiven Bewusstsein der chinesischen Gesellschaft zumindest teilweise als weitere Jahre der "Demütigung"
"China der Demütigungen"
Das Gefühl der Demütigung sitzt tief in der kollektiven Erinnerung Chinas. Denn trotz wirtschaftlich äußerst erfolgreicher drei Jahrzehnte nach der Reform- und Öffnungspolitik seit 1978, welche der chinesischen Gesellschaft neuen Stolz und Selbstbewusstsein einflößten, sind besonders die Stimmen laut, die an Chinas Demütigung durch die Europäer vor mehr als 150 Jahren erinnern. Die Beispiele hierfür sind zahlreich wie etwa der Bestseller aus den 1990er Jahren China kann "Nein" sagen.
Erst mit der Reform- und Öffnungspolitik seit 1978 bot sich aus Sicht der chinesischen Eliten eine historische Chance, das Image eines gedemütigten Landes zu überwinden. In dieser Phase übernahm der technologische Fortschritt die Aufgabe, die Gegenwart so zu gestalten, dass wirtschaftliche Stärke gepaart mit internationalem Ansehen das "China der Demütigungen" endgültig zur Vergangenheit werden lässt.
An die Stelle des agrarischen Chinas, das noch in den 1990er Jahren das Selbstbild prägte, ist im 21. Jahrhundert eine zukunftsorientierte und technologiegläubige urbane Kultur getreten. Sie treibt die gesellschaftliche Entwicklung an und fördert den neuen Mythos eines Phönix, der endgültig aus der Asche der Vergangenheit aufsteigt. Dieser Phönix - im Übrigen ein chinesischer Mythos
Gerade der kollektive Wunsch, "ein starkes Volk zu sein", könnte Anzeichen für einen tief sitzenden Minderwertigkeitskomplex vieler Chinesen gegenüber Europäern und Amerikanern sein. Man empfindet sich als schwach im Vergleich zu den erfolgreichen Völkern des Westens und wünscht sich mehr Mut und Stärke, wie sie der Autor Jiang Rong in seinem erfolgreichen Buch Wolf Totem (Lang Tu Teng) seinen Protagonisten einfordern lässt: "Noch immer thronen Wölfin und ihre Kinder über der Stadt Rom. In den starken Volks-Adern ihrer Nachfolger, Germanen und Angelsachsen, floss ebenfalls Wolfsblut. Und das schwache chinesische Volk, das Han-Volk bedarf unbedingt einer solchen Infusion wilden Blutes. Ohne den Wolf gäbe es die Geschichte der Menschheit so nicht, wie sie ist."
Der "Chinesische Traum" neuer Stärke besteht an der Oberfläche aus jenen Bildern, die ein Times-Reporter in den Wochen der Olympischen Spiele eingefangen hat: Ein Land, das zum ersten Mal sportlich die USA bezwingen und somit ein wenig "Wolfsnatur" im Sinne Jiang Rongs zeigen konnte. Noch stärker aber beeindruckte den Korrespondenten, dass er den alten amerikanischen Pioniergeist des 19. und 20. Jahrhunderts, "the optimism, dynamism, the patriotism, the cando-spirit, the determination to leave the next generation better off than one's own",
Im Gegensatz dazu messen einige chinesische Autoren den "Chinesischen Traum" eines wirtschaftlich, politisch und kulturell erstarkten Landes eher an den Bedürfnissen des Alltags: In der Verbesserung adäquater Bildungsangebote für eine breite Masse junger Menschen
Land zwischen Traum und Wirklichkeit
Ökonomisch und zunehmend auch politisch ist China wieder in den Mittelpunkt der Welt gerückt. Allerdings teilt es diese Stellung vor allem mit den USA, die der einzige wirkliche Rivale um die Position des Primus sind, und ein wenig auch mit den Europäern, was künftig allerdings von der Einigkeit Europas abhängen wird. Wieder im kulturellen Sinne "Reich der Mitte" zu sein, nährt den "Chinesischen Traum" neuer nationaler Größe.
Mit dem zwangsläufigen Niedergang der transatlantisch geprägten Weltordnung kommt dem alten und neuen "Reich der Mitte" eine Schlüsselposition zu, dessen konkrete Aufgaben der "Chinesische Traum" kaum anspricht: China muss zu einer der wichtigen Integrationskräfte für eine stabile Weltordnung aus Ost und West, Nord und Süd werden. Die Funktion, die es im Kleinen bereits im Falle des Korea-Konflikts inne hat, gilt es zunehmend auch in anderen Spannungsbereichen zu erfüllen: die der friedlichen politischen Mittlerrolle. Gerade Chinas gute Beziehungen zum Iran und anderen Konfliktherden können einer wirklich integrativen Rolle Chinas in der Welt, einem neuen Verständnis als "Reich in der Mitte", dienlich sein.
Die Zukunft liegt daher eher bei denen - sei es in Europa oder in China -, die erkannt haben, dass ein friedliches Zusammenleben "in der Mitte" nur durch internationale Kooperation Wirklichkeit werden kann. Zur weiteren Einbindung des Landes in multilateral-globale Organisationen, Verbände und Abkommen bedarf es einer Internationalisierung des Landes (auch im Inneren) und Kooperationen von Chinesen und Nicht-Chinesen bei der Bewältigung chinesischer Strukturprobleme beispielsweise in den Bereichen Bildung und Armutsbekämpfung. Davor steht aber die Notwendigkeit für den Abbau der auf beiden Seiten propagierten kulturellen Dichotomie: "wir und die", "unsere Kultur und ihre Kultur". Wenn diese Art der Zusammenarbeit möglich wird, dann vergrößert sich die Chance, dass China auch international als ein "großartiges" Land anerkannt wird.