Einleitung
Die Frage, ob und wenn ja in welcher Weise sich in China Elemente einer Zivilgesellschaft entwickeln, bedarf zunächst der Klärung folgender Punkte: Wie ist der Begriff zu definieren? Unter welchen Voraussetzungen kann sich eine solche Gesellschaft innerhalb eines autoritären Staatswesens herausbilden? In Europa wird "Zivilgesellschaft" als die Entstehung einer vom Staat unabhängigen öffentlichen gesellschaftlichen Sphäre begriffen. Eine solche Begriffsbestimmung passt jedoch nicht auf das gegenwärtige China, wo es aufgrund der politischen Strukturen enge und vielfältige Verflechtungen zwischen dem Parteistaat und zivilgesellschaftlichen Kräften gibt. Von daher erscheint eine Definition angebrachter, die "Zivilgesellschaft" stärker an die Herausbildung von Bürgern und den Begriff der "Zivilisierung" im Sinne von Norbert Elias (Wandel der Persönlichkeitsstruktur) knüpft.
Binden wir den Begriff der Zivilgesellschaft jedoch stärker an die Herausbildung von Bürgern und Zivilisierungsprozesse, dann verlieren die Faktoren der "Autonomie" vom Staat und der Entwicklung "von unten" an Bedeutung. Strukturen der Zivilgesellschaft können dann auch "von oben" (durch den Staat) erzeugt werden und trotz enger Verflechtungen mit staatlichen Strukturen können "Bürger" entstehen. Denn Staat und Gesellschaft stellen grundsätzlich keine voneinander getrennten Sphären dar, sondern sind über spezifische Netzwerke und Beziehungsgeflechte miteinander verbunden.
Bezogen auf China meint Zivilgesellschaft daher, inwiefern sich Strukturen herausbilden, die zwar nicht autonom, aber auch nicht identisch mit dem Parteistaat sind, die staatliche Dominanz eingrenzen und die Atomisierung der Gesellschaft aufbrechen. In diesem Sinne geht es weniger um Kontrolle des Staates oder die Ausübung von Macht durch zivilgesellschaftliche Kräfte, sondern um Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft. Unter chinesischen Wissenschaftlern gibt es seit Ende der 1980er Jahre eine breite Diskussion über den Begriff "Zivilgesellschaft" und seine Anwendbarkeit auf China. Ein kürzlich erschienener Sammelband fasst die wichtigsten Positionen zusammen: Die überwiegende Mehrheit der Diskutanten bindet den Begriff an die Entstehung von Vereinigungen und nichtstaatlichen Organisationen. Nur wenige gehen darüber hinaus und knüpfen den Begriff auch an Bürgerrechte, Individualisierungsprozesse oder Bürgerbewusstsein.
Der polnische Soziologe Piotr Sztompka hat im Hinblick auf die postsozialistische Entwicklung in Osteuropa die Herausbildung von vier "Kulturen" benannt, derer es bedürfe, um "zivilgesellschaftliche Kompetenz" und damit die Voraussetzungen für eine moderne Zivilgesellschaft zu erlangen: Unternehmenskultur, Bürgerkultur, Diskurskultur und Alltagskultur.
Bürger - Voraussetzung von Zivilgesellschaft
Dabei binde ich den Bürgerbegriff an vier Voraussetzungen: (a) die Existenz von Gesellschaftsmitgliedern mit Bürgersinn und -verantwortung; (b) die Existenz und Durchsetzbarkeit persönlicher Freiheitsrechte; (c) Gelegenheiten zur Mitwirkung an gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen (Partizipation) und (d) ein angemessener Lebensstandard als materielle Voraussetzung für soziales Engagement.
Bürger- oder Gemeinsinn in Form des Engagements von Individuen oder Gruppen für sozial Schwache oder ehrenamtliche Arbeit ist in China bislang noch relativ schwach ausgeprägt, auch wenn das Engagement großer Bevölkerungsteile nach dem Erdbeben in Südwestchina im Mai 2008 Anlass zur Hoffnung gegeben hat. Mit dem Anstieg des Lebensstandards und der Herausbildung einer Mittelschicht entwickeln sich allmählich philanthropische Vorstellungen, die der Staat durch Herausbildung von Bürgerverantwortlichkeit und Bürgersinn zu fördern sucht.
Der gegenwärtig noch schwache Stand des Bürger- oder Gemeinsinns zeigt sich am Grad der freiwilligen Mitwirkung von Stadt- und Landbewohnern an sozialen oder gemeinschaftlichen Aufgaben. Der Prozentsatz an ehrenamtlich Tätigen ist in China noch immer gering. Während in europäischen Gesellschaften 35 bis 40 Prozent der Bevölkerung in freiwillige oder ehrenamtliche Tätigkeiten involviert sind, engagieren sich einem Bericht des chinesischen Staatsrates von 2007 zufolge nur rund 1,8 Prozent der Bevölkerung ehrenamtlich. Dafür lassen sich im Wesentlichen drei Gründe anführen:
Historische Gründe:
Anders als in christlichen oder buddhistischen Gesellschaften, in denen der Gedanke der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit eine große Rolle spielte, war das Mitempfinden mit Personen außerhalb unmittelbarer Bezugsgruppen (wie Clan, Familie, Dorf, Landsmannschaften etc.) in China eher gering. In den 1930er Jahren beklagte der Philosoph Lin Yutang entsprechend das Fehlen einer sozialen Gesinnung. Familiensinn sei für Chinesen zentral, nicht Gemeinsinn. Von daher sei dem chinesischen Denken das Konzept der Gesellschaft auch ganz fremd.
Modernisierungsprozesse
wie im derzeitigen China führten zum Zerfall traditionaler Gemeinschaften und Werte und zu einer Zunahme individualistischer und selbstbezogener Faktoren und Verhaltensweisen.
Fehlende Institutionen:
Bislang fehlen Institutionen, die einer ehrenamtlichen sozialen Betätigung förderlich sein könnten wie funktionierende Rechtsinstitutionen, ein korruptionsresistentes Beamtensystem und ein Wertesystem, in dem unentgeltlicher Einsatz für Mitmenschen ein hohes Gut darstellt; dies behindert die Ausbildung zivilisatorischer Kompetenzen im Sinne von Bürgerpflichten sowie die Herausbildung eines Bürger- und Gemeinsinns.
Gerade die sich differenzierende chinesische Gesellschaft ist aufgrund wachsender sozialer Probleme immer mehr auf freiwilliges soziales Engagement angewiesen. Da die Zahl derjenigen, die sich engagieren wollen, gering ist, versucht der Staat, "Freiwillige" zu mobilisieren und "Freiwilligkeit" von oben zu initiieren. Wo Freiwillige fehlen, dort sollen zunächst Parteimitglieder (die organisatorisch - von der Parteidisziplin - abhängig sind) und Sozialhilfeempfänger (die sozial - von staatlicher Sozialhilfe - abhängig sind) ehrenamtliche Aufgaben übernehmen. Chinesische Presseberichte verdeutlichen, dass die Mehrheit der "Freiwilligen" aus Parteimitgliedern besteht. Bereits 2005 hat ein chinesischer Untersuchungsbericht unterstrichen, dass es sich bei 80 Prozent der Freiwilligen in den städtischen Nachbarschaftsvierteln um Mitglieder von Partei und Jugendverband oder öffentlich Bedienstete handelte.
Eines der Beispiele für Mobilisierung von oben ist die Freiwilligenvereinigung im Nachbarschaftsviertel Lugu-Shequ im Pekinger Shijingshan-Bezirk. Über die Hälfte der Mitglieder besteht aus Parteimitgliedern. Rentner bilden die Mehrheit. Doch auch wenn der Verein "von oben" gegründet wurde und überwiegend aus Parteimitgliedern besteht, so erfüllt er wichtige Aufgaben im Bereich sozialer Wohlfahrt, Umweltschutz, Gesundheit, Verkehrs- und öffentlicher Sicherheit sowie Fortbildung. Künftig soll die Arbeit von Freiwilligenverbänden auch durch Steuervorteile gefördert werden. Dabei soll sich über die staatliche Mobilisierung und Erziehung Freiwilligkeit von "Mildtätigkeit" hin zu "sozialer Verantwortung" entwickeln. All dies ist Teil eines staatlichen Programms zur Erziehung und Heranbildung von Freiwilligen. Am Beispiel des Anreizsystems des genannten Lugu-Viertels wird dieser Erziehungsgedanke deutlich: Wer jährlich mehr als 100 Stunden an freiwilligen Aktivitäten ableistet, erhält den Titel eines "Sternfreiwilligen" (xingji yigong), wobei es für über 1000, 3000 und 5000 freiwillig geleistete Stunden Geldprämien und spezielle Titelauszeichnungen gibt.
Der staatliche Paternalismus und der Bezug der Einzelnen zu Primärgruppen erschweren die Herausbildung eines Bürgersinns. Die sozialistische Erziehung lehrte die Menschen, dass derjenige ein guter Bürger ist, der sich ein- beziehungsweise unterordnet und sich loyal gegenüber Partei und Staat verhält - ganz so wie eine 47-jährige Arbeiterin in Shenyang in einem Interview im Rahmen eines Forschungsprojektes erklärte: "Ich bin eine sehr gute Bürgerin, ich mache anderen keine Schwierigkeiten." Oder wie es eine 55-jährige Rentnerin ausdrückte: "Ich gehe mit der Partei. Was die Leitung anordnet, das tue ich (...) wenn die Leitung mich ruft, komme ich."
Unter vielen Älteren wirkt hier im Denken und Handeln die Institutionalisierung der autoritären Herrschaft fort. Macht wird über das Bewusstsein der Menschen in dem Sinne ausgeübt, dass die Menschen glauben, die Arrangements des Staates seien zu ihrem eigenen Besten. Solche Auffassungen, in denen sich die Macht des Systems niederschlägt, erschweren gleichsam eine Beteiligung der Menschen und damit die Herausbildung von Bürgern, weil der Staat alles zu richten scheint.
Individualisierung und individuelle Autonomie
Der Bürgerbegriff verlangt autonome Individuen, die selbstständige Entscheidungen treffen können. Auch chinesische Wissenschaftler argumentieren bereits entsprechend. Jedes Individuum, schreiben Yang und Ma, sei Träger von Selbstverwaltungsrechten.
Zwar finden wir auch in den städtischen Nachbarschaftsvierteln Chinas einen Individualisierungsschub, er unterscheidet sich allerdings von dem von Beck beschriebenen gesellschaftlichen. Er impliziert eher das, was unter anderem vom Sozialanthropologen Fei Xiaotong als "Selbstsucht" oder "Egozentrismus" bezeichnet wurde, als Charakteristikum traditionalen sozialen Verhaltens in China. Damit meinte er die fehlende Verantwortung für öffentliche Angelegenheiten.
Die gegenwärtige urbane Atomisierung bewirkt einen Wandel vom Gruppen- (Familie, Clan, Dorf, Danwei
Im Modernisierungsprozess kommt es zu einem dreifachen Individualisierungsprozess: zum Verlust der Einbindung in traditionelle Sozialstrukturen und damit zum Verlust sozialer Absicherung und Bindungen, zur Aufweichung traditioneller Werte, Normen und Glaubensmuster und zu neuen Formen sozialer Einbettung. Modernisierung bewirkt eine zunehmende Auseinanderentwicklung von öffentlichem und privatem Bereich - ebenfalls ein Moment von Individualisierung. Voraussetzung für ein Mehr an Individualismus in der Gesellschaft ist ein Mehr an individueller Freiheit. Dabei darf individuelle Freiheit nicht mit dem demokratischen Freiheitsbegriff als Freiheit der Partizipation verwechselt werden. Individuelle Freiheit nimmt in sozialistischen Gesellschaften zu, so der Ökonom Janos Kornai, wenn (1) das Recht, bestimmte Arten von Entscheidungen zu treffen, von der Bürokratie auf das Individuum übergeht und wenn (2) bürokratische Zwänge gegenüber den Entscheidungen von Individuen nachlassen beziehungsweise aufgehoben werden.
Autonomie beinhaltet unter anderem eine geringere Abhängigkeit der Menschen von der Bürokratie, größere Eigenentscheidungen hinsichtlich individueller Lebensentwürfe und die Akzeptanz von Nicht-Partizipation durch den Parteistaat, ein wichtiger Faktor für eine Zivilgesellschaft. In nahezu allen Gesellschaften stellen partizipierende Bürger eine Minderheit dar. Denn Teil des Bürgerseins ist auch die Entscheidung, nicht aktiv zu partizipieren. Die Menschen im gegenwärtigen China können sich zwischen Abwanderung, Widerspruch und "politischem Epikureismus" (Franz Neumann), das heißt einer bewussten Abstinenz von der Politik und Konzentration auf private Interessen, gekennzeichnet durch Passivität und Indifferenz, entscheiden.
Entsprechend lässt sich feststellen, dass vor allem in den gehobenen urbanen Wohnvierteln Chinas "Autonomie" in Form individueller Selbstbestimmung bereits vorhanden ist. Abgesehen von den sozial Abhängigen (Sozialhilfeempfängern) und den politisch Abhängigen (Mitgliedern der Kommunistischen Partei Chinas, KPCh) kann kein Individuum mehr verpflichtet werden, sich in seinem Wohnviertel politisch oder sozial zu engagieren. Vielmehr ist die Gestaltung der Lebensentwürfe heute Angelegenheit jedes Einzelnen. Von daher trifft das Argument Amitai Etzionis, dass ein wesentlicher Grund für den Zusammenbruch der kommunistischen Systeme im fehlenden Raum für Autonomie, "sowohl in Bezug auf politische Äußerungen als auch wirtschaftliche Initiativen und Innovationen" bestanden habe,
Individuelle (politische) Autonomie im Sinne von Freiheiten privater Bürger gegenüber dem Staatsapparat und seinen Untergliederungen besteht primär für jenen Personenkreis, der weder sozial noch politisch von den staatlichen Strukturen abhängig ist. Diese Personengruppe, bestehend aus Personen mit regelmäßigen und zum Teil hohen Einkommen, interessiert sich nur selten für die Belange der Nachbarschaftsviertel und möchte ganz bewusst in keine kollektiven Aktivitäten einbezogen werden.
Das Anwachsen individueller Autonomie lässt sich als Teil des Wandels der chinesischen Gesellschaft von einer geschlossenen zu einer offenen interpretieren. Geschlossene Gesellschaften lassen sich als solche mit geringer sozialer Mobilität, Einbindung der Menschen in festgefügte Gemeinschaften und individueller Abhängigkeit von kollektiven Zwängen definieren, wobei private und öffentliche Sphären nicht getrennt sind. Dies entspricht den sozialen und politischen Verhältnissen Chinas bis in die 1980er Jahre hinein. Die offene Gesellschaft ist charakterisiert durch sozialen Wandel und verschiedene Formen räumlicher und gesellschaftlicher Mobilität. Traditionale Gemeinschaften beginnen sich aufzulösen, Individualisierungsprozesse führen zu einer Erosion kollektiver Werte und Normen, persönliche Lebensentwürfe beginnen sich von kollektiven Zwängen zu lösen. Öffentliche und private Räume bilden zunehmend getrennte Sphären, kollektive Schicksale (von Dörfern, Clans, Dorfgemeinschaften, Danwei etc.) werden zu persönlichen.
In den boomenden Wirtschaftsmetropolen der chinesischen Ostküste wie in Shenzhen macht sich das relativ freie und offene politische Klima am deutlichsten bemerkbar. Menschen aus dem Landesinneren fühlen sich hier wesentlich freier als in ihrer Heimat. In Interviews im Rahmen einer Feldstudie erklärte beispielsweise eine 35-jährige leitende Angestellte (Hochschulabsolventin, Parteimitglied, aus Sichuan stammend): "Hier fühle ich mich sehr frei. Solange man nicht gegen Gesetze verstößt, kann man ungestört sein eigenes Leben führen. (...) In Shenzhen, wo die Wirtschaft relativ weit entwickelt ist, gibt es ein höheres Bewusstsein zur Einforderung demokratischer Rechte als im Landesinnern. (...) In Chengdu jedoch ist alles anders. Hier sagen die Leute, was sie denken. In Chengdu gehorchen sie. Ich denke anders seit und weil ich in Shenzhen lebe."
Eine 30-jährige Kindergärtnerin aus Jiangxi konstatierte: "Ich möchte nicht zurück nach Jiangxi, dort finde ich es zu traditionell. Hier haben die Kinder ein viel höheres Niveau. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass in Jiangxi die Kindergärten staatlich sind, hier sind sie privat. In Jiangxi ist die Autorität der Kindergärtnerinnen hoch, hier die der Eltern. In Jiangxi trauen sich die Eltern nicht, ihre Meinung zu äußern, weil das Prestige der Erzieherinnen so hoch ist. Hier nehmen die Eltern regen Anteil am Kindergartenleben und äußern häufig ihre Meinung. Auch üben sie oft Kritik an unserer Arbeit. Wenn man nicht gut arbeitet, fliegt man raus. Mit den Eltern hier wird man nicht so leicht fertig. Selbst bei Kleinigkeiten regen sie sich auf und suchen ein Haar in der Suppe." In diesen Aussagen kommt das selbstbewusste Lebensgefühl der neuen Mittelschichten signifikant zum Ausdruck.
Die gesellschaftliche Entwicklung verlangt jedoch längerfristig die Überführung von individueller Autonomie in Bürgersinn und Bürgerengagement auf der Basis von Partizipationsmöglichkeiten, Freiwilligkeit und sozialer Solidarität. Dies ist nötig, um den Grad an sozialer Stabilität erhöhen sowie zentrifugalen Dynamiken einer Überindividualisierung und anderen sozial-zentrifugalen Tendenzen entgegenwirken zu können.
Staat als Moralstaat
Gleichwohl rufen auch in China Intellektuelle dazu auf, dem Verfall lokaler Gemeinschaften Einhalt zu gebieten. Gemeinschaften (wie Nachbarschaftsgemeinschaften) müssten wiedererrichtet und Bürger ermuntert werden, aktiver zu werden. Dabei solle der Staat eine wichtige Rolle spielen. Die Schaffung einer neuen Moral- und Werteordnung erscheint hier als ein zentraler Faktor der intendierten Gemeinschaftsbildung. Darauf weist unter anderem ein Programm zur Realisierung des Aufbaus einer neuen Bürgermoral (gongmin daode jianshe shishi gangyao) hin, welches die politische Führung im Jahr 2001 beschlossen hat und regelmäßig von den Medien propagiert wird. 2003 veröffentlichte der Ausschuss für die Leitung des Aufbaus der geistigen Zivilisation des Zentralkomitees der KPCh ein neues Dokument, mit welchem das Programm von 2001 konkretisiert werden sollte. Darin wurde der 20. September zum "Tag der Propagierung der Bürgermoral" erklärt.
In vielen Nachbarschaftsvierteln findet sich der aus 20 Schriftzeichen bestehende Kurzmoralkodex als öffentlicher Aushang: das Vaterland lieben und sich an die Gesetze halten; höflich, ehrlich und glaubwürdig sein; solidarisch und freundschaftlich sein; fleißig, genügsam und voranschreitend sein; die Arbeit achten und Opfer bringen. Es sind primär Patriotismus, die Einübung von moralischen Werten durch Propagandaaktionen, soziale Kontrolle, selbstbewusstes Verfolgen der geforderten Standards und behördliche Anleitung, die zum Aufbau einer "Bürgermoral" führen sollen. Dabei geht es aber nicht mehr um die Moral von neuen "sozialistischen Menschen", sondern um die neue Moral von "Bürgern". Der Staat betätigt sich hier als Moralstaat, der von oben neue institutionelle Muster in Form von Moralstandards zu setzen versucht.
Schlussfolgerung
Wachsender Lebensstandard, größere individuelle Freiheiten, zunehmende Partizipationsmöglichkeiten und Verrechtlichung begünstigen die Herausbildung von Bürgern im urbanen Raum. Der Staat sucht von oben Strukturen zu schaffen und Werte zu propagieren, die dieser Herausbildung förderlich sind. In und über die urbanen Nachbarschaftsviertel sollen die Bewohner an partizipative Mitwirkung herangeführt werden und diese erlernen. Freiwillige soziale Tätigkeiten, Vereinsgründungen oder der Transfer staatlicher Dienstleistungen in die städtischen Wohnviertel hinein schaffen Strukturen, die der Entwicklung von Gemeinsinn und sozialem Engagement förderlich sein könnten. Mangelnde "bürgerliche" Freiheitsrechte und fehlende Rechtssicherheit wirken hier allerdings beschränkend.
Signifikant gestiegen ist das Maß an individueller Autonomie. Eine solche Autonomie, verbunden mit größerer Individualisierung, lässt sich auch als mögliche Vorstufe zu größerer organisatorischer Autonomie oder Selbstverwaltung der Nachbarschaftsviertel begreifen. Nach den negativen Erfahrungen mit Planwirtschaft und sozialer Repression streben die meisten Menschen zunächst nach höherem Lebensstandard und individueller Unabhängigkeit. Der Staat versucht diese Entwicklung unter anderem mit Hilfe der Nachbarschaftsviertel in Richtung sozialen Engagements zu lenken. Dabei geht er davon aus, dass zivilisatorische Lernprozesse, Partizipation und soziales engineering durch den Staat erst die Voraussetzungen für Bürger und Bürgersinn erzeugen.
Zivilgesellschaft erfordert die Schaffung von zivilgesellschaftlichen Strukturen, ein unabhängiges Rechtssystem und zivilisatorische Kompetenz. Mit dem Begriff "zivilisatorische Kompetenz", der die kognitive Seite von Zivilgesellschaft umfasst, ist das Entstehen von Bürgern mit Bürgersinn gemeint, deren Denken und Handeln stärker auf die Gesellschaft gerichtet ist. Gesellschaftliches Engagement und Bürgersinn sind wichtige Elemente von Zivilgesellschaft. Teil der zivilisatorischen Kompetenz ist aber auch, dass Staat und Individuen lernen, andere Meinungen zu akzeptieren, mit Andersdenkenden zivil umzugehen und Konflikte friedlich zu lösen.
Unter Bedingungen fehlender zivilisatorischer Kompetenz wie in China kommt dem Staat die Aufgabe zu, die Voraussetzungen und Strukturen für zivilgesellschaftliche Prozesse (soziale Vereinigungen, Internetdiskussionen, soziales Engagement, Werte etc.) zu schaffen. Die staatlich induzierte Schaffung von Bürgern und Bürgerwerten ist der Versuch der Schaffung von Bürgern "von oben". Es zeichnet sich daher ein neues "chinesisches" Entwicklungsmodell ab: die Schaffung einer zunächst illibertären Zivilgesellschaft von oben durch den Staat. Auch ein solcher Prozess kann dazu beitragen, aus "Massen" (ein politischer Begriff) "Bürger" (ein rechtlicher Begriff) zu machen - Bürger, die zumindest partiell die Möglichkeit zu politischer Partizipation erhalten und diese im Sinne zivilisatorischer Entwicklung zu nutzen beginnen.