Einleitung
Noch ist überall Schutt und schmutziges Gerüst, aber schon erhebt sich rein und deutlich der Umriß des gewaltigen Baus. Es ist ein wahrer Turm von Babel, doch ein solcher, der nicht die Menschen dem Himmel, sondern den Himmel den Menschen näher bringen will." Mit diesen Worten preist Lion Feuchtwanger 1937 die stalinistische Diktatur, die er sich teils als Rückkehr ins verlorengegangene Paradies, teils als Umbau der Erde zum Himmel vorstellt. Religiöse Hymnen über das Reich der Freiheit, das in der Sowjetunion nun endlich anbreche, stimmten in den 1920er und 1930er Jahren auch viele andere, politisch links engagierte europäische Intellektuelle an - trotz ihrer bürgerlichen Herkunft.
Umgekehrt lässt sich bei vielen bürgerlichen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit, die in ihrem Hass auf die liberale Demokratie und speziell den Parlamentarismus alle möglichen alternativen Vergemeinschaftungskonzepte und Staatsideen - Ständestaat, Führerstaat, autoritärer Volksstaat, auch totaler Staat - verkündeten, eine schwärmerische Begeisterung für den italienischen Faschismus und später auch die "deutsche Revolution" der Nationalsozialisten finden.
Walter Dirks, ein dezidiert linkskatholischer Intellektueller, schreibt 1930/31 in der linksliberalen Zeitschrift "Deutsche Republik" über die "faschistischen Intellektuellen": Der Nationalsozialismus bedürfe der Intellektuellen "als Verkünder der faschistischen Ideologie", so wie umgekehrt diese Intellektuellen ihn brauchten "als die große Bestätigung ihrer faschistischen Gedankengänge und als historischen Vollstrecker des Faschismus".
Es ist also weder zutreffend, dass die Intellektuellen ideale Repräsentanten der "freischwebenden Intelligenz" (Karl Mannheim) sind, noch lässt sich ihr selbst zugeschriebenes Mandat auf Kritik oder gar reine Kritik eingrenzen. Die Ideengeschichten der Moderne, speziell des 20. Jahrhunderts, kennen auch viele Intellektuelle, die sich bewusst als Führer einer bestimmten Klasse, sozialen Gruppe oder gesellschaftlichen Institution verstanden. Europäische Intellektuelle konnten Stalin zur Freiheitsikone und Hitler zum Friedensfürsten stilisieren. Oft inszenierten sich Intellektuelle als Aufklärer, die das herrschende Dunkel mit dem Licht der Vernunft erleuchten. Aber sie konnten auch als arrogante Avantgarde von wem auch immer - des Proletariats, der unterdrückten Masse - auftreten oder die Autorität "der Kirche" als einzig intakter Institution feiern, die im relativistischen Chaos der Gegenwart noch klare Orientierungen biete und bindende "Werte" vermittle.
Intellektuelle sind politisch vieldeutige, changierende Gestalten, und da man sie nicht zähmen kann und sie leicht verführbar sind, können sie bald auch bedrohlich werden. Dass Intellektuelle dank besonderer Geistesnähe auch größeren politischen Sachverstand und mehr prägnante Klarsicht als andere Zeitgenossen besitzen, ist insoweit nur eine gefährliche Illusion. Intellektuelle sind anfällig für alle möglichen Integrationsideologien der Moderne und nicht selten irritierend blind. Dazu trägt auch bei, dass viele Intellektuelle erlösungssüchtig und sinnsuchend sind. Die Vorstellung, dass die Intellektuellen als Aufklärer notwendig skeptisch und Kritiker der Religion (oder religiöser Institutionen) seien, ist falsch. Nicht wenige Intellektuelle des 20. Jahrhunderts haben sich selbst auch religiös verstanden und Glaubenssprachen, Heilssymbole und fromme Gebärden dazu genutzt, um ihre prinzipielle Distanz zum Status quo und den Anspruch zu bekunden, es prinzipiell besser als (nahezu) alle anderen zu wissen.
Intellektuellenreligiosität
Für die Nähe vieler Intellektueller zur Religion hat Max Weber, dank seiner vielfältigen publizistischen Attacken auf das politische Establishment des Kaiserreichs selbst eine Leitgestalt des modernen Intellektuellen, den Neologismus "Intellektuellenreligiosität" geprägt. Im 2001 unter dem Titel "Religiöse Gemeinschaften" kritisch edierten Manuskript zu "Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte" findet sich der Begriff zwar nur an vier Stellen. Doch spricht Weber auch von "Intellektuellenekstase", "Intellektuellenerlösung", "Intellektuellenheilslehren", "Intellektuellenkontemplation", "Intellektuellenkulten", "Intellektuellenprophetien", "Intellektuellenreligionen", "Intellektuellensoteriologie", "Intellektuellenspekulation" sowie "Intellektuellenweltflucht".
Webers Einfallsreichtum in der Bildung von Komposita, in denen der moderne, erst seit der Dreyfus-Affäre von 1898 sich durchsetzende Begriff des Intellektuellen mit genuin religiösen Konzepten verknüpft ist, spiegelt zunächst die grundlegende Einsicht in die außerordentlich produktive Rolle von Intellektuellen in der Geschichte der Religionen wider, speziell in den Religionsgeschichten der Moderne seit 1800. Auch sieht Weber durchaus kritisch, dass sich viele zeitgenössische Intellektuelle im modernen Öffentlichkeitstheater, auf den Medienbühnen ihrer Zeit, gern in religiösen Rollenspielen üben, etwa als Propheten das Scheinwerferlicht suchen, und mit selbstgewissem Erlösungspathos agieren. Zwar bleibt in der Weber-Forschung umstritten, inwieweit sein Konzept der Intellektuellenreligiosität von seiner intensiven, bisweilen gar obsessiven Beschäftigung mit so ernsthaften Glaubensdenkern wie Lew N. Tolstoi und Fjodor M. Dostojewski sowie von seinen sonntäglichen Gesprchen mit jungen sinnhungrigen Glaubensekstatikern wie Georg Lukács und Ernst Bloch geprägt ist. Aber es duldet keinen Zweifel, dass Weber, stärker als jeder andere Klassiker einer modernen soziologisch orientierten Religionsforschung, der Religiosität von Intellektuellen eine grundlegende Bedeutung für die Entwicklung von Erlösungsreligionen zuerkannt hat. Nichts Geringeres als das "Schicksal der Religionen" speziell in der Moderne hängt für ihn von den Wegen ab, die Intellektuelle bei ihrer Suche nach Sinn und der damit verbundenen Zeitdeutung und Kulturkritik einschlagen.
Intellektuelle wollen "Störungsfaktoren" (Joseph Schumpeter) der jeweils herrschenden Ordnung sein. Dazu müssen sie sich vom Gegebenen unterscheiden, also Distanzierungspotentiale stärken, und sich ein Jenseits des Status quo vorstellen können. "Das Jenseits ist die Kraft des Diesseits", lautet ein assoziationsstarker Satz aus der Schlusspassage der "Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" des Theologen und Kulturphilosophen Ernst Troeltsch.
Religiöse Symbolsprachen haben eine Tendenz zum Unbedingten, Absoluten, und darin liegt ihre Faszination wie ihre elementare Ambivalenz. "Gott" ist ein überaus gefährliches Wort: Es kann zur realistischen Selbstbegrenzung des Menschen als des vornehmsten Geschöpfs verwendet werden und dient dann dem Aufbau einer Kultur, in der Demut, das Wissen um die Fehlbarkeit, Irrtumsfähigkeit des Menschen als endliches Wesen und die wechselseitige Anerkennung der Fehlbaren gelebt werden. Es kann aber auch die Selbstübersteigerung des Menschen, seine Selbstverabsolutierung fördern, und dies geschieht in genau dem Maße, in dem sich ein menschlicher Akteur, sei es ein Individuum, sei es eine Gruppe, mit dem Willen Gottes gleichschaltet, also den Anspruch erhebt, den heiligen Gotteswillen ganz genau zu kennen und ihn gegen alle innerweltlichen Widerstände um Gottes willen durchzusetzen - das ist die kognitive Grundstruktur religiös motivierten Terrors. Religiöse Symbole, Bilder und Riten lassen sich ganz unterschiedlich deuten, und darin liegt ihr außerordentlich hoher Reiz für all jene, die noch einmal eine ganz andere Deutungsperspektive auf den Menschen und die je gegebene Welt einnehmen wollen. Religion ist ein Symbolkapital, das die Dividende ganz starker Selbstunterscheidung von dieser Welt abwirft. Und genau darin ist sie für viele moderne Intellektuelle attraktiv.
Hilfreich ist dazu die Erinnerung an Max Webers Religionssystematik. Die starke kulturelle Prägekraft von Erlösungsreligionen führt Weber auf die intellektuellen Bedürfnisse vernünftig Gebildeter zurück, rational stimmige Antworten auf das Grundproblem aller Religion, die Theodizeefrage ("Wo ist Gott im Leid?"), zu geben. Jeder Denkende sehe sich bald mit den "Sinn"-Defiziten der Welt konfrontiert. Und so bleibe er in seiner Lebensführung elementar darauf verwiesen, für diese "Erfahrung der Irrationalität der Welt" eine individuell eigene, Alltagsroutinen stabilisierende Antwort zu finden. Ohne subjektiven Sinn, so lautet die Voraussetzung dieses Arguments, ist eine rationale, durch Konstanz und Verlässlichkeit ausgezeichnete Lebensführung nicht möglich: "Je mehr der Intellektualismus den Glauben an die Magie zurückdrängt, und so die Vorgänge der Welt 'entzaubert' werden, ihren magischen Sinngehalt verlieren, nur noch sind' und 'geschehen', aber nichts mehr 'bedeuten', desto dringlicher erwächst die Forderung an die Welt und Lebensführung je als Ganzes, daß sie bedeutungshaft und 'sinnvoll' geordnet seien."
Als für Intellektuelle besonders "bedeutungshaft" nennt Weber "Intellektuellenschöpfungen" wie die Prädestinationslehre, die Lehre von der Seelenwanderung und einen starken religiösen Dualismus. Hier sei jeweils die fundamentale Diskrepanz zwischen individueller Lebensführung und Schicksal thematisiert, also ein Wissen um die Sinnwidrigkeit des Kosmos konstruiert worden. Intellektuellenreligiosität führt für Weber deshalb zunächst zu elementarer Weltablehnung, und es ist kein Zufall, dass er in seinen komparatistischen religionsethischen Studien über "Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen" fortwährend auf die für fromme Intellektuelle kennzeichnende Weltdistanz, Weltflucht oder "spezifische Intellektuellenweltflucht" zu sprechen kommt. Sie könne "sowohl eine Flucht in die absolute Einsamkeit, oder - moderner - in die durch menschliche Ordnung unberührte 'Natur' (Rousseau) und die weltflüchtige Romantik, wie eine Flucht unter das durch menschliche Konvention unberührte 'Volk' (...) sein, mehr kontemplativ oder mehr aktiv asketisch sich wenden, mehr individuelles Heil oder mehr kollektiv-ethisch-revolutionäre Weltänderung suchen".
Intellektuelle ziehen, so Weber, aus ihrer weltablehnenden Haltung höchst unterschiedliche lebenspraktische Konsequenzen. Er erfasst sie in seiner Typologie religiöser Habitusformen in einem Schema der Erlösungsreligionen, für das die Opposition von Mystik und Askese grundlegend ist: Mystische Formen der Weltdistanz prägten insbesondere die asiatischen Religionsgeschichten, wohingegen in der okzidentalen Geschichte der Religion unterschiedliche Formen "innerweltlicher Askese" bestimmend seien. Die von prominenten europäischen Intellektuellen um 1900 propagierten Entwürfe neuer Mystik deutete der kulturprotestantisch sozialisierte Weber deshalb sehr kritisch, als eine Art sacrificium intellectus oder als einen Glaubensverrat an jenen Rationalitätsformen, welche die spezifische kulturelle, vor allem wissenschaftlich-technische Überlegenheit des Okzidents gegenüber den östlichen Kulturen begründeten. Und indem Weber die Genese und Durchsetzung dieser okzidentalen Rationalität auch auf religiöse Wurzeln zurückführte und bestimmte Formen religiöser Lebensführung im Okzident selbst als Rationalisierungsgewinne deutete, konnte er in den lebensreformerischen Renaissancen der Mystik in Europa um 1900 nur die Preisgabe gebotener religiöser Ernsthaftigkeit sehen. Der Intellektuelle müsse dem tragischen Ernst des Lebens standhalten, sei es in streng asketischer Frömmigkeit, sei es in heroischem Skeptizismus, und dürfe sich nicht von mystischen Gottesnarcotica den Verstand benebeln lassen. Für die damals gerade im Bildungsbürgertum verbreiteten vielen Spielarten vagabundierender Religiosität, von Naturmystik über Gemeinschaftsromantik bis hin zum lebensreformerischen Glauben an die erlösende Kraft der freien Liebe, hatte Weber nur Verachtung übrig - gerade weil er die literarischen Produkte der Lebenssinnsucher seiner Zeit intensiv zur Kenntnis nahm.
Religionsintellektuelle
In Fortschreibung von Webers Konzept der Intellektuellenreligiosität habe ich in Studien zur Religionsgeschichte der Moderne vor einigen Jahren den Begriff des Religionsintellektuellen eingeführt.
Besser als jede andere Sprache kann religiöse Symbolsprache für Kulturkritik genutzt werden. Das wissen nicht nur Religionsintellektuelle, die sich ein Mandat zur Kritik des sündhaften modernen Zeitgeistes zuschreiben und eine bessere, gottwohlgefälligere Welt herbeiführen wollen, sondern auch vermeintlich rein säkulare, nicht selten auch religionskritische Intellektuelle, die unbeschadet aller Glaubensdistanz die Unterscheidungsmetaphern der Religion benutzen, um dem miesen Status quo das bessere Morgen zu kontrastieren. Folgt man den in den vergangenen zwanzig Jahren veröffentlichten Studien zur öffentlichen Rolle und zum Selbstverständnis europäischer Intellektueller - genannt seien nur Autoren wie Christophe Charle,
Der Intellektuelle muss sich, so hat es Jürgen Habermas in seiner Dankesrede zur Verleihung des Bruno-Kreisky-Preises im März 2006 in Wien betont, "zu einem Zeitpunkt über kritische Entwicklungen aufregen können, wenn andere noch beim business as usual sind. Das erfordert ganz unheroische Tugenden: eine argwöhnische Sensibilität für Versehrungen der normativen Infrastruktur des Gemeinwesens, die ängstliche Antizipation von Gefahren, die der mentalen Ausstattung der gemeinsamen politischen Lebensform drohen, der Sinn für das, was fehlt und 'anders sein könnte', ein bisschen Phantasie für den Entwurf von Alternativen und ein wenig Mut zur Polarisierung, zur anstößigen Äußerung, zum Pamphlet."
Diese prägnante Beschreibung der "Tugenden" des Intellektuellen setzt freilich voraus, dass dieser ein unheroisches Selbstverständnis zu entwickeln vermag und insbesondere die diskursiven Spielregeln einer demokratischen Öffentlichkeit zu akzeptieren bereit ist. Die Intellektuellengeschichten des 20. Jahrhunderts zeigen, dass genau dies bei vielen Intellektuellen nicht der Fall war. Oft haben sie sich an partikulare Interessen gebunden und, gegen die freiheitsdienliche Logik einer universalistischen Ethik, nur die Partikularmoral einer bestimmten Klientel verstärkt. So kritisch Intellektuelle gern auftreten - ihre Fähigkeit oder Bereitschaft zur Selbstkritik ist bei vielen nur vergleichsweise schwach entwickelt.
Intellektuelle sind Spezialisten des öffentlichen Gebrauchs symbolischer Güter. Für Religionsintellektuelle gilt deshalb: Ihre spezifische Aufmerksamkeit gilt den eine Kultur prägenden, aber bleibend umkämpften Glaubensgütern. Religionsintellektuelle bedienen sich der überkommenen religiösen Sinnstoffe, um Protest zu erheben, Zeichen zu geben, Partei zu ergreifen. Sie nehmen die symbolischen Ressourcen, die Bilder, Zeichen, Erlösungsmetaphern und Heilsgeschichten der bestimmenden Glaubensüberlieferungen für ganz harte Gegenwartskritik in Anspruch, wobei sie oft mit prophetischer Entschiedenheit das Gegebene kritisieren und den kairos grundlegender Umkehr, den Mut zur Glaubensentscheidung für den anderen, besseren Weg beschwören. Und die Heilsmetaphern des Glaubens, die Visionen des himmlischen Jerusalems und die Hoffnung auf das Kommen des Reiches Gottes dienen ihnen dazu, grundlegende Alternativen zum schlechten Status quo aufzuzeigen.
Religionsintellektuelle gehen dabei, im Unterschied zu glaubensfernen Intellektuellen, davon aus, dass allein die Kraft des Gottesglaubens eine wirklich fundamentale, prinzipielle Änderung der Verhältnisse bewirken kann. In der Religion sehen sie die alles entscheidende Potenz der Kultur, die, dank ihrer Jenseitsbezüge oder Transzendenzgehalte, mitten im Diesseits schon die Schranken der Immanenz durchbricht. Religionsintellektuelle machen dabei von überkommenen religiösen Vorstellungsgehalten einen zugleich kritischen wie konstruktiven, schöpferischen Gebrauch. Pathetisch kritisieren sie die herrschenden religiösen Verhältnisse, und scharf greifen sie die Kirchen an, etwa wegen allzu großer Nähe zu den Herrschenden. Symbiosen von Staat und Kirchen oder Institutionen wie das landesherrliche Kirchenregiment und der päpstliche Autoritätskult gelten ihnen als Zeichen von Religionsverfall und des Niedergangs echten, ernsten Glaubens. Auch bekunden Religionsintellektuelle immer wieder ihr elementares Leiden an lebensferner, abstrakter Kirchenlehre und einer hohlen dogmatischen Formelsprache; für "katholische Intellektuelle", ein inzwischen besonders gut erforschter moderner Intellektuellenstamm,
Man mag aus guten ideologiekritischen Gründen viele Religionsintellektuelle des späten 19. und 20. Jahrhunderts als üble Scharlatane kritisieren und ihre schillernden Sinnsynthesen und Konzepte der ganz anderen, besseren Welt mit Argumenten der klassischen Religionskritik als bloße Fiktionen eines sich selbst täuschenden Willens zur Ganzheit erweisen. Denn wer vom "ganzen Menschen" redet oder "ganzheitliche" Deutungen von was auch immer anbietet, gerät zu Recht bald in den Verdacht, ein Lügner zu sein. Aber im Reich des Geistes und speziell in den Sinnwelten des religiös-vorstellenden Bewusstseins sind Fiktionen harte mentale Fakten. Viele moderne Religionsintellektuelle suchen unverständlich gewordenen, als hohl und Sinn-los erlittenen Glaubenssymbolen neuen Lebenssinn abzugewinnen, und dazu beziehen sie zumeist religiöse Gemeinschaftsbilder auf die imaginierte Gemeinschaft der Nation.
In ganz unterschiedlichen Glaubenssynthesen sind seit 1800 Gottes auserwähltes Volk und das je eigene Staatsvolk miteinander verschmolzen worden, so dass die unüberbietbar starke emotionale Bindungskraft des Gottesglaubens für die innere Einheit (und natürlich auch für die Kriege) der Nation in Anspruch genommen werden kann - der eine Gott als Integrationssubjekt par excellence. Aber religiöse Sinnbilder und Hoffnungszeichen können auch der Sakralisierung der eigenen Klasse dienen, etwa in den diversen Spielarten des modernen religiösen Sozialismus, oder die Emanzipation der eigenen, sich als unterdrückt und marginalisiert erlebenden Gruppe befördern. Religiöse Symbolsprachen sind überaus interpretationsoffen, und das Wort Gottes kann ganz unterschiedlich ausgelegt und angeeignet werden. Gott kann sich selbst vor dem Missbrauch nicht schützen, den mancherlei Fromme um ihrer selbst willen mit ihm treiben.
Religionsintellektuelle streiten gerne und viel. Sie sind glaubensschöpferisch, indem sie Sinnelemente ganz unterschiedlicher religiöser Überlieferungen miteinander frei kombinieren und rekombinieren, also etwa Theosophie mit Christusmystik oder Goethes Naturpantheismus mit Marienfrömmigkeit. Auch versuchen Religionsintellektuelle, überkommene Glaubenssymbole zu vergegenwärtigen, und wollen zur Plausibilisierung des Althergebrachten Evidenz durch immer neue Steigerung von Erfahrungsintensität erzeugen. Selbst wenn sie keine ganz neue Religion stiften und nicht die - in der Glaubensmoderne seit 1800 vielfältig inszenierte - Rolle des Religionsstifters übernehmen wollen,