Einleitung
"Die einzige Weise zu lernen ist das Infragestellen.
Das ist auch die einzige Weise, Mensch zu werden."
Jean-Paul Sartre
Sartre, sei klar, sei kurz." Jemand hatte diese Notiz mit Bleistift auf das Rednerpult geschrieben.
Ihm schien das nicht viel ausgemacht zu haben: "Das hieß, daß ihnen nicht besonders viel daran lag zu hören, was ich ihnen zu sagen hatte (...). Ich habe trotzdem ein wenig gesprochen, ich habe ziemlich viel Applaus bekommen, als ich auf die Tribüne gestiegen bin, weniger, als ich sie verlassen habe."
Sartres "klassische" Intellektuelle
Intellektuelle, so Sartre, sind "das monströse Produkt monströser Gesellschaften",
Wieso handelt es sich Sartre zufolge bei Leuten wie ihm selbst, bei Antonio Gramsci, Theodor W. Adorno, Noam Chomsky oder Susan Sontag um "heilige Monster", in welcher Hinsicht sind sie monströse Produkte einer monströsen Gesellschaft, und wieso ist ihnen ein "unglückliches Bewusstsein" eigen? Was bewegt sie, das zu tun, was sie tun? Und was tun sie eigentlich? Diese Fragen erschöpfend zu beantworten, kann hier nicht geleistet werden. Es können jedoch Hinweise darauf gegeben werden, in welcher Richtung Antworten zu finden sein könnten.
Beginnen wir mit dem Monster. Intellektuelle sind Monster nicht in erster Linie deshalb, weil sie unser ach so behagliches Leben mit ihrer Kritik stören, weil sie die schöne heile Welt hinterfragen, weil sie, frei nach Groucho Marx ("whatever it is, I'm against it"), mit nichts und niemandem in Gesellschaft und Politik einverstanden sind, ihre Kompetenzen prinzipiell überschreiten, alles besser wissen und das ganz öffentlich, oder weil sie sich so sehr dagegen wehren, von einer politischen Macht vereinnahmt zu werden, wie Sartre dies unter anderem 1964 getan hat: "Wenn ich den Nobelpreis angenommen hätte (...), hätte ich mich vereinnahmen lassen. (...) Damit sagt man: 'Letztlich gehört er doch zu uns.'"
In seiner 1965 in Japan gehaltenen Vortragsreihe "Plädoyer für Intellektuelle" beschreibt Sartre den "klassischen Intellektuellen" in systematischer und historischer Perspektive. Erstere steht in engem Zusammenhang damit, was Sartre unter "Handeln" versteht, und geht auf Grundlagen zurück, wie sie in seinem 1943 erschienenen frühen Hauptwerk "Das Sein und das Nichts" beschrieben sind. In Kurzfassung: Der Mensch ist grundlegend schöpferischer "Entwurf" auf etwas hin, das es noch nicht gibt. Zum Beispiel: Arbeiter werden entlohnt und sollen (dereinst) für ihre Arbeit besser bezahlt werden. Damit es diese Situation überhaupt geben kann, muss der Mensch die Fähigkeit besitzen,
In der genannten Vortragsreihe beschreibt Sartre diese Theorie zwar in variierter Terminologie, gemeint ist jedoch dasselbe. Jedes praktische Wissen, so heißt es dort, ist "zunächst Erfindung": Der Mensch "ist Schöpfer, da er das, was schon ist, ausgehend von dem, was noch nicht ist, erfindet, er ist Wissenschaftler, da er ohne Erfolg bleiben wird, wenn er die Möglichkeiten, die ein Gelingen des Unternehmens erlauben werden, nicht bestimmt, er ist Forscher und Zweifler",
Die Intellektuellen tauchen dann auf, wenn diese Techniker sich des Widerspruchs bewusst werden, in dem sie sich befinden, wenn sie an ihm leiden und sich ihm stellen, anstatt ihn zu verdrängen: Der Widerspruch, der hier virulent wird, besteht - abstrakt formuliert - zwischen Partikularität auf der einen und Universalität auf der anderen Seite. Sartre führt im "Plädoyer für den Intellektuellen" drei Formen dieses Widerspruchs an. Die Techniker des praktischen Wissens entdecken erstens, dass sie Privilegierte sind. Als solche widersprechen sie in ihrer Person dem Anspruch, dass alle Menschen gleich sind, denn nicht alle erhalten die gleiche Chance auf Ausbildung. Der zweite Widerspruch liegt in der Universalität wissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse. Werden diese nämlich auf die Untersuchung der Gesellschaft und der sie beherrschenden Ideologie angewandt, werden sie feststellen, dass beide (Gesellschaft und Ideologie) partikularistisch sind und dass dieser Partikularismus die eigene Forschung tangiert: In diesem Moment entdecken sie nämlich "in ihren eigenen Forschungen die Entfremdung, da sie die Mittel zu Zwecken sind, die ihnen fremd bleiben [Profit; DW], und man ihnen untersagt, diese in Frage zu stellen".
Wenn man also an sich selbst, an der Methode und schließlich am Zweck der Forschung diese Widersprüche zwischen Partikularität und Universalität entdeckt, gibt es nach Sartre nur zwei Handlungsalternativen. Entweder man bringt es "durch Selbstbetrug und Schwanken"
Bis hin zu den Intellektuellen, die sich hinreichend viel Ruhm erworben haben, um in der Öffentlichkeit Gehör zu finden, die in der Lage sind, Regierungen unter Druck zu setzen oder Massen zu bewegen, ist es ein weiter Weg. Ein Weg übrigens, den zu analysieren auch deshalb wichtig wäre, um herauszufinden, warum es gerade diese Intellektuellen sind, die sich "durchsetzen", andere nicht. Darauf kommen wir - kurz - zurück. Hier sollte zunächst und in erster Linie deutlich gemacht werden, dass Intellektuelle nicht vom Himmel fallen, sondern aus der Gesellschaft heraus entstehen, von ihr produziert werden und geprägt sind, dass sie also, was immer sie dann dazu bringt, diesen Weg gehen zu wollen, immer auch Produkt dieser Gesellschaft sind.
Bleibt die letzte der oben gestellten Fragen: Was tun diese Intellektuellen eigentlich? Die Antwort kann kurz ausfallen: analysieren und in Frage stellen. Schonungslos und ohne Tabu, umfassend und kontinuierlich. Ihre Arbeit ist: "aufzeigen, nachweisen, entlarven, in einem kleinen kritischen Säurebad Mythen und Fetische zerstören".
Der Intellektuelle ist tot - es lebe der Intellektuelle
Es war wohl kein Zufall: Etwa in jener Zeit, als Sartre die Notiz auf seinem Rednerpult fand, mit der man ihn aufforderte, sich kurz zu fassen, beginnt er, die Funktion des klassischen Intellektuellen anzuzweifeln. Er kommt zu dem Ergebnis, dass dieser ausgedient habe und es einer anderen Form des Engagements bedürfe, die des "neuen" Intellektuellen. Geburtsstunde: Mai '68, Studentenbewegung. Diese hatte "eine Reihe von Dingen in Frage gestellt. Vor allem den Vorlesungsbetrieb, Wissen gleich Macht der Professoren, die Einwirkung des Staates auf die Kultur, die Tatsache, daß diese (...) einer gewissen Anzahl von Leuten vorbehalten (war), anstatt (...) allen zugänglich zu sein. Und dann hat man gemerkt, daß das, was sie an alldem kritisierten, unter anderem der klassische Intellektuelle war."
Ausmaß und Intensität dieser Revolte waren in Frankreich enorm: "Die Explosion im studentischen Milieu (...) traf alle Welt unvorbereitet: Kein Schriftsteller, kein Philosoph, kein Theoretiker hatte das Feuer angezündet, das (...) die Straßen in Flammen setzte, dann die Arbeitswelt und schließlich alle Bereiche der Gesellschaft: Familie, Schule, Verwaltung, Kirchen, Medien und alles Übrige."
Zur Konzeption des "neuen Intellektuellen" und ihrer theoretischen Stimmigkeit gibt es vieles zu fragen, zum Beispiel, ob sich "wirkliche Universalität" durch Eintauchen in die Masse erreichen lässt. Oder wie sich die Affäre um die maoistische Zeitung "La cause du peuple" dazu verhält: Als Sartre 1970, nachdem die Herausgeber verhaftet worden waren, diese Aufgabe übernahm, habe er sich "zum ersten Mal in (s)einem Leben als Star" verhalten und seine Bekanntheit "zynisch in die Waagschale geworfen".
Welche Gesellschaft braucht welche Intellektuelle?
Dass hier, ohne die Konzeption weiter hinterfragen zu können, auf den "neuen" Intellektuellen eingegangen wurde, sollte zeigen, dass es nach Sartres Auffassung nicht den einen, immer gültigen "Typus" des Intellektuellen geben kann. Dabei geht es nicht um das Können als Fähigkeit, das im Mittelpunkt etwa der Debatte steht, in der es um den von Sartre verkörperten "totalen Intellektuellen" (Bourdieu) und seine Widersacher geht, den Spezialisten-Intellektuellen (gefordert von Claude Lévi-Strauss oder Michel Foucault) oder den angesichts der Ohnmacht der Einzelnen geforderten Zusammenschluss derselben (Bourdieu). Es geht also nicht um die Frage, ob das, was Sartre von Intellektuellen fordert (die umfassende Analyse und Kritik von Gesellschaft), generell möglich ist und von einem Individuum geleistet werden kann. Vielmehr geht es um ein Können im konstitutiven Sinne, also um die Frage, wie unsere Gesellschaft verfasst ist, um unter welchen Bedingungen welche Art von Intellektuellen zu produzieren, die aufgrund welcher Mechanismen welche spezifische Bedeutung erlangen und Funktionen erfüllen können. Oder aber: Warum produziert genau diese Gesellschaft keine mehr? Antworten auf diese Fragen sind komplex und setzen eben jene von Sartre geforderte umfassende ("totale") Analyse gesellschaftlicher Strukturen und Dynamiken voraus. Wie die klassischen Intellektuellen müssten also auch die heutigen Akteure und Akteurinnen der Gesellschaftskritik einer solchen Analyse unterzogen werden.
Aufschlussreich für diesen Fragenkomplex wäre etwa der Versuch, sich ihm aus der "Zuschreibungsperspektive" zu nähern, die Frage nach den Intellektuellen innerhalb eines "geschichtlichen Diskurs(es) von Zuschreibungen" zu stellen. Denn in der Tat: "Wie alle Begriffe des sozialen Lebens ist auch der Begriff des Intellektuellen niemals wertfrei, niemals sachlich gereinigt, sondern hochgradig imaginativ aufgeladen"
Ein anderer Anlauf könnte über die neuen Medien genommen werden: In einem Aufsatz über Intellektuelle geht Jürgen Habermas darauf ein, inwieweit Internet und Fernsehen die Rolle des Intellektuellen beeinträchtigen oder sie überflüssig machen: Im Internet, so Habermas, "verlieren die Beiträge von Intellektuellen die Kraft, einen Fokus zu bilden",
Das langfristige Ziel der Intellektuellen, wie Sartre sie beschrieben und auch sich selbst verstanden hat, ist es, sich abzuschaffen: "Er arbeitet darauf hin, daß der Tag möglich ist, an dem alle Menschen tatsächlich gleich und brüderlich sein werden, und er ist sich sicher, daß an jenem Tag, aber nicht vorher, der Intellektuelle verschwinden wird und daß die Menschen das praktische Wissen in der Freiheit, die es erfordert, und ohne Widersprüche erwerben werden können."
Selbst so lange aber, wie diese Gesellschaft keine Realisierung findet, ist nicht ausgemacht, ob man das Verschwinden oder die so häufig selbstmitleidig diagnostizierte Wirkungslosigkeit von Intellektuellen bedauern müsste. Zumindest dann nicht, wenn man nicht auf die Funktionsträger, sondern auf die Funktion fokussiert, die sie ausüben: Tabulose und kontinuierliche Kritik an Unterdrückung, Entfremdung und Gewalt, die eine breite Öffentlichkeit erreicht. Gesellschaftskritik ist nicht an Einzelpersonen gebunden, sondern kann auch in anderen Formen artikuliert werden. Was also spricht dagegen, z.B. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie Human Rights Watch, Attac oder Greenpeace als Instanzen zu betrachten, die Intellektuelle in ihrer Bedeutung und Funktion abgelöst haben oder sie zumindest ergänzen können?
Ob Einzelperson oder NGO: Eines brauchen alle, die sich für eine gerechte Gesellschaft und die Emanzipation der Menschen engagieren, einen langen Atem. Und die Fähigkeit, angesichts der Aussichtslosigkeit dieses (monströsen) Unterfangens nicht zu resignieren. "Hoffnung bedeutet", so Sartre am Ende seines Lebens, "daß ich eine Handlung nicht unternehmen kann, ohne damit zu rechnen, daß ich sie auch realisieren werde. (Ich) halte diese Hoffnung nicht für eine lyrische Illusion, sie liegt vielmehr in der Natur des Handelns selbst. Das heißt, das Handeln kann, da es zugleich Hoffnung ist, nicht seinem Prinzip nach zum absoluten und sicheren Scheitern verurteilt sein. Das will nicht heißen, daß es das Ziel notwendigerweise realisiert, aber es muß sich uns immer in einer Realisierung des als zukünftig gesetzten Ziels darstellen."
Vielleicht hätte Sisyphos an dieser Stelle innegehalten und gelacht, bevor er sich erneut an seine steinige Arbeit begeben hätte. Viel zu idyllisch, als dass sie von jenem Sartre stammen könnte, der den Menschen als nutzlose Passion, Existenz als absurd, Handeln als zum Scheitern verurteilt betrachtet. Der Text ist umstritten: Lévy vielleicht ein böswilliger Manipulator, Sartre ein Greis in geistiger Verwirrung.