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"Intellektueller": Schimpfwort - Diskursbegriff - Grabmal? | Intellektuelle | bpb.de

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"Intellektueller": Schimpfwort - Diskursbegriff - Grabmal?

Dietz Bering

/ 20 Minuten zu lesen

Welche Formungen hat das Sprach- und Kampfwerkzeug "Intellektuelle" erfahren? Wie kann der Intellektuelle auch nach der Postmoderne noch sicheren Stand gewinnen?

Einleitung

Was ist ein Intellektueller?" So fragen geradezu zwanghaft Hunderte von Büchern und Tausende Essays. Sie fixieren damit eine falsche Perspektive. Die Frage unterstellt, es gebe da eine feststehende Figur, von der man nur noch herausbekommen müsse, was sie eigentlich sei. In Wirklichkeit sind Wörter von Menschen gebildete und durch vielerlei Stellschrauben extrem veränderbare Werkzeuge. Durch diese Plastizität sind sie geeignet, die sich immer wandelnde Realität nach den sich immer wandelnden Zielen der Menschen zu formen. Mag das Werkzeug auch denselben Namen tragen ("Intellektueller"), es ist in der Hand verschiedener Menschen, verschiedener Ideologien so verschieden geformt, zu so diversen Zwecken gut, dass die Frage nur so lauten kann: "Wer soll bei uns aus welchen Gründen zu welchen Zwecken 'Intellektueller' genannt werden?" Erzählen viele Bücher begriffsnaiv, was "die Intellektuellen" so alles gemacht haben oder tun sollen, so erscheint zur Buchmesse 2010 erstmals eines, das umfassend nachzirkelt, welche Formungen das Wortwerkzeug seit seinem ersten manifesten Auftreten durchgemacht hat. Es versucht also, die Standardarsenale zu beschreiben, die sich die verschiedenen Ideologien für diesen Begriff zurechtgelegt haben.

Geburtsstunde des Wortes

Steht auch fest, dass das Wort intellectuels gelegentlich schon vor dem Dreyfus-Prozess (1894) gebraucht wurde, so war es doch dieses aufrüttelnde Ereignis, das den Begriff ins Zentrum der Pariser und alsbald auch der weltweiten Debatten brachte. Am 13. Januar 1898 hatte Émile Zola mit seinem "J'accuse" die französische Gesellschaft in Dreyfus-Feinde und -Freunde gespalten. Die ungesetzlich erzwungene Verurteilung eines vermeintlichen Spions, des Hauptmanns Alfred Dreyfus, war aber nur der äußere Anlass. In Wirklichkeit ging es um die Demokratie. Die Dreyfus-Partei schrieb das neue Wort als Identifikationsangebot auf ihre Fahnen. Im "Manifeste des intellectuels" (14.1.1898), in Zeitungsartikeln, in erbitterten Straßendebatten und in einem neuartigen Presse-Krieg sorgte sie dafür, dass dieses Wort von allen hochgehalten wurde, die bereit waren, sich zu "politisieren", ihrem "Gewissen" zu folgen, die "demokratischen" Prinzipien und einen "wissenschaftlich" getönten "Wahrheitsbegriff" zu verfechten. So empfand man sich als "jugendliche" Sachwalter der schon 1789 in Kraft gesetzten "Menschenrechte".

Die Gegenpartei bündelte in dem neuen Wort ihre Vorwürfe gegen die protestierenden Demokratieverfechter: "instinktlos-abstrakt" daherredende, "dekadente", "inkompetente", "jüdische" "Vaterlandsverräter"! Sie mit dem so gefüllten Schimpfwort "Intellektuelle" zu brandmarken, schien nationale Pflicht. Diese erbitterten Auseinandersetzungen sind immer wieder als das Urmodell für "die Intellektuellen" genommen worden, als ihr "Gründungsakt". Dementsprechend groß sind die Bedenken, wenn man den Begriff auch auf vorausliegende Zeiten und Personen anwenden will, auf Sokrates, auf die mittelalterliche Denkerelite, auf Voltaire. Es fehlt diesen Figuren und Zeiten das Merkmal der allgemeinen, öffentlichen Aktion und Debatte.

In einem Punkte wich die französische Geschichte von anderen westlichen Entwicklungen ab. Selbst die antisemitisch-monarchistischen Intellektuellenhasser gaben die Ratio als Basis ihrer Argumentation nicht auf. Bei allem Geschimpfe auf "die Intellektuellen" erhoben sie doch auch den Anspruch, selber "Intellektuelle" zu sein, allerdings: "die richtigen Intellektuellen". Stellte nun Édouard Drumont, der Exponent des Antisemitismus, diesen Anspruch lauthals, dann musste er schon am nächsten Tag in "L'Aurore" lesen, "dass man ihn auf keinen Fall (aucunement) als Intellektuellen zählen kann". So stemmte man sich gegeneinander und versuchte den Begriff allein für seine Position zu besetzen. Siegreich blieben die progressiven Zola-Intellektuellen. Es hat in Frankreich immer etwas gegolten, ein "Intellektueller" zu sein.

Zeit des Schimpfwortes (bis 1945)

Das tief geschwärzte Gegenbild lieferte die deutsche Geschichte bis zum Jahre 1945. Schon das erste Auftauchen des neuen Worts im allgemeinen Bewusstsein ließ nichts Gutes erwarten: August Bebel empfahl 1903 auf dem Dresdner SPD-Parteitag, sich jeden Beitrittswilligen genau anzuschauen, "aber wenn es ein Akademiker ist oder ein Intellektueller, dann seht ihn Euch doppelt und dreifach an (Stürmischer Beifall)". Auch eine andere politische Strömung mit progressivem Potential ging in eine gefährliche Richtung: Den kommenden Krieg vorausahnend, wollten die expressionistisch befeuerten "Aktivisten" den ganz in Kultur aufgegangenen deutschen "Geist" endlich in der politischen Sphäre aktiv werden lassen. "Geistige" nannten sie konsequenter Weise jene, die diesen Weg tapfer gingen. Wie aber attackierten sie jene, die weiterhin den Gang in die "schmutzigen" Realitäten der politischen Welt zugunsten "reiner" Kultur verabscheuten? "Intellektuelle"! Noch 1926 schrieb die "Weltbühne": "Geistige machen Revolution; Intellektuelle machen Konversation. Kurz: Geistige sind Erlöser - auch wenn ihr Erlösungsplan scheitert -; Intellektuelle sind ... nichts."

Das sprachliche Bewusstsein hatte also keine "intellektuellen" Barrieren aufgebaut, als in der ungeliebten Weimarer Republik zwei radikale Strömungen daran gingen, die schweren politisch-gesellschaftlichen Verwerfungen aus einem Punkte zu kurieren. Die Nationalsozialisten, ganz auf den Instinkt setzend, beschworen eine mythisierte Volksgemeinschaft. Da sie nicht existierte, musste sie erzwungen werden. Also rief man den Kampf gegen ihre Gegner aus: gegen die Juden, gegen die liberalen, demokratischen Spalter des einheitlichen Volkswillens und gegen die Verfechter der Diktatur eines bestimmten Volksteils, des Proletariats. Alle drei Erzfeinde wurden im Typus "Intellektueller" übereinander kopiert und so für identisch erklärt.

Das war in der Weimarer Zeit noch Kampfpropaganda. 1933 rückte es zum staatlich verordneten Denken auf. Am Pranger stand immer "der Intellektuelle". Er war: "abstrakt", "instinktlos", "kalt", "blutleer", "krank", "wurzellos", "verbildet", allemal brillenbewehrt, "jüdisch", "zersetzend", ohne "gesunden Menschenverstand", "Neinsager" aus Prinzip, kurz: Er war der "undeutsche" Typ schlechthin. Ein Vierteljahrhundert lang schlug man zielgenau in diese Kerben, sodass im Bewusstsein der meisten eine tiefe Gravur entstand. Die Nationalsozialisten ließen es an Deutlichkeit nicht mangeln. Joseph Goebbels redete von den "Intellektuellen", "deren Gehirnerweichung durch das Lesen der jüdisch-demokratisch-pazifistischen Presse von Tag zu Tag zunimmt". Adolf Hitler meinte, leider brauche man ja Intellektuelle, "sonst könnte man sie eines Tages ja, ich weiß nicht, ausrotten oder so was". Je länger an der Macht, umso mehr rückte man auf diesen Plan zu. Und wer glaubt, dass sich Hitler mit dieser Äußerung an das eine Randexistenz führende, klassenanalytisch geformte Wortwerkzeug der Soziologen halten wollte, sieht bald: Sämtliche Gegner, die ihm je gefährlich geworden sind, hat er als "Intellektuelle" anprangern lassen: den links orientierten Otto Strasser, den SA-Meuterer Hauptmann Walter Stennes, alle beim "Röhm-Putsch" Exekutierten und gegen Kriegsende den ganzen Generalstab. "Intellektueller" - jetzt war es ein Instrument, um jede Art von Gegnerschaft niederzuhalten.

Und die Kommunisten? Als Marxisten waren sie ganz wissenschaftsgläubig. So gingen sie von einem eher klassenanalytischen Terminus des "Intellektuellen" als "Kopfarbeiter" aus. Sie setzten den Begriff aber so schillernd an, dass es leicht fiel, das Wort beim Kampf gegen die Bourgeoisie und massiver noch in den erbitterten innerparteilichen Kämpfen in eine Verbalwaffe umzuschmieden gegen jeden, der sich der Parteimeinung nicht unterordnete. So stand dieser Typ dann da, definiert durch: "Disziplinlosigkeit", "Individualismus", antiproletarische "Führerattitüde", durch "Bildungs-Hochmut", "Unglauben", "Verneinen", durch dauerndes "Schwanken", alles in allem: ein "wankelmütiger" "Phraseur", als "wild gewordener Kleinbürger" der Arbeiterklasse vollkommen "fremd". Die Lenin'sche Parteidoktrin gab Gelegenheit, diese definitionsrelevanten "Kennwörter" so oft zu wiederholen, dass sie beim Aufruf von "Intellektueller" sogleich mitgedacht wurden. Dafür sorgte eine ganz unerhört scharfe Sprachführung. Lenin meinte: "Die [!] Intellektuellen müssen immer mit eiserner Faust angepackt werden", womit dieser gelernte Rechtsanwalt und "Kopfarbeiter der Revolution" auf keinen Fall sich selbst meinte. Er hatte mit seiner Wortschöpfung vom "Intellektuellentum", zu dem die Arbeiter eben weniger neigten, den verbalen Instrumentenkoffer der kominterntreuen Parteigenossen besonders geschickt bestückt. Nicht alle "Kopfarbeiter" mussten "Intellektuellentum" haben, nicht alle Arbeiter waren frei davon.

Hatte Lenin so die Sprachrichtung vorgegeben, so verschärften sie die an seiner, später an Stalins Leine laufenden Parteiorgane auftragsgemäß. Prangerten diese die "Phrasendrescherei der Intellektuellen" an, gingen jene im Trommelfeuer unter: "Wortemacherpack von Intellektuellen", "Wortschwall", "Wortradikalismus", "Wortrevolutionäre", "schönrednerisches Intellektuellengesindel". Misslich war, dass auch die ehemals expressionistisch inspirierten, zwar linksradikalen, aber dennoch Moskau-feindlichen Blätter ins selbe Horn stießen: "Der Intellektuellen gewaltig großer Zahl/erwehrt euch täglich, stündlich: An den Laternenpfahl!/Laß baumeln sie und hängen lang,/Laß tönen laut und froh den Sang:/Hinweg, ihr Bourgeoisknechte, ihr Intellektuelln!!" Kennt man diese Tonart, dann verwundert einen die Reminiszenz Milan Kunderas aus dem Jahre 1979 nicht mehr: "Sämtliche Kommunisten, die seinerzeit von anderen Kommunisten aufgehängt worden waren, hatte man mit diesem Schimpfwort belegt." Die Marxisten hatten ähnlich wie die Nazis ein Arsenal von Kennwörtern geformt, das jederzeit in Stellung gebracht werden konnte.

Was taten die Beschimpften, die liberalen Verfechter der Demokratie, um den Begriff "Intellektueller" zu retten? Sie taten: nichts - dies, obwohl allenthalben der Kampf der Weimarer Republik mit dem um Dreyfus in Parallele gesetzt wurde. Hatten die Verfechter eines an den Menschenrechten orientierten Frankreich ihre zentralen Forderungen ihrem neuen Banner "Intellektuelle" eingeschrieben, so ließen die Weimarer Demokraten diese Stelle unbesetzt. In den bürgerlich-demokratischen Paradezeitschriften, der "Neuen Rundschau" etwa, finden sich ähnlich viele negative wie durchweg wenig emphatische Verwendungen von "Intellektueller". Versuche, in ihm Widerstandspotential zu bündeln, widersprachen sich eher, als dass man sie zu einem festen Ensemble von positiven Kennwörtern verdichtete. Karl Mannheim mit seiner beeindruckenden Formel vom "freischwebenden" Intellektuellen, "freischwebend", weil er, ideologisch ungebunden, mit periskopischem Blick aus großer Höhe auf die begrenzten Ideologien herabschauen konnte - wie mussten solcherart Definitionen Ernst Robert Curtius befremden, der doch an einen objektiven, abendländischen Geist glaubte. Einwurzelung forderte der und nannte die schwebende Position Mannheims ein "Wolkenkuckucksheim". Alfred Döblin, freiheitlich marxistisch gesonnen, sah einen allzu tiefen Graben zwischen Proletariat und der geistigen bürgerlichen Sphäre. Konsequent plädierte er für die Einebnung der geistigen Spitzenkultur. "Intellektueller" konnte bei solchen Zielen keine Vorbildfigur werden.

Eine Ausnahme macht höchstens Heinrich Mann. Der formulierte im Entscheidungsjahr 1932: Mut bedürfe es, wenn man heutzutage Wahrheiten noch "groß zu verfechten" wage. "Ich wünsche ihn den einzelnen Intellektuellen, denn dies ist ihre Stunde." Welche Fahne hielt er aber hoch, als er 1928 der Sektion für Dichtkunst in der Preußischen Akademie der Künste Bericht über das Thema "Dichtkunst und Politik" erstattete? Wohl wissend, dass diese Institution in "Dichter" und "Schriftsteller" gespalten war, wusste er auch, dass das Wort "Intellektueller" Signal für schärfsten Protest gewesen wäre. Also wich er wieder auf das Wort "Geistiger" aus und beschwor damit zwangsläufig die Assoziationen zu dessen verachtetem Widerpart herauf: zum Intellektuellen. Man sieht: Die Versuche, terminologisch verteidigungsfähigen Boden unter die Füße zu bekommen, scheiterten, weil man, was hier aufgebaut wurde, an anderer Stelle sofort wieder einriss.

Langwierige Nachkriegsdiskurse

Kannte Frankreich mit seiner Revolution von 1789 und dem Dreyfus-Prozess von 1898 ein doppeltes Fundament, auf dem es sein Staatswesen immer wieder justieren konnte, so stand das deutsche Volk 1945 vor einem Trümmerberg. Der Weg zu frankreichähnlichen Zuständen war kompliziert. Er vollzog sich in langwierigen Diskursen. Daher lassen sich hier eher Merkmalskomplexe angeben als scharfkantig zugeschnittene Kennwörter.

Wo konnte man 1945 Halt finden? Das Gros der Menschen wandte sich von der Politik ab und setzte ebenso blind wie fleißig auf Wiederaufbau und privates Fortkommen. Die "skeptische Generation" wuchs heran. Es gab aber doch gleich 1945 auch eine ins Gewicht fallende Zahl Menschen, die wissen wollte, wie es zu dem alles zerstörenden Desaster gekommen war. Sie gründeten eine so große Zahl selbstreflektiver Organe - über 200! -, dass man von einem "Zeitschriftenparadies" gesprochen hat. Zwar gingen die meisten bald wieder zugrunde, vorher aber brachten sie es doch zu einer alle verbindenden, hoffnungsvoll stimmenden Grundstellung. Am deutlichsten hat sie 1947 Hans Paeschke in seinem langlebigen "Merkur" formuliert: "Wir brauchen heute vorerst nicht wiederum eine neue Weltanschauung, eine neue Literatur oder Malerei, wir brauchen ein neues Vokabular. Es geht um die Richtigstellung der Bezeichnungen."

Obwohl man die Notwendigkeit erkannt hatte, den ganzen Begriffsapparat neu zu konstruieren, ging man nicht nur politisch den Weg der Restauration. Man versuchte, wieder die Verhältnisse vor dem 30. Januar 1933 zu schaffen, abgerechnet Nationalsozialismus und Militarismus, also jene Verhältnisse, die sich doch selber zerstört hatten. Auch kulturell wandte man sich wieder der deutschen "unantastbaren" Kultur zu und meinte, durch sie geistige und zugleich politische Festigkeit zu bekommen. So war es schlüssig, dass sich fast alle wieder auf den "Geistigen" als den Retter versteiften. Dem aber war doch "der Intellektuelle" als Antipode gegenübergestellt worden. Dieser trat also immer noch nicht als positive Figur ins Bewusstsein der Deutschen. Hinzu kam die spezifische Sprachkritik in der Linie von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm Emanuel Süskind: Auslöschung der Nazi-verseuchten Begriffe stand auf dem Programm, keineswegs ihre Neudeutung und Rückeroberung. Also kam auch "intellektuell" auf den Index.

Nur drei Zeitschriften sind auffällig geworden, dass sie diese untaugliche "Bewältigung" der Nazi-Zeit anprangerten. Sie plädierten für eine substantielle Politisierung der Menschen und ein kampftaugliches Vokabular: "Der Ruf", 1946 Publikationsort für viele, die später der Gruppe 47 angehörten, die linkskatholischen "Frankfurter Hefte" und der antitotalitäre "Der Monat". Letzterer setzte 1948 gleich mit einer Serie "intellektueller Stimmen" ein, die von Jean-Paul Sartre angeführt wurde. Den entscheidenden Schritt tat einer, der mit der deutschen Kultur innig verwachsen war, aber dennoch Abstand hatte: Der Schweizer Max Frisch präsentierte sich frank und frei als "Intellektueller" und versetzte den wieder in "heiliger Kultur" Verkrochenen einen Schock: Hochachtung vor diesen wieder dem "Geist" Hingegebenen? Nein, höchstes Misstrauen! Kultur habe es in Deutschland seit je in Überfülle gegeben; Engagement für die politische Alltagswelt - daran habe es gefehlt. Erst wenn man die alten Götzen abgeräumt habe, sei Zukunft möglich, niemals jedoch, wenn man - Theodor W. Adorno fand die griffige Formel -: "Kultur als Alibi" benutze.

Auch in den "Frankfurter Heften" war der neue Typus "Intellektueller" von der ersten Ausgabe an (April 1946) präsent. Später brachten sie es unter der Führung von Walter Dirks und Eugen Kogon zu beachtlichen Tiefenbohrungen: Das "Ganze als Ganzes" sehen, das sei die Aufgabe des Intellektuellen. Daher müssten in seiner Person die antagonistischen Kräfte zum Ausgleich kommen: die Kritik, die alle für selbstverständlich gehaltenen Maximen aufbreche, und die Integration, die nach genauer Prüfung die allemal notwendige Bindung an Maximen verfechte. Rechnete man zu diesen Ansätzen die Reflexionen hinzu, die in der Gruppe 47 diskutiert wurden, dann kann man für die Zeit um 1950 festhalten: Jetzt schickten weit schauende Köpfe einen neuen Typus auf die politische Bühne: den "Intellektuellen". Er war durch fünf Merkmale definiert: 1. kritisch, ein- und angriffswillig der politischen Wirklichkeit zugewandt, gleichwohl aber 2. frei von jedem parteipolitisch-weltanschaulichen Gängelband, frei auch 3. von den begrenzten Perspektiven eines spezialisierten Experten, 4. an gefahrvoller Stelle postiert und 5. als Ziel vor Augen: eine "gerechte Ordnung der Menschheit" und die "Sache der Freiheit als niemals aufzuhebende Grundbedingung".

Damit war aber nur der Keim eines neuen Sprachbewusstseins gelegt, die tiefen Gravuren der Zeit vor 1945 noch längst nicht gelöscht. Das zu erreichen, musste dieser Nukleus in viele Gehirne übertragen werden. Denn wie die Düne erst durch Flugsand ihre Form ändert, so das allgemeine Sprachbewusstsein durch gängigen Gebrauch. Diese Massenbasis lieferten um 1960 die Auseinandersetzungen über die Wiederbewaffnung und die Atomrüstung. Führende Köpfe wie Hans Werner Richter und Carlo Schmid schärften den Begriff. Jetzt trat der Intellektuelle als Mahner "an das Ewige im Menschen" hervor, einer, der nicht die Flucht in die Innerlichkeit wählt, sondern die freimütig-offene Intervention im Staat. "Savoir résister!" - das sei seine Vokation, die jetzt auch in der Remilitarisierungsdebatte gefragt sei. Breitenwirkung setzte ein: Früher nur in randständigen Zirkeln zu Hause, trat er jetzt an vielen Orten selbstbewusst hervor, z.B. in jenem rororo-Band "Brauchen wir eine neue Regierung?". Zusammengeführt von Martin Walser, plädierten da 20 Schriftsteller zur Bundestagswahl 1961 für die SPD, darunter Hans Magnus Enzensberger, Wolfdietrich Schnurre, Hans Werner Richter, Siegfried Lenz, Günter Grass und Erich Kuby. Genau die Hälfte der Beiträger berief sich ausdrücklich auf die früher gemiedene Kategorie "Intellektueller". "Geistiger" war nur noch ein einziges Mal zu finden.

Bewährungsproben

Jetzt stand er also kampfbereit auf offener Bühne. Drei Bewährungsproben hatte er durchzustehen, von denen er die letzte in offener Feldschlacht glänzend bestand. In den beiden ersten hatte er eine eigentümliche Position, die wir nur kurz schildern, damit hervortritt, welches Erklärungspotential zur Verfügung steht, wenn man die Bewusstseinsgeschichte präsent hat. In der "Spiegel"-Affäre 1962 ging es um die Pressefreiheit und um die Abwehr eines ins Autoritäre abgleitenden Staates. Gewichtige Exponenten der Gruppe 47 drohten dem Adenauerstaat mit offener Rebellion gegen die Freiheit einschränkende Gesetze. Über sechshundert Universitätsprofessoren protestierten - ein Novum. Gewiss sind sie durch die zu Kräften gekommene Kategorie "Intellektueller" gestützt worden. Interessant aber, dass sie diese nicht als zentrales Fahnenwort in die Debatte einführten.

Auch die Verteidiger eines eher autoritären Staates griffen nicht mehr zum altbewährten Schimpfwort. Das wäre sicher inopportun gewesen, wenn man ja gerade den Vorwurf abwehren will, die alten Nazi-Zeiten feierten Urständ. Wer jetzt aber glaubt, die Intellektuellen seien tatsächlich ungefährdet gewesen, wird hellhörig, wenn er erfährt: Es wimmelte nur so vor Angriffen. Den "gesunden Menschenverstand" hätten die Protestierer verloren; "Demonstrierer mit Brille" werden apostrophiert; "zersetzende Kritik" komme von "Pessimisten, Nörglern, Hysterikern und Halbkommunisten" und Ähnliches mehr. Das heißt: Die ganze Kampagne war getragen von einer anti-intellektuellen Unterströmung, der es nur inopportun schien, die diskreditierte Terminologie der totalitären Systeme offen auf den Tisch zu legen.

1964 brach sich das zunächst unterdrückte Ressentiment Bahn: Arnold Gehlen attackierte den Intellektuellen als Typus, dem ein gesundes Seelenleben verwehrt sei, weil er unerlöst in der Klemme zwischen unaufhebbarer Machtlosigkeit und hoch gespanntem moralischen Anspruch stecke. Aber schon in der übernächsten Ausgabe des "Merkur" bekannten sich zahlreiche geistige Exponenten freimütig als Intellektuelle und wiesen die Angriffe Gehlens zurück. War dies nur ein schwacher Nachklang zur "Spiegel"-Affäre, so gab es auch einen, der bis heute im Gedächtnis blieb: "Pinscher" nannte Bundeskanzler Ludwig Erhard die immer energischer protestierenden Intellektuellen, und auch hier setzten sich die Angegriffenen freimütig zur Wehr. Wenn Erhard auf Wahlkampfreisen attackierte: "es gibt einen Intellektualismus, der in Idiotie" umschlage, dann wurde er keck mit Sprechchören ausgebremst, gegen die kein Kraut gewachsen war: "Pinscher, Pinscher, wau, wau, wau!"

Auch die zweite Problemsituation zeigt, dass man deutlich unterscheiden muss zwischen dem Wortgebrauch der Akteure und dem der nachkonstruierenden Historiker. Diese haben durchaus Gründe, die 68er als "Intellektuellenbewegung" zu charakterisieren. Wenn man diese Verfahrensweise aber als undifferenzierbare historische Tatsache festschreibt, wie ist dann erklärbar, dass Adorno, dieser Prototyp des Intellektuellen, im Juli 1968 zu seinem Vortrag über den "Klassizismus von Goethes Iphigenie" mit dem Poster empfangen wurde: "Berlins linke Faschisten/grüßen Teddy den Klassizisten"? Und wie konnte dann Herbert Marcuse in seiner weltweit bekannten "Bibel" "Der eindimensionale Mensch" mehrfach "die Herabminderung des Geistes durch die Intellektuellen" beklagen? Und erst die Beschwerde des "weiberrates der gruppe frankfurt": Wenn er das Maul aufgemacht habe, so sei ihm dieses gestopft worden mit "sozialistischem bumszwang (...) sozialistischem intellektuellem pathos".

Hört man das, dann befremdet einen Wolfgang Kraushaars Urteil nicht mehr, nach dem bei den 68ern "eine tiefsitzende Intellektuellenfeindschaft" geherrscht habe. Es bewährt sich also unser Grundsatz, historischen Akteuren nicht die Begriffsauslegungen von heute ins Gehirn zu praktizieren. Behält man aber dieses antiintellektuelle (Sprach-)Bewusstsein der Akteure im Gedächtnis und dazu die vorgeführte Formungsgeschichte des Schimpfworts, so erklärt sich plötzlich scheinbar Widersinniges: die erschreckende Neigung von 68ern zum Antisemitismus, ihre Abneigung gegen "Führer", die auffällige Menge linker Exponenten, die ins rechte Lager abwanderten.

Erst im Deutschen Herbst 1977 pflanzten die Intellektuellen und ihre Gegner in offener Feldschlacht ihre mit "Intellektuelle" beschrifteten Fahnen auf. Schon 1972 hatte Heinrich Böll "ein ganzes Arsenal [!] von Denunziationsvokabeln" gegen Intellektuelle ausgemacht. Die bekam auch er zu spüren, als er mit dem heute berühmt-berüchtigten Essay "Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?" für einen fairen Prozess gegen die unzweifelhaft zur Terroristin gewordene Linke Ulrike Meinhof sorgen wollte. Als die erste und zweite Generation der Gewaltprediger zum Morden überging, fragte man nicht lange, wie diese oft aus akademischen, ja theologisch fundierten Elternhäusern stammenden Menschen auf einen derartigen Abweg geraten konnten, sondern wies umstandslos auf "die Intellektuellen", insbesondere auf die Frankfurter Schule als schuldige Drahtzieher und "Sympathisanten". Die Attackierten setzten sich auf bemerkenswerte Weise zur Wehr. Nicht nur, dass sie sich freimütig als Intellektuelle verteidigten, sie gingen sogar her und interpretierten die alt eingeübten antiintellektuellen Kennwörter um in Worte ethischer Verpflichtung: "Zersetzend"? Gegen die Notstandsgesetze, da "bleibt ja ohnehin nur das eine: zersetzen, zersetzen, zersetzen", so Böll mehrfach. Und "inkompetent"? 28-Mal von Beifall unterbrochen, machte Max Frisch diesen Vorwurf in einer Rede auf dem Parteitag der SPD lächerlich: Einem Mann, der die Bedrohung einer Kirche durch eine riesige Überschwemmung gemeldet habe, sei man doch tatsächlich mit der Frage gekommen, ob er ein Fachmann im Kirchenbau sei!

Als Hauptgegner hatten die Intellektuellen den unbeherrschten Machtpolitiker Franz Josef Strauß ausgemacht: Der hatte die Intellektuellen als "Ratten und Schmeißfliegen" bezeichnet. Auch hier schlugen die Angegriffenen sofort zurück: "Ach wie gut, daß ich nun weiß,/daß ich zu den bösen Schmeiß-/fliegen oder Ratten zähle,/weil ich nicht Franz Josef wähle!" Solch unmittelbare Zurückweisung war von besonderer Wichtigkeit. Es hatte dieser Wortvulkan aus Bayern sich doch mehrfach so eingelassen: "Unsinn" sei es, jetzt von einer "Hetze gegen Intellektuelle" zu sprechen: "Ich hetze doch nicht gegen mich selbst; so gescheit bin ich noch." Die deutschen Verhältnisse waren also auf das Niveau der französischen von 1898 gestiegen: Auch da hatten ja die antidemokratischen Kräfte sich des Fahnenwortes "Intellektuelle" bemächtigen wollen und waren von den Dreyfusards postwendend zurückgewiesen worden. So veröffentlichte der "Stern" einen höhnischen "Aufruf an alle deutschen Intellektuellen": Sie möchten doch dem schändlich verfolgten "Intellektuellen" Strauß zur Hilfe eilen! Die Intellektuellen merkten 1977, dass sie in der Situation des Vorstandes eines Gärtnervereins waren, der plötzlich über Aufnahmeanträge von Böcken entscheiden musste.

Die Postmoderne - tödliches Gift für Intellektuelle?

Es kann kein Zweifel sein, dass die Intellektuellen im Deutschen Herbst auf ihrem Machthöhepunkt standen und einen großen Anteil daran hatten, dass die inzwischen gekräftigte Demokratie in ihrer gefährlichsten Krise nicht nach rechts abrutschte. Umso erstaunlicher ist es, dass schon wenige Jahre später ihr Verschwinden von der politischen Bühne behauptet wurde. Frankreichs postmoderne Philosophen hatten ihnen einen doppelten Todesstoß versetzt. Zunächst zweifelten sie die Autonomie des Individuums an und dann die Möglichkeit allgemeiner, universeller Wahrheiten. Sie machten also Ernst mit Friedrich Nietzsches Satz, dass, ein System zu bauen, der Versuch sei, sich dümmer zu stellen als man ist. Michel Foucault erklärte den "universellen", den "totalen" Intellektuellen à la Sartre für tot; Leben habe allein der "spezifische Intellektuelle", der sich nur noch ein Urteil auf dem ihm genau bekannten, begrenzten Areal erlaube. Jean-François Lyotard schrieb jenes berühmte Essay über das "Grabmal des Intellektuellen", in dem er die Erlösung des Menschen von der "Obsession der Totalität" feierte und die Ankunft von "Geschmeidigkeit, Toleranz, 'Wendigkeit'" begrüßte.

Obwohl nun Foucault keine Auskunft darüber gab, was eigentlich den anti-allgemeinen Intellektuellen mit seinen "spezifischen" Kompetenzen von dem gängigen nicht-intellektuellen "Spezialisten" unterscheide; obwohl auch Lyotard nicht verriet, wie er "Geschmeidigkeit, Toleranz, 'Wendigkeit'" ohne Rückgriff auf allgemeine Prinzipien rechtfertigen wolle; es griff das französische postmoderne Denken derart um sich, dass nicht nur die deutschen Debatten in den Jahren von 1980 bis 2000 weitgehend von ihm dominiert wurden. Der Niedergang der "großen Erzählungen" war ja offensichtlich: Langsam siechten dahin die christliche Welt, die Hoffnung der Aufklärung auf eine kontinuierliche Höherentwicklung der menschlichen Verhältnisse; schlagartig brach 1989 die kommunistische Welt zusammen.

Weiter gefährdeten die Basis der Intellektuellen: a) die Medienrevolution, die statt fokussierter öffentlicher Debatten ein von allen Seiten einströmendes Rauschen erzeugte; b) die Umstellung von einer Kultur der Schrift auf eine des Bildes; c) die Biotechnologie, welche sogar Verankerungen von Meinungen in einer feststehenden Natur des Menschen verunmöglichte. In Deutschland kam noch anstelle des verlangten Jubels d) das angebliche "Schweigen der Intellektuellen" zu den Ereignissen von 1989 hinzu. Gemeinsamer Tenor der Debatten war die Festschreibung bloßer Restfunktionen eines deutlich zurückgeschnittenen Intellektuellen, wenn man ihm überhaupt noch ein Leben zugestehen wollte. Da wurde anempfohlen: Er solle 1. nicht mehr Realitäten mit universellen Ideen vergleichen, sondern nur noch Realitäten mit Realitäten; 2. dem ästhetischen Empfinden größere Spürkraft zutrauen als dem ausgeleierten intellektuellen (Karl Heinz Bohrer); 3. "das erkennbar Richtige" wollen, "ohne eine letzte Wahrheit zu prätendieren" (Hans Martin Lohmann); 4. statt "Fackelträger der Nacht" Katalysator sein "von Komplexität in einer stets von zu viel Struktur, von zu viel Organisation (...) bedrohten Kultur" (Hans Ulrich Gumbrecht); 5. Definierer werden, da doch alle natürlichen Grenzen gesprengt seien (Heinz Bude); 6. als Störfaktor, als bloßer Eklektizist agieren und vielerlei Anempfehlungen ähnlicher Art.

Es bedarf keines außergewöhnlichen Scharfsinns, um zu sehen: Keine einzige der angeführten Anempfehlungen ist zu realisieren ohne ein allgemeines Prinzip, das die geforderten Aktionen dem Ruch bloßer Willkür entreißt. Man musste also weiter nach einem tragfähigen Boden suchen. Nirgendwo ist man dabei mit solcher Geradlinigkeit verfahren wie 2000/2001 in der von der "Neuen Zürcher Zeitung" veranstalteten Debatte über "Die Gestalt des Intellektuellen". Was kann sie noch tragen: Theorien oder Tugenden? Axel Honneth, der letzte Verfechter von Theorien, legt dar, dass es Kritik via gesellschaftskritischer Theorie überhaupt nicht mehr gebe. Wie das? Durchweg seien Wortmeldungen von "normalisierten Intellektuellen", so der neue Name, nur Meinungsäußerungen im Rahmen der weithin anerkannten Prinzipien. Gesellschaftskritik habe aber die Aufgabe, genau diese gängigen Prinzipien zu hinterfragen.

Michael Walzer, Exponent der tugendfundierten Richtung, plädiert für "moralischen Mut", "Mitleid" und "das gute Auge". Dieses ließe sich nicht durch Theorien blenden. Sage der Theoretiker "Siehst Du den Krieg gegen den totalitären Feind?", sage das "gute Auge": "Ich sehe brennende Dörfer." So habe denn schon der Prophet Jesaja Recht, wenn er, ganz theorielos, "Schindung der Gesichter der Armen verurteilt". "Menschen zu schinden, ist falsch, ganz gleich ob die Arbeitswertlehre zutrifft." Die neuen Typen von (Ex-)Intellektuellen bekommen denn auch ganz andere Namen: "verbundene Kritiker" (Walzer), "Erasmier" (Ralf Dahrendorf), "Postintellektuelle" (Micha Brumlik), "normalisierte Intellektuelle". Insgesamt waren 59 neue Prägungen die Folge der Sprengung des alten monolithischen Begriffs.

Dass letztlich die Menschenrechte die eigentliche Domäne der Intellektuellen sind, wird immer wieder betont. Kleinlaut werden aber viele bei der Frage, woher denn jene Tugenden kommen, was die Zielvorgaben jener Theorien sind, woher also "Menschenwürde" eigentlich stammt. Nur die Minderheit lässt durchblicken: Für die Ziele einer Kultur gebe es niemals "letzte Begründungen" (Walter van Rossum); die Realität widerspreche der Menschenwürde derart, dass, wer sie als den "archimedischen Punkt" nehme, eigentlich über Menschliches hinausgehe (Konrad Adam); aus der Kultursphäre müsse sich ein "Glaube entwickeln" (Daniel Bell). Nur Walzer sagt es ganz ungeschminkt: Er sei eben auch "ein Gläubiger". Positionsmeldungen dieser Art kommen nicht aus kaum beachtenswerten Randzonen. Sämtliche Grundgesetzkommentare zum Artikel 1 GG gehen in dieselbe Richtung: "Es steht nahezu unbestritten [!] fest, dass der Satz von der Menschenwürde, obwohl als Aussage formuliert, nicht etwa - deskriptiv - einen (...) Sachverhalt beschreibt, sondern - präskriptiv - eine axiomatische Setzung enthält." Es werde da "gerade das Dogma [!] aufgestellt, dass die unantastbare Würde unhinterfragt [!] vorauszusetzen ist."

Neufundierung des Intellektuellen

Jetzt zeigt sich eine Möglichkeit, den Intellektuellen neu zu fundieren: Da in der Postmoderne alle Theorien pulverisiert sind und auch bei Tugenden eine pur rationale Letztverankerung unmöglich ist, kann nur noch ein Glaubenssprung auf ein festes Fundament führen. Zu diesem Glauben an die Menschenwürde unterhält nun der Intellektuelle ein besonders sensibles und zugleich emphatisches Verhältnis. Dieses zwingt ihn, im Krisenfall öffentlich einzugreifen, während sich andere zu jener Grundkategorie oft tangential stellen oder sie gar in den Hintergrund treten lassen. Dass der Prototyp des Intellektuellen anderwärts erworbene Autorität in die Waagschale werfen kann, ist hinzutretendes, nicht essentielles Merkmal. Auch die Schärfe der Argumentation kann die differentia specifica nicht sein; hier ist der Intellektuelle seinem Gegentyp, dem praxisorientierten Experten, oft unterlegen. "Intellektuelle Argumentation" ist nur die, die zur Grundkategorie Menschenwürde erkennbaren Dauerkontakt hält.

Der hier als einziger Ausweg ausgemachte Glaubenssprung ist nun keine willkürlich-blinde Verzweiflungstat. Der reiche, seit 2500 Jahren angesparte Schatz der abendländischen Kultur sichert ihm eindrückliche Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit. Mit einer derartigen Neu-Gründung des Intellektuellen gewinnt man viele Vorteile: Die Gefahr seines so oft verklagten Verrats ist deutlich verringert. Permanent vor Augen, dass er letztlich einen Glauben verficht, wird er nicht mehr so leicht seine Überzeugungen zu einer rigiden, oft todbringenden Ideologie erstarren lassen. Stützt er sich, wie zu erwarten, weiter auch auf Theorien, wird er selbst dann auf einem festen Fundament stehen, wenn sich diese als falsch erweisen. Da er, wie alle, letztlich auf Glaubensbestände zurückgreift, rückt er dem Normalbürger näher. Denn jetzt steht der Intellektuelle da als ein forcierter citoyen, auf den keine Demokratie verzichten kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Jüngstes Beispiel: Michel Winock, Das Jahrhundert der Intellektuellen, Konstanz 2003.

  2. Dietz Bering, Die Epoche der Intellektuellen 1898-2001. Geburt, Begriff, Grabmal, Berlin 2010. Auf Nachweise der einzelnen Zitate wird in diesem Aufsatz verzichtet, weil diese über die ausführlichen Register jenes Buchs leicht aufgefunden werden können.

  3. Jüngst wieder eindrucksvoll geschildert von Tony Judt, Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, München 2008, S. 20f.

  4. Vgl. die gelungene Schilderung bei Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zu Gegenwart, Frankfurt/M. 2009, S. 542f.

  5. Uwe Justus Wenzel (Hrsg.), Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden, Frankfurt/M. 2002.

  6. Klaus Stern/Florian Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Köln 2010, S. 98f.

Dr. phil., geb. 1935; pens. Professor für Sprachgeschichte am Institut für deutsche Sprache und Literatur I, Universität zu Köln, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln. E-Mail Link: dietz.bering@uni-koeln.de