Einleitung
Sowohl in der alten Bundesrepublik als auch in der DDR bestanden Mythen zu Lateinamerika. Sie hatten gemeinsame historische Wurzeln. Unter "Amerika" wurde bis ins Zeitalter der Aufklärung sowohl der Norden als auch der Süden des Kontinentes verstanden. Ein Wandel setzte erst im 18. Jahrhundert ein: Zum einen wurde mit dem Mythos vom "guten Wilden" das künftige Lateinamerika aufgewertet, zum anderen begann sich die Synonymie des Namens Amerika mit den USA durchzusetzen.
Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts spielte Amerika in den Schriften europäischer Denker eine untergeordnete Rolle. Hegel konstatierte in seinen 1822/23 in Berlin gehaltenen "Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte" ein Entwicklungsgefälle zwischen den beiden Amerikas: "In Nordamerika seht ihr das Gedeihen (...) dagegen beruhen in Südamerika die Republiken nur auf militärischer Gewalt." Seine Betrachtungen gipfelten in der häufig zitierten Stelle: "Amerika ist somit das Land der Zukunft, in welchem sich in vor uns liegenden Zeiten, etwa im Streite von Nord- und Südamerika die weltgeschichtliche Wichtigkeit offenbaren soll; es ist ein Land der Sehnsucht für alle die, welche die historische Rüstkammer des alten Europa langweilt (...)."
Mit dem Aufschwung Deutschlands im Wilhelminischen Kaiserreich nahmen die Konfliktpunkte mit den USA zu. Es fällt auf, dass in zeitgenössischen Schulbüchern neben den Entdeckungsfahrten und frühen Kolonialreichen der Spanier und Portugiesen auch die Freiheitsbewegungen in Lateinamerika zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftauchten und der Begriff Imperialismus im Zusammenhang mit der Ausdehnung des nordamerikanischen Einflussbereiches in Lateinamerika erläutert wurde.
Bis 1945 wurde der Antiamerikanismus eher von der politischen Rechten vorgetragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte ein Funktionswandel des Anti-Nordamerikanismus ein, der in der DDR Teil der Staatsdoktrin war. In den 1960er Jahren wurde der politische Antiamerikanismus aber auch Bestandteil der linken Studentenbewegung in der alten Bundesrepublik.
Selektive Wahrnehmung der Revolutionen
"Revolutionen spielen sich nicht nur auf Erden ab, sie spielen auch am Himmel; will sagen: nicht nur in der Praxis, sondern auch in den Köpfen."
Zum Ursprungsmythos sollte die Kubanische Revolution von 1959 werden. Fast scheint es so, als ob Lateinamerika erst jetzt in der politischen Öffentlichkeit und Wissenschaft auftaucht. In der Bundesrepublik erschienen Anfang der 1960er Jahre mehrere Bücher über Kuba, zum Teil von Fernsehjournalisten geschrieben. In der DDR erfasste das Thema auch die Unterhaltungsliteratur. Wo lagen die Gründe für diese außerordentliche Wirkung? Die Revolution fand im Hinterhof der USA statt. Sie fiel in die Zeit des Kalten Krieges, mit der Kuba-Krise 1962 drohte ein Dritter Weltkrieg. Und: Kuba ist eine Insel und von daher besonders mythenfähig. Hinzu kamen die handelnden Akteure. Guerilleros mit unverwechselbaren Bärten (barbudos) standen gegen einen korrupten Diktator, der als Handlanger von US-Regierungen galt. Der Kampf David gegen Goliath schien sich bis in die unmittelbare Gegenwart fortzusetzen und diente zur Rechtfertigung autoritärer und personalistischer Herrschaft.
Die nach außen undogmatisch und unkonventionell auftretenden Revolutionäre fanden zunächst starken Anklang bei europäischen Intellektuellen, aber auch bei Menschen, die kritisch gegenüber dem real existierenden Sozialismus eingestellt waren. Da die kubanische Regierung einen Weg zwischen den Blöcken gehen wollte und Differenzen zur UdSSR und auch zur DDR bekundete, blieb sie für die 68er-Bewegung und danach zumindest ein Referenzpunkt. Die Solidaritätsbewegung in der Bundesrepublik blieb allerdings sehr viel schwächer als später zu Chile und Nicaragua, zumal sie vor allem aus dem Umkreis der DKP hervorging. Prognosen von einem baldigen Ende des tropischen Sozialismus erwiesen sich nach 1990 als ebenso verfehlt wie die Annahme vom Ende des Mythos.
Lateinamerika in den Medien
Von den 1960er Jahren an schienen die Konflikte in Lateinamerika Teil der kubanischen Revolutionsstrategie zu sein und unter dem Vorzeichen des Kalten Krieges abzulaufen. Nun begannen die großen Tageszeitungen in der Bundesrepublik und der Schweiz regelmäßig zu berichten. Lateinamerika galt als "Washingtons größtes Sorgenkind" (Die Tat, 5.4.1964), von einem "explosiven Subkontinent" war anlässlich der Südamerikareise von Bundespräsident Heinrich Lübke die Rede (Die Welt, 24.4.1964). Mit dem Aufmacher "Eine Minute vor Mitternacht" begann eine Artikelserie von Claude Jacoby in "Die Weltwoche" 1965. In "Revolution und Reform in Lateinamerika" (FAZ, 12.5.1965) wurden die politischen und sozialen Bewegungen in den wichtigsten Staaten vorgestellt. "Rote Gefahr in Lateinamerika?" lautete ein Artikel in den Baseler Nachrichten (25.12.1965). "Ist die Demokratie in Lateinamerika gescheitert? Ein Überblick, der wenig Hoffnung lässt" hieß es im Tages-Anzeiger (26.8.1967). Und die Titelseite von "Der Spiegel" (36/1970), mit dem eine Serie über Lateinamerika begann, lautete: "Tupamaros und Guerillas. 'Da hilft nur noch Gewalt'".
Im Verlauf der 1970er Jahre setzte ein Wandel ein. Der Aufschwung der Guerilla schien nach der Ermordung Che Guevaras 1967 in Bolivien nachzulassen. Die Streitkräfte, die sich in Ländern wie Peru und Panama als "Reformer in Uniform" präsentierten oder aber als technokratische Militärregime mit einer Doktrin der nationalen Sicherheit, so in Brasilien bereits ab 1964 und die gegenrevolutionäre Militärdiktatur in Chile ab 1973, führten zum Bild vom Halbkontinent der Generäle. Die Re-Demokratisierung der 1980er Jahre wurde nicht zum Gegenstand großer Artikelserien. In einzelnen Kommentaren schimmerte Skepsis gegenüber den "neuen Demokratien" durch, besonders im Jahr 1992, als die Entdeckung bzw. Eroberung Lateinamerikas 500 Jahre zurücklag. Ein Leitartikel von Volker Skierka in der "Süddeutschen Zeitung" vom 9.4.1992 mit dem Titel "Neue Chancen für alte Putschisten" meinte, "dass in vielen Ländern die Demokratie nichts weiter als eine Diktatur auf Urlaub ist".
Nach 1989/90 verlagerte sich das Interesse der deutschen Medien auf Europa.
Solidaritätsbewegungen in der Bundesrepublik
In der Bundesrepublik kam es in den 1970er Jahren zu intensiven Debatten um die "Entwicklungshilfe" und die "Dritte Welt". Die neuen Solidaritätsbewegungen, die aus studentischen und kirchlichen Kreisen stammten, waren teils gegen den eigenen Staat gerichtet, teils befanden sie sich in kritischer Distanz.
Auf die 1968er übten die Befreiungsbewegungen aus der "Dritten Welt" große Faszination aus. Im Vordergrund standen allerdings China, Vietnam und partiell Kuba.
Kuba 1959: Vom Kalten Krieg zum Mythos.
In der Bundesrepublik entstand zunächst keine Solidaritätsbewegung mit Kuba. Die Revolution wurde im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg interpretiert, und auch von sozialdemokratischen Autoren überwogen zunächst die kritischen Auseinandersetzungen.
Im Verlaufe der 1980er Jahre gewann der tropische Sozialismus bei verschiedenen Sozialdemokraten und Jungsozialisten an Sympathie. Der damalige stellvertretende SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine besuchte 1988 die Insel und wurde von Castro empfangen. Gerhard Schröder hatte als einziges lateinamerikanisches Land vor seiner Wahl zum Bundeskanzler Kuba besucht, was in Teilen der US-Öffentlichkeit bei seinem Amtsantritt 1998 mit Überraschung kommentiert wurde. Über die Jahre hat der Mythos von der kubanischen Revolution in Deutschland eher zugenommen. In den 1970/80er Jahren galt es vorübergehend als "Entwicklungsmodell", es liegen zahlreiche Biographien zu Castro in deutscher Sprache vor. Viele Kubaner haben ihre Heimat verlassen, viele Touristen besuchen die Insel: "Von der touristischen Exploitation dieses Juwels lebt die militärisch-politische Nomenklatura in Havanna seither, argwöhnische Verwalter einer charmanten Ruine aus vorrevolutionärer Zeit, eines gut überwachten 'Buena Vista Social Club', voller Devisenträger und Touristen, schöner junger Frauen und munterer 90-Jähriger (...)."
Chile 1973: Friedlicher Weg zum Sozialismus?
Die Solidaritätsbewegung wurde zunächst von den Chile-Komitees an den Universitäten getragen. In ihnen waren auch Vertreter anderer studentischer Gruppen bzw. Parteien vertreten. Sie trafen sich auf Bundesebene, in Berlin wurden die "Chile-Nachrichten" gegründet, aus denen die bis heute erscheinenden "Lateinamerika-Nachrichten" hervorgingen. Einen sichtbaren Höhepunkt bildeten die Aktionen beim Spiel der Fußballweltmeisterschaft zwischen der Bundesrepublik und Chile im Berliner Olympiastadion im Juni 1974; die Sprechchöre "Chile Si - Junta No" konnten damals sogar die Häftlinge im Nationalstadion in Santiago de Chile bei der Fernsehübertragung wahrnehmen. Zum einen führten die Mitglieder der Komitees am chilenischen Beispiel Diskussionen über den Weg zum Sozialismus,
Die Beschäftigung mit Chile war auch deshalb so ausgeprägt, weil dort ein mit Europa vergleichbares Parteiensystem vorhanden war. Sowohl Chile als auch später Nicaragua wurden damit zum Thema der deutschen Innenpolitik. Die Zahl der von der Bundesrepublik aufgenommenen Chilenen war schon Mitte der 1970er Jahre höher als in der DDR. Sie sollte in der Folgezeit weiter ansteigen, da viele Exil-Chilenen aus der DDR in den Westen wechselten.
Argentinien 1976: Menschenrechte und Außenpolitik.
Der Peronismus bot als Populismus keine unmittelbaren Anknüpfungspunkte für eine Solidaritätsbewegung. Erst durch das Schicksal der in Argentinien verhafteten und verschwundenen Deutschen gelangte das Thema in die Öffentlichkeit. Gegenüber der Bundesregierung und dem Auswärtigen Amt wurde der Vorwurf erhoben, dass sie sich nicht ausreichend für sie eingesetzt hätten. Im Juli 1976 organisierte die Gruppe "Initiative Freiheit für Klaus Zieschank" anlässlich des Besuches des argentinischen Wirtschaftsministers einen Hungerstreik in Bonn. 1999 erhob Rechtsanwalt Konstantin Thun im Auftrag der "Koalition gegen Straflosigkeit" Strafanzeige in Deutschland gegen sieben argentinische Militärs im Zusammenhang mit der Ermordung Zieschanks. Drei Jahre später erließ das Amtsgericht Nürnberg Haftbefehl gegen den Chef der Militärjunta Jorge Videla und zwei weitere Militärs.
Nicaragua 1979: Revolution, Christentum,
Autonomie.
Nicaragua gewann in Deutschland eine im europäischen Vergleich bemerkenswerte Popularität. Die heterogene Solidaritätsbewegung wies eine Vielfalt von Gruppen auf, über 15000 Deutsche bereisten während der Revolutionsregierung (1979-1990) das Land und engagierten sich in den unterschiedlichsten Projekten.
Die hohe Bedeutung, die Nicaragua in der deutschen Innenpolitik der 1980er Jahre gewann, lässt darauf schließen, dass es auch um die Erfüllung eigener Utopien ging. Die Solidarität mit Nicaragua und später mit der Befreiungsbewegung in El Salvador bedeutete eine Absage an die traditionelle Machtpolitik einer Weltgesellschaft, als deren Opfer sich die Friedensbewegung selbst empfand. Darüber hinaus ermöglichte sie es der mittlerweile in der Opposition stehenden SPD, sich vor der eigenen Jugendorganisation ein kritisches und antiimperialistisches Profil zu geben. Mittelamerika wurde so zu einem Spielfeld für eine verdeckte Konfrontation mit den USA. Es kam aber auch zu Kontroversen innerhalb der Sozialistischen Internationale (SI), da einige lateinamerikanische Politiker den Vorwurf äußerten, die SPD würde für fremde Länder etwas propagieren, was sie im eigenen Lande spätestens mit dem Godesberger Programm von 1959 abgelegt habe. Diesen Einwand erhob später auch der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa gegenüber Günter Grass mit Blick auf dessen Beurteilung der Revolution in Nicaragua.
Eine Besonderheit der Solidaritätsbewegung mit Nicaragua sind zahlreiche Städtepartnerschaften, die zum Teil mit EU-Mitteln bis in die Gegenwart fortgesetzt werden. Auch nach der Abwahl der Sandinisten 1990 hielten diese Beziehungen an. Dabei hat sich das Verhältnis nach der Spaltung der sandinistischen Bewegung abgekühlt. Größere Sympathien bestehen für Sergio Ramírez und Ernesto Cardenal, die sich zuletzt kritisch gegenüber der Regierung um Daniel Ortega äußerten.
Staatliche Solidarität in der DDR
"Antiimperialistische Solidarität ist ein Grundprinzip der Außenpolitik unseres sozialistischen Staates", hieß es 1987.
Kuba nach 1959: "Der erste sozialistische
Staat in Amerika".
Die Beschäftigung mit Lateinamerika begann mit der Machtübernahme der Revolutionäre und der erstmaligen Aufnahme diplomatischer Beziehungen der DDR zu einem lateinamerikanischen Land Anfang 1963. Auch in den Geschichtsbüchern wurde auf Kuba und Nicaragua eingegangen. Von einer "antiimperialistischen, national-demokratischen Revolution" war die Rede. "Der Sieg der Revolution auf Kuba, auf der westlichen Hemisphäre der Erde, demonstriert überzeugend, dass der Sozialismus auch auf dem amerikanischen Kontinent auf Dauer nicht aufzuhalten ist."
Die DDR war vorübergehend der zweitwichtigste Handelspartner Kubas. Rund 30000 Vertragsarbeiter und eine wesentlich kleinere Zahl von Studierenden kamen aus Kuba in die DDR. Überschaubar blieb die Zahl von Spezialisten und Kadern, die nach Kuba gingen. Über ihre Erfahrungen wurde wenig berichtet. Umso stärker war der Mythos von der fernen Insel. Fidel Castro, Che Guevara und Tamara Bunke waren im Unterschied zu den eigenen Politikern relativ populär. Kuba war für viele ein erwünschtes Reiseziel oder sogar Projektionsfläche eines anderen Sozialismus.
Von offizieller Seite wurde vor allem Castro in den Vordergrund gerückt, während es bei den 68ern in der Bundesrepublik Che Guevara war. Einzelne Romane können als Kuba-Utopien gelten. Irmtraud Morgners "Rumba auf einen Herbst" (1963-65) spielt zur Zeit der Kuba-Krise und beschreibt die Insel als Ort der Gefahr und der Hoffnung auf einen neuen Sozialismus. Ungekürzt konnte das Buch erst 1992 publiziert werden. Wolf Biermanns Lied "Comandante Che Guevara" von 1973 war bei Linken in beiden deutschen Staaten bekannt. Artikelserien in der "Jungen Welt" und Jugendbücher betonten die Rolle von Tamara Bunke.
Chile 1973: Nahe und doch ferne Genossen.
Die Aufnahme von chilenischen Flüchtlingen nach dem Putsch gegen die gewählte Regierung von Salvador Allende 1973 nahm im Bewusstsein der DDR einen hohen Stellenwert ein.
Anders als die Kubaner und die Nicaraguaner durften die Exil-Chilenen in das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet (NSW) reisen. Dies lag daran, dass die DDR nach dem 11. September 1973 die diplomatischen Beziehungen mit Chile abgebrochen hatte. Die Exil-Chilenen waren darauf angewiesen, ihre Pässe in der Bundesrepublik zu verlängern. Auch aus diesem Grunde wurden sie vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) beobachtet.
Argentinien 1976: Diplomatische Zurückhaltung.
Die DDR hielt sich mit Kritik an der argentinischen Militärdiktatur stark zurück. Sie nahm zwar einzelne Mitglieder der KP Argentiniens auf, ordnete aber ihre Außenpolitik den Interessen der Sowjetunion unter, die an reibungslosen Handelsbeziehungen und Getreideimporten interessiert war. Dies mag einer der Gründe gewesen sein, warum das sehr kleine argentinische Exil in der DDR praktisch keine Rolle spielte.
Nicaragua 1989: Kooperation der Geheimdienste und Ansätze unabhängiger Solidarität.
Die DDR war das erste Land aus dem staatssozialistischen Lager, das Nicaragua anerkannte. Sie unterstützte Nicaragua mit Schulbuchmaterialien, dem prestigeträchtigen Hospital Carlos Marx in Managua, in Sicherheitsfragen und bei der geplanten Durchführung einer Währungsreform.
Unterschiede - Gemeinsamkeiten
Die verschiedenen Ausgangsbedingungen von unabhängigen Solidaritätsbewegungen in der Bundesrepublik und einer von staatlicher Seite betriebenen Solidarität in der DDR sind eingangs benannt worden. Allerdings lässt sich die Trennung nicht immer aufrechterhalten, denn manche Westprojekte wurden aus dem Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) (mit)finanziert oder gingen mit der Zeit in eine staatliche Förderung über. In der DDR wiederum verbanden sich zumindest in der Endphase mit der Solidaritätsarbeit Hoffnungen auf einen anderen Sozialismus.
Unabhängig davon bestanden Gemeinsamkeiten, die sich nach 1989/90 gehalten haben:
Lateinamerika erweist sich als mythenfähiger als Asien, Afrika oder der arabische Raum. Die Solidarisierung mit Vietnam oder China gehört der Vergangenheit an. China gilt in der Presse als Konkurrent, Afrika erscheint als "Problemgebiet", dem mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit oder aber Pop-Konzerten geholfen werden soll. Der Nahost-Konflikt wird nach dem Ende des Kalten Krieges im vereinigten Deutschland anders beurteilt als vor 1989.
Als Mythenträger erweisen sich einzelne Revolutionäre, die wie Che Guevara den Status von Pop-Ikonen erlangten, aber auch (politische) Kunst in Musik, Literatur und den Wandmalereien/Muralismus.
Besonders aus der Außenperspektive sind Revolutionen nicht nur reale, sondern auch imaginierte Ereignisse. Externen Beobachtern mag dies stärker auffallen: "Kulturgeschichte einer Verblendung" lautet der Untertitel einer in den USA verfassten Dissertation über Kuba und die Deutschen.
Die Autorin beschreibt darin eine zunehmend kulturalistische Sicht auf Kuba, die in den 1990er Jahren sogar zugenommen hat; dagegen standen bei Argentinien die Menschenrechte im Vordergrund. Jugendorganisationen, kirchliche bzw. christliche Gruppen wurden in der Solidaritätsarbeit besonders aktiv. Von einem "Kontinent der Hoffnung" und einer "Option für die Armen" war nach der lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Medellín/Kolumbien 1968 die Rede. Exponenten der Theologie der Befreiung wie Camilo Torres, Dom Helder Camara, Oscar Romero und andere spielten eine wichtige Rolle. Sie gewannen partiell einen Märtyrerstatus, der im bundesdeutschen Kontext sonst fehlt. Aufgrund der geringeren Bedeutung von Religion in Ostdeutschland war dieser Aspekt dort schwächer ausgeprägt.
Revolutionsmythen führten zur Aufwertung (kleinerer) Länder, die sonst in der Öffentlichkeit keine größere Wahrnehmung erlangt hätten. Kuba, Chile und Nicaragua erlangten nicht nur einen hohen Stellenwert, die politische Entwicklung dort wurde sogar auf den gesamten Halbkontinent übertragen. Brasilien, Mexiko oder Kolumbien schienen weniger wichtig zu sein.
Revolutionsmythen sind langlebig, weil sie mit Hoffnungen von Menschen zu tun haben. Im Falle Lateinamerikas spielt auch der Anti(nord)amerikanismus eine Rolle. Pedro Henriquez Ureña hatte schon 1925 geschrieben: "Wenn die Utopien in Amerika keine Früchte tragen, wo sollten sie dann Asyl finden?"
Von der Revolution zur Vielfalt
"'Für Europäer ist Amerika ein Mann mit Schnauzbart, Gitarre und Revolver', sagte der Arzt über seiner Zeitung lachend. 'Sie verstehen uns nicht'."
Nach 1989/90 haben die großen ideologischen Entwürfe an Bedeutung verloren. Lateinamerika durchläuft die längste Phase demokratischer Herrschaft seiner Geschichte. Die Solidaritätsgruppen engagieren sich kaum noch für Regierungen, sondern für einzelne soziale Bewegungen. Kulturelle Fragen gewinnen einen immer größeren Stellenwert, der Multikulturalismus scheint sich in den Beziehungen der Nichtregierungsorganisationen zu Lateinamerika durchzusetzen. Die staatliche Entwicklungszusammenarbeit mit den südamerikanischen Ländern ist reduziert worden, Sachfragen stehen im Vordergrund.
Sind die Solidaritätsbewegungen damals Revolutionsmythen aufgesessen? Zumindest für Chile und Nicaragua lässt sich das nicht durchgängig bestätigen. Zum einen war auch in der Tagespresse und der wissenschaftlichen Literatur die Vorstellung von einer kommenden Revolution in Lateinamerika weit verbreitet. Zum anderen leitete der Kontakt mit chilenischen Flüchtlingen oder der Aufenthalt in Nicaragua Lernprozesse ein; die Geschichte der "Dritte-Welt"-Bewegung in der Bundesrepublik und deren Debatten mit der Friedensbewegung unterstreichen dies. Horst Pöttker, damals "Aktion Dritte Welt" in Freiburg, kritisierte 1982 die Überbetonung der Gewaltfrage und beklagte, "dass unsere Sichtweise zu sehr davon geprägt ist, was unseren hier in der Bundesrepublik gewonnenen Erfahrungen und Auffassungen nach dort in der Dritten Welt sein sollte, und dass wir uns zu wenig um das kümmern, was tatsächlich dort vor sich geht (...)".
Der Gegensatz zwischen Lateinamerika und den USA verliert an Bedeutung. Zudem sollen im Jahr 2040 die Latinos die größte ethnische Gruppe in den USA stellen; schon jetzt ist ihre Zahl höher als die der Afroamerikaner.