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Die Linke in Lateinamerika

Romeo Rey

/ 15 Minuten zu lesen

Bisherige Versuche, auf dem Subkontinent sozialistische Politik umzusetzen, sind am Widerstand der USA und an gravierenden Fehlern der reformistischen und revolutionären Regime gescheitert.

Einleitung

Bis Anfang der 1980er Jahre glaubten viele Beobachter der politischen Szenerie Lateinamerikas, in diesem Erdteil sporadische Pendelbewegungen zwischen autoritären Regimen und mehr oder weniger demokratisch gesinnten Herrschaften zu erkennen.* Tatsächlich alternierten in manchen Ländern Militärdiktaturen, die nach oberflächlicher Lesart mit harter Hand zu "korrigieren" versuchten, was ihnen schwache, aber formal verfassungsmäßige Regierungen an heiklen Erbstücken hinterlassen hatten. Dass das Mosaik von Verdiensten, Fehlern und Mängeln militärischer wie auch ziviler Herrschaft in Wirklichkeit sehr viel komplizierter ist, sei hier nur am Rande bemerkt.

Diese seit Gründung der Republiken zu Beginn des 19. Jahrhunderts andauernde Phase instabiler institutioneller Verhältnisse scheint in den vergangenen drei Jahrzehnten weitgehend überwunden worden zu sein. Selbst Länder wie Bolivien und Ecuador, die einst als unheilbar anfällig für Staatsstreiche galten, haben - trotz einiger dramatischer Intermezzi - zu einer bemerkenswerten Konstanz und zu Fortschritten in ihren demokratischen Praktiken gefunden, die man ehedem kaum für möglich halten mochte. Das Pendel zeigt mittlerweile Ausschläge in andere Richtungen an. Bald deutet es die Konsolidierung von bürgerlich-liberalen oder konservativen Tendenzen an, bald lässt es Verschiebungen zugunsten links-reformistischer oder gar links-revolutionärer Kräfte sichtbar werden. Zentrales Element solcher Entwicklungen ist dabei bis anhin, dass solche Umwälzungen entweder direkt an den Wahlurnen oder aber in einer Verstärkung basisdemokratischer Bewegungen sichtbar werden.

In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts haben die linksgerichteten Parteien auf dem Subkontinent deutlich Auftrieb erhalten. Allerdings muss sogleich zwischen politischen Parteien unterschieden werden, die eigentlich nur aufgrund ihres Etiketts (der Bezeichnung ihrer Organisation) oder im Hinblick auf Maßnahmen populistischer oder karitativer Natur als "links" bezeichnet werden könnten, und anderen, die eine klar sozialistisch orientierte Politik verfolgen. Zur ersten Kategorie gehört einerseits die in ihren Anfängen antiimperialistisch gesinnte APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana) in Peru. Sie verfolgt heute eine unverhohlen neoliberale Politik. Zu diesem Lager ist beispielsweise auch die Regierung der Concertacion Democrática in Chile zu zählen, die sich als Koalition von Christdemokraten, Sozialdemokraten und Sozialisten zwei Jahrzehnte lang darauf beschränkte, das neoliberale Erbe der Pinochet-Diktatur zu verwalten. Allein einige sozialpolitische Maßnahmen ließen die Absicht erkennen, wenigstens die schlimmsten Exzesse jener Politik zu mildern. Unter ähnlichen Umständen hat sich die Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores/PT) des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio "Lula" da Silva damit begnügt, wirtschaftliche, finanzielle, soziale und politische Stresssituationen um jeden Preis zu vermeiden, sich auf Symptombekämpfung (vor allem der offensichtlichsten Armut) zu beschränken und strukturelle Reformen fast auf der ganzen Linie zu vermeiden.

In der zweiten Kategorie linksgerichteter Regime hat der 1998 erstmals gewählte Präsident Venezuelas, Hugo Chávez, unübersehbar die Führungsrolle inne. Er treibt sozialistische Reformen nicht nur im Innern der Nation voran, sondern versucht auch, Gleichgesinnte in Lateinamerika um sich zu scharen. Neben Kuba, das auf eine solche Gelegenheit schon lange gewartet hatte, schlossen sich seiner ALBA-Initiative (Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América) - die als radikale Alternative zu der von den USA gesponserten, neoliberal inspirierten Freihandelszone ALCA (Área de Libre Comercio de las Américas) konzipiert ist - Bolivien, Ecuador, Nicaragua und einige Kleinstaaten der Karibik an. Sie streben nach größerer Unabhängigkeit von Washington und insbesondere vom US-Dollar (durch die Einführung einer neuen Währung, des Sucre, und neuer Bankstrukturen in der Region), nach stärkerer staatlicher Aufsicht über die Ressourcen ihrer Länder und einer Demokratisierung, insbesondere auch der bisher allzu einseitig von bürgerlichen Wirtschaftsgruppen beherrschten Massenmedien.

Schwer einzuordnen ist in diesem Panorama die von etwas links der Mitte stehenden Peronisten angeführte Regierung Kirchner-Fernández in Argentinien. Der Peronismus war seit seiner Entstehung Mitte der 1940er ein äußerst kompliziertes Phänomen, und dieser Eindruck hat sich nach dem Tod von Juan Domingo Peron (1974) bis heute verstärkt. Die 2009 durch Wahlsiege an die Schalthebel der Macht gelangten Linken in Paraguay und El Salvador - zwei ehemals von extrem konservativen und repressiven Kräften dominierte Länder - haben große Mühe, ihre programmatischen Versprechen umzusetzen, denn in beiden hat die Rechte sowohl das Parlament als auch die Gerichtsbarkeit unter ihrer eisernen Kontrolle. In Uruguay ist mit José Mujica ein ehemaliger Guerillero zum Staatschef gewählt worden, der indessen einen ähnlich gemäßigten (oder "pragmatischen") Kurs zu verfolgen scheint wie sein Vorgänger im Amt und wie die PT-Regierung im benachbarten Brasilien.

Demgegenüber konnten die Konservativen und Liberalen, alle Anhänger des Neoliberalismus, mit Felipe Calderon in Mexiko, dem Multimilliardär Sebastián Piñera in Chile und Juan Manuel Santos, Spross der mächtigsten Medienbesitzerfamilie Kolumbiens, das Pendel wieder zugunsten des bürgerlichen Lagers anstoßen. Ähnlich fest im Sattel sitzt die Rechte gegenwärtig mit Präsident Alan García in Peru und dem Unternehmer Ricardo Martinelli in Panama. In Honduras, das ähnlich wie Kolumbien, seit bald zwei Jahrhunderten nahezu lückenlos von Liberalen und Konservativen beherrscht wird, konnte die lokale Oligarchie das Rad der Geschichte nach dem kurzen Zwischenspiel des nach links abgedrifteten liberalen Präsidenten Manuel Zelaya mit Gewalt (und US-amerikanischem Beistand) wieder zurückdrehen.

Wegbereiter und Pioniere

Das Bild, das Lateinamerika nach drei Jahrzehnten weitgehend ungestörter demokratischer Entwicklung vermittelt, könnte also vielschichtiger und bunter kaum sein. Ein markantes Merkmal ist dabei nicht zu übersehen: Die Linke hat an Raum gewonnen, und ihre Herrschaft scheint heute auf solideren Grundlagen zu stehen als bei politisch ähnlich gefärbten Episoden in früheren Zeiten.

Im Mittelpunkt der Geschichte linksgerichteter Revolutionen auf dem Subkontinent steht unzweifelhaft der Umsturz, den Fidel Castro, Ernesto Che Guevara und ihre Mitkämpfer auf Kuba zustande gebracht haben. Doch sie waren nicht die Ersten, die sich mit sozialistischen Idealen gegen das Joch der von den USA verkörperten Fremdherrschaft und der mit jenen verbündeten bürgerlich-oligarchischen Kreise aufgelehnt hatten. Theoretisch hatten sich lange zuvor schon Politiker wie die Argentinier Alejandro Korn und José Ingenieros sowie die Peruaner Víctor Raúl Haya de la Torre (Gründer der APRA) und der indigene Marxist José Mariátegui mit den Idealen des Sozialismus und den Erfordernissen des Kampfes gegen den Imperialismus auseinandergesetzt.

Als Begründer des bewaffneten Aufstandes nach den "Regeln" der erst später als solcher bekannt gewordenen Guerilla kann Emiliano Zapata gelten. Er hat der Welt das faszinierende Beispiel eines prinzipientreuen, aber undogmatischen und selbstlosen Vorkämpfers für einen echten Sozialismus in Freiheit gegeben. In jeder Phase seines Wirkens im Verlauf der Mexikanischen Revolution folgte er dem Willen der Bauern, die absolutes Vertrauen in ihn als Revolutionsführer gesetzt hatten. Sein Credo beschränkte sich auf einige wenige Punkte, die rigoros befolgt wurden: Dezentralisierung praktisch aller Belange und folglich weitgehende Gemeindeautonomie, Recht auf Mitsprache und Selbstbestimmung aller Erwachsenen, sofortige Ankurbelung der landwirtschaftlichen Produktion nach der Befreiung einer bestimmten Zone, zumindest vorübergehende Staatsintervention in großen Betrieben wie Zuckerrohrraffinerien. Im Guerillakrieg bemühte er sich (im Gegensatz zu den bürgerlich geführten Bundestruppen), die Zivilbevölkerung nach Möglichkeit vor dem Horror des Bürgerkriegs zu schonen. Die Schläge seiner kleinen Armee richteten sich gegen reiche, mit der repressiven Zentralmacht verbündete Besitzer von Landgütern und Unternehmen, allenfalls gegen das Fremdkapital, und in erster Linie gegen die verhasste Bundesarmee. Vor allem hinsichtlich der Agrarpolitik wird Zapata für Lateinamerikas Linke immer als Beispiel und Bezugspunkt zu gelten haben.

Eine ähnliche Rolle als Pionier der Revolution spielte Augusto César Sandino in Nicaragua. Er suchte Erkenntnis und Halt bei allen möglichen geisteswissenschaftlichen Theorien. Dabei ist ihm der Realitätssinn in manchen Aspekten abhanden gekommen. Überdies bekundete er messianische Tendenzen, die durch ehrliche Bewunderung seitens seiner Gefolgsleute, armer und ungebildeter Landarbeiter und Kleinbauern, genährt wurden. Zweifellos richtig und an sich verdienstvoll war seine - aus eben jenen radikalen, zum Teil auch esoterischen Theorien gewonnene - Einsicht, dass nicht nur Wirtschaft, Politik und Staat, sondern auch der Mensch selber "revolutioniert" werden müsse, wollte man dem Ideal einer sozialistischen Gesellschaft näherkommen. Doch dieses Ziel, das zuviel auf einmal und zuviel von allem verlangte, blieb in unerreichbarer Ferne. Wie Zapata fiel Sandino Meuchelmördern zum Opfer.

Bilanz eines Umsturzes

Die Kubanische Revolution ist das Schlüsselereignis der Geschichte Lateinamerikas im 20. Jahrhundert. Über fünf Dekaden hinweg hat sie der Blockade und den vielfältigen Aggressionen der USA widerstanden, die mit enormen Schwierigkeiten verbundene Abnabelung des Regimes von der einstürzenden Sowjetunion überlebt und trotz der wiederholten Irrungen und Wirrungen der kommunistischen Wirtschaftspolitik jenen Kollaps vermeiden können, den die Gegner der Revolution seit einem halben Jahrhundert prophezeien.

Eine halbwegs befriedigende, einigermaßen hinreichende Versorgung aller Schichten der Bevölkerung mit den notwendigsten Lebensmitteln, das Verschwinden menschenunwürdiger Wohnverhältnisse (wie sie in den Slums fast aller großen Städte des übrigen Lateinamerika herrschen), ein im Vergleich zu den übrigen Ländern der Region hoch stehendes öffentliches Schulwesen und die qualitativ hervorragende Gesundheitsfürsorge: Das sind sozialpolitische Errungenschaften, die in objektiv informierten Kreisen des Subkontinents Gegenstand von Anerkennung sind und vor allem in den unteren Volksschichten zwischen dem Rio Grande und Patagonien euphorischen Beifall hervorrufen. Dass die kubanische Wirtschaftspolitik zwar im subkontinentalen Vergleich - wie die statistischen Daten der CEPAL (Comision Economica para América Latina, UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika) immer wieder gezeigt haben - langfristig keineswegs schlecht dasteht, aber doch nie richtig "auf Touren" kommt und der Bevölkerung kein breiteres Güterangebot vorzulegen vermag, scheint zwei grundlegende Ursachen zu haben. Erstens wollten die Revolutionäre einen Konsumrummel, wie er in den kapitalistischen Ländern für die begüterten Schichten zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, vermeiden. Die Prioritäten ihrer Herrschaften sind andere, etwa die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse der gesamten Bevölkerung. Aus demselben Grund hat Castro immer danach getrachtet, die Reize Havannas - eine grandiose Skyline, wie sie São Paulo, Santiago de Chile und diverse andere Metropolen der Region zur Schau stellen - auf Sparflamme zu halten und damit das weit verbreitete Phänomen der Landflucht auf ein absolutes Minimum zu reduzieren.

Zum Zweiten, und dieser Punkt ist der wichtigere, ist in Kuba bis auf den heutigen Tag die Grundfrage nicht geklärt (und kaum ernsthaft zur Diskussion gestellt) worden, wie weit wirtschaftliche Tätigkeit geplant werden muss. Dass staatliche Normsetzung, Planung in größerem Rahmen und Kontrollfunktionen notwendig sind, wenn man neoliberale Exzesse - absurde ökonomische und soziale Entwicklungen - vermeiden will, sollte nach den bitteren Erfahrungen der jüngsten Zeit eigentlich unbestritten sein. Ebenso klar muss für eine humanistisch-sozialistische Gesellschaft sein, dass nicht Profitmaximierung zugunsten von Minderheiten (seien es nun Kapitaleigner und Manager oder machthungrige Bürokraten jedweder ideologischen Provenienz) Leitziel des Wirtschaftssystems sein kann, sondern nur eine Maximierung des Gewinns mit dem Ziel der finanziellen Absicherung einer gerechten und freiheitlichen Gesellschaftsordnung.

Dieser Zustand ist in Kuba erst in kleinen Ansätzen, eben der Befriedigung der wichtigsten Bedürfnisse aller, aber auch mit der Einführung basisdemokratischer Rechte im Rahmen des sogenannten Poder popular (Volksmacht) erreicht worden. Noch immer aber leidet die Revolution unter gravierenden Freiheitsmängeln, die besonders in der Wirtschaft lähmende Effekte haben. Wenn Eigeninitiative nur punktuell und "experimentell" entfaltet werden kann und wenn autoritäre Fallbeile jene Individuen bedrohen, die selbsttätig sein wollen, wird das gesamte wirtschaftliche Gefüge immer von Neuem ausgebremst.

Export der Revolution?

Von der Güte ihrer Revolution überzeugt, haben bestimmte Instanzen des kubanischen Regimes unter Anführung von Che Guevara schon früh danach getrachtet, das sozialistische Feuer in anderen Ländern zu entfachen. Bei diesen misslungenen Versuchen, den Umsturz mit Brachialgewalt herbeizuführen, ist viel Porzellan zerschlagen und nur wenig für die Sache der Revolution erreicht worden. Von Mexiko und Guatemala bis nach Brasilien, Uruguay und Argentinien haben Hunderttausende - nicht nur Guerilleros, sondern viel häufiger gewöhnliche, meist nicht bewaffnete Bürgerinnen und Bürger - die Erde mit ihrem Blut getränkt. Bewaffneter Kampf ohne langwierige politische Vorarbeit an der Volksbasis (in den Linksparteien, Gewerkschaften und Volksorganisationen) konnte der angestrebten Revolution kaum nützen - umso mehr aber den Interessen der oligarchischen, mit der US-Hegemonie glücklich lebenden Rechten der betreffenden Länder.

Diese Lektion haben die Aufständischen vor allem in Mittelamerika gelernt. Sie bemühten sich in der Folge um einen viel engeren Schulterschluss mit jenen politischen Organisationen, welche die Anliegen der unteren und untersten Volksschichten vertreten. Im Falle Nicaraguas hat eine solche Allianz, die überdies durch die aktive Präsenz von Intellektuellen, Geistlichen und einigen Unternehmern verstärkt wurde, zum Sieg der revolutionären Verbände geführt. In Guatemala und El Salvador scheiterten ähnliche Versuche, hauptsächlich wegen der massiven Militärhilfe, mit der die USA die etablierten, extrem konservativen Herrschaften zu stützen vermochten. Auch das Fehlen demokratischer Überzeugungen und Umgangsformen im Schoß der Guerilla- und Basisorganisationen trug zu deren Scheitern bei.

Demgegenüber setzt die Weiterentwicklung des revolutionären Kampfes durch die Zapatistische Befreiungsarmee (Ejército Zapatista de Liberacion Nacional/EZLN) im südlichen Teil Mexikos ein positives Zeichen. Die Eingeborenen, die im Dschungel von Chiapas den Idealen Zapatas nacheifern, verfolgen eigene, in langer kommunaler Debatte erarbeitete Ziele, insbesondere die Wahrung ihrer sozialen, kulturellen und sprachlichen Autonomie. Lateinamerikas Linke kann von den Zapatisten wahrscheinlich weniger hinsichtlich der Einführung des Sozialismus als vielmehr in Sachen interner Demokratie lernen. In abgelegenen Dörfern und Weilern machen die Ureinwohner in ihren Caracoles-Räten einen Bildungsprozess in Theorie und Praxis von unschätzbarem Wert durch. Auf der Suche nach einer eigenständigen, gerechten, friedlichen, solidarischen und demokratischen Gesellschaft tritt der stets vermummte "Marcos" nicht als Kommandant auf, sondern - wie einst Zapata - als Helfer zur Vollstreckung des Volkswillens. Obwohl die Zapatisten nach einer kurzen Anfangsphase 1994 jeglicher Art von Gewaltanwendung abschworen, findet die mexikanische Staatsgewalt sowohl auf Bundesebene wie auch im regionalen und lokalen Bereich keine andere Antwort auf die Bestrebungen der Eingeborenen als Schikanen, Provokationen und Repressionen. Es wird unablässig versucht, diesen Keim einer neuartigen, solidarischen und friedfertigen Gesellschaft (übrigens in kleinstem Rahmen, auf einige wenige zehntausend Menschen beschränkt) mit dem Einsatz militärischer, paramilitärischer, polizeilicher und auch mafiöser Methoden aus der Welt zu schaffen.

Schon drei Jahrzehnte zuvor, im Anschluss an die Bischofskonferenz von Medellín des Jahres 1968, hatten sich in der katholischen Kirche Kräfte zu regen begonnen, die ebenfalls nach einer gewaltlosen Revolution in Lateinamerika streben. In der Folge sind in allen Ländern des Erdteils Millionen Gläubige den christlichen Basisgemeinden (Comunidades Eclesiales de Base/CEB) beigetreten, die von sozial gesinnten Geistlichen betreut werden und die Lehren der Befreiungstheologie befolgen. Der Beitrag solcher gemeinschaftlicher Kerne zum geschichtlichen Wandel mag im Einzelnen gering und vielleicht sogar widersprüchlich sein. Aber mit der in die Zehntausende gehenden Anzahl von CEB multipliziert, die über den ganzen "katholischen Kontinent" verstreut sind und im Stillen wirken, kann sich - wie die Entwicklung in Brasilien nahelegt - ein Prozess der Bewusstseinsbildung ergeben, dessen politische Auswirkungen nicht zu unterschätzen sind. Auffallend sind die Parallelen zwischen Zapatisten und Basisgemeinden insofern, als die Staatsgewalt (im Falle der letzteren ist das der Vatikan) vorwiegend, wenn nicht gar ausschließlich mit repressiven Massnahmen auf das Entstehen und die Ausbreitung einer solchen "Volksbewegung" reagiert - mit dem einen gewiss beträchtlichen Unterschied, dass der mexikanische Staat dabei brutalste und skrupelloseste Methoden zur Anwendung bringt, während sich die katholische Obrigkeit darauf konzentriert, die geistigen Urheber der Befreiungstheologie mit Sanktionen zum Schweigen zu bringen.

"Wege zum Sozialismus"

Mehrmals im Verlauf des 20. Jahrhunderts haben demokratisch gewählte Regierungen in Lateinamerika versucht, eine mehr oder weniger deutlich linksgerichtete Politik in die Tat umzusetzen: Jacobo Árbenz in Guatemala (1951-1954), João Goulart in Brasilien (1961-1964), Juan Bosch in der Dominikanischen Republik (1963), Salvador Allende in Chile (1970-1973) und die mit einer gewaltlosen Revolution an die Macht gelangte New Jewel-Bewegung von Maurice Bishop in Grenada (1979-1983), um nur einige der wichtigeren Beispiele zu nennen. Sie alle endeten ähnlich: mit offener oder versteckter Intervention der Weltmacht USA, deren zentrales Bestreben stets darauf gerichtet ist, ihre hegemonialen Interessen im "Hinterhof" zu wahren und Ansätze zu sozialistischer (oder auch bloß nationalistischer) Politik im Keim zu ersticken.

Allende war überzeugt davon, dass ein "chilenischer Weg zum Sozialismus" möglich sei. Seine Regierung wurde nach knapp drei Jahren inmitten chaotischer Zustände, die zum Teil selbstverschuldet und zum Teil das Werk oppositioneller und fremder Kräfte waren, durch einen Putsch beseitigt. Eine erste Lehre, die aus dieser historischen Erfahrung gezogen werden muss, betrifft die Einheit der revolutionären Kräfte. Wo sie hergestellt werden kann (wie in Kuba unter Castro und in Nicaragua dank einer sehr breiten Koalition), kann eine Machtübernahme sozialistisch gesinnter Gruppen gelingen - vielleicht sogar ohne Entmachtung der Armee, wie die bisherige Entwicklung in Venezuela zu zeigen scheint. Kann diese Einheit aber nicht bewerkstelligt werden (wie in El Salvador, Guatemala, Kolumbien und eben Chile), dann sind die Aussichten der Linken auf dauerhaften Erfolg gering. Eine existentielle Voraussetzung für das Überleben der Regierung Allende wäre es zumindest gewesen, dass man ultralinke Bewegungen wie die Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR) mit demokratischen Mitteln "zur Vernunft gebracht" und unter Kontrolle gehalten hätte.

Eine zweite Lektion besteht darin, dass die Ökonomie, auch wenn sie keine exakte Wissenschaft ist, ihre eigenen Gesetze hat, die nicht missachtet werden dürfen. Die gute Absicht, das Los der Bevölkerung verbessern zu wollen, genügt nicht. Lohnerhöhungen müssen, auch wenn Großzügigkeit vom sozialen Standpunkt her noch so gerechtfertigt sein mag, sehr genau dosiert werden. Andernfalls besteht die akute Gefahr, dass sich die inflationäre Spirale zu drehen beginnt. Dem kann dann - wie im Chile der Unidad Popular - nur mit der zweifelhaften Hilfe von Preiskontrollen und Subventionen begegnet werden. Zum Schluss wird den unteren Volksschichten, wie später auch das Beispiel der sandinistischen Regierung in Nicaragua zeigte, durch galoppierende Teuerung viel mehr weggenommen, als ihnen mit scheinbaren Reallohngewinnen gewährt wurde.

Nach Auffassung der Linken sind Verstaatlichungen und Nationalisierungen unverzichtbare Instrumente zur Umverteilung des Reichtums. Im Fall der Bodenschätze können solche Maßnahmen von entscheidender Wichtigkeit sein. Allerdings zahlen sie sich auf Dauer nur aus, wenn die staatlichen Behörden auf die Erfüllung ihrer administrativen Aufgaben vorbereitet sind und im eigenen Lager genügend Know-how vorhanden ist. Auf jeden Fall aber sollten Verstaatlichungen nicht einfach der Not gehorchend oder dem Druck der politischen Ereignisse und radikalisierter Sektoren weichend erfolgen. Sie bedürfen immer einer gründlichen Vorbereitung in allen Aspekten der Geschäftsführung. Improvisation kann in solchen Belangen nur in den Abgrund führen.

Eben diese Fehler, die sich bereits die Regierung Allende zu Schulden kommen ließ, wurden unter der Herrschaft der Sandinisten (Frente Sandinista de Liberacion Nacional/FSNL) in Nicaragua (1979-1990) gleich noch einmal begangen. Man sieht: Selbst wenn die Linke einmal nach einem bewaffneten Aufstand an die Macht gelangen konnte, ist das noch keine Gewähr für den Erfolg der Revolution. Zahllose Bewährungsproben werden ihr noch bevorstehen, der Aufbau einer neuen Gesellschaft wird nie beendet sein. Ähnlich wie in Kuba hat die FSLN-Regierung vor allem im Agrarsektor einen erratischen Kurs zwischen Zwangskollektivierung und teilweiser Liberalisierung verfolgt und damit tiefe Verunsicherung in der Wirtschaft ausgelöst. Dass in Nicaragua damals im Mittel etwa 40 Prozent der Wirtschaft unter direkter staatlicher Kontrolle standen, zeigt an sich eine durchaus vernünftige Relation an. Doch die Kernfrage der FSLN-Politik scheint gewesen zu sein, was sich an Reformen mit den zur Verfügung stehenden Mitteln finanzieren ließ. Das Explodieren der Inflation war jedenfalls ein unübersehbares Indiz dafür, dass sich die Comandantes übernommen hatten.

Die Einheit von siegreicher Guerilla und Volksorganisationen konnte bis zum vorläufigen Ende nach elf Jahren über weite Strecken gewahrt werden. Doch schon nach wenigen Monaten zerbrach die Allianz mit den meisten bürgerlichen Gruppen. Dadurch wurde das Projekt, eine gemischte Wirtschaft einzurichten und in Schwung zu bringen, entscheidend gestört. Durch Druck von innen und außen ließen sich die Sandinisten außerdem dazu bewegen, den 1979 eingesetzten Staatsrat, in dem alle Sektoren der Aufstandsbewegung angemessen vertreten waren, durch ein Parlament zu ersetzen, das zwar vom Volk gewählt wurde, jedoch nicht die wahren Machtverhältnisse, sondern vielmehr eine überholte Parteienlandschaft wiedergab. In diesem Aspekt sind die Sandinisten der bürgerlichen Tradition gefolgt, anstatt das kubanische Modell des Poder popular der politischen und sozialen Realität des eigenen Landes anzupassen.

Noch einmal in einigen Punkten ähnliche, aber doch nicht deckungsgleiche Erfahrungen mit Chile und Nicaragua fördert ein Vergleich mit der Regierung des Venezolaners Hugo Chávez zu Tage. Er ließ gleich zu Beginn seines ersten Mandats eine verfassunggebende Versammlung wählen, die den Weg zum "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" ebnen sollte. Dem neuen Regime sollte nachhaltige Legitimität und Schutz gegen bürgerliche Manöver verschafft werden, die in erster Linie darauf abzielen, den Status quo ante wiederherzustellen. Chávez' "bolivarianische Verfassung" scheint ein Gleichgewicht zwischen den Kompetenzen eines starken Staates und der Wahrung von genügend großen Freiräumen zur Entfaltung von privater Initiative zu ermöglichen. Auch die Tatsache, dass dem staatlichen Erdölkonzern PDVSA (Petroleos de Venezuela S.A.) eine zentrale Rolle in der Wirtschaft zugewiesen wird, stört diese Balance im Prinzip nicht. Chávez kann das Verdienst für sich beanspruchen, den gewaltigen Reichtum seines Landes aus den Händen transnationaler Giganten in jene sozialen Sektoren umgeleitet zu haben, die ihn am dringendsten benötigen. Ebenso positiv sind die Bemühungen einzuschätzen, diese Umverteilung des Reichtums in möglichst direkter Form (unter Minimierung des bürokratischen Aufwands) zugunsten der unteren und untersten Bevölkerungsschichten zu verwirklichen. Die Vermehrung der Gemeindekompetenzen wie auch die Stärkung des Genossenschaftswesens und basisdemokratischer Strukturen - insbesondere mit der Gründung und Verwaltung von kooperativ geführten Massenmedien - sind als weitere Pluspunkte zu bewerten. Schwächen der sozialistischen Herrschaft in Caracas sind hingegen die bereits bedenklich schnell galoppierende Inflation und die weit verbreitete Praxis der Korruption. Beide Übel bergen genügend Zündstoff in sich, um auch eine Regierung, die auf scheinbar stabilen institutionellen und sozialen Grundlagen steht, früher oder später aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Von zentraler Bedeutung für die linksgerichteten Regierungen Lateinamerikas ist das Bekenntnis in Wort und Tat zu freiheitlichen und demokratischen Prinzipien: zu einer Demokratie, die repräsentativ, aber nicht bürgerlich sein muss. Um glaubwürdig zu sein, muss diese Demokratie von unten wachsen. Gegen diesen Prozess werden sich die bisher privilegierten Gruppen und die Hegemonialmacht im Norden immer entschieden sperren.

*Vgl. zu diesem Text Romeo Rey, Im Sternzeichen des Che Guevara. Theorie und Praxis der Linken in Lateinamerika, Hamburg 2008.

Geb. 1942; Pädagoge, Journalist, Autor; langjähriger Korrespondent des "Tages-Anzeiger" (Zürich/Schweiz) und der "Frankfurter Rundschau" in Lateinamerika. E-Mail Link: reyswiss@gmx.net