Einleitung
In der vergangenen Dekade hat in den westeuropäischen Staaten die Besorgnis über das Phänomen des "hausgemachten Terrorismus" (home-grown terrorism) zugenommen. Einzelne radikale Muslime, zum Teil in Europa geboren und aufgewachsen, waren an terroristischen Gewaltakten beteiligt, wie den Bombenanschlägen auf Vorortzüge in Madrid im März 2004, der Ermordung Theo van Goghs in Amsterdam im November 2004 und den Bombenanschlägen in London im Juli 2005. Diese Ereignisse leisten der Verfestigung von Theorien einer kulturellen Konfrontation zwischen "dem Westen" und "dem Islam" Vorschub und befördern Debatten über die "Integrationsfähigkeit" muslimischer Gemeinschaften in Europa.
Obwohl es eine Vielzahl an Arbeiten darüber gibt, wie es zur Radikalisierung von Menschen kommt, wird oft angenommen, diese vollziehe sich in einem sozioökonomischen und politischen Vakuum. Vor allem kulturalistische Hypothesen machen die Radikalisierung - und den Terrorismus - als spezifisches Charakteristikum der islamischen Praxis aus.
Eine alternative Erklärung für die Verbitterung vieler Muslime kann im Zusammenspiel von sozioökonomischer Benachteiligung und kultureller Kränkung liegen. Den Aspekt der sozioökonomischen Benachteiligung führte bereits Ted Gurr in seiner klassischen Arbeit über die relative Deprivation als Ursprung von Rebellion an.
Anatomie der Radikalisierung
Vor diesem Hintergrund dokumentierte Frances Stewart die systematische und strukturelle Benachteiligung muslimischer Gruppen in allen westeuropäischen Staaten: Sie reiche von Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft niedrigerem Einkommen bis zu Unterrepräsentierung im öffentlichen Leben. Muslimische Bürgerinnen und Bürger seien in allen europäischen Staaten im Durchschnitt ärmer, stärker von Arbeitslosigkeit betroffen und unterproportional im öffentlichen Leben vertreten, zusätzlich zu dem schlechten Image, das mit ihrer kulturellen Identität assoziiert wird.
Wie transformieren sich diese Arten der kollektiven Kränkungen zu individuellen Kränkungen, und umgekehrt: warum werden individuelle Nachteile (anderer Gruppenmitglieder) als kollektive Nachteile wahrgenommen?
Man könnte argumentieren, dass fehlende gesellschaftliche Anerkennung der primären Identitätskomponenten (wie religiöser oder kultureller Identität) Individuen dazu bewegt, sich derer zugunsten angesehenerer Komponenten zu "entledigen". Solche Reaktionen wären allerdings entweder unaufrichtig oder würden eher auf strategischen Überlegungen basieren. Hinzu kommt, dass viele Individuen durch andere Gruppenmitglieder von nicht gruppenkonformen Verhaltensweisen abgehalten werden (Stichwort soziale Kontrolle). Oft zeigt sich, dass die Gemeinschaft, sobald ein Gruppenmitglied aufgrund eines "unangemessenen" Verhaltens eines anderen Gruppenmitglieds Nachteile erleidet, dafür sogt, dass das "fehlgeleitete" Mitglied in den "Schoß" der Gruppe zurückfindet. Dies gilt verstärkt in armen, aber kulturell homogenen Gemeinschaften, die in hohem Maße von Arbeitslosigkeit betroffen sind und in beengten Wohnverhältnissen in isolierten "Gettos" mit engem verwandtschaftlichem Zusammenhalt leben. In diesen sozialen Räumen spielt die Gruppenzugehörigkeit eine besondere Rolle, da die Gruppe als Schutzraum vor wahrgenommener Diskriminierung im öffentlichen Raum gilt.
Andererseits können auch Konflikttreiber (wie Demagogen oder Hassprediger) sich dieses kooperativen Verhaltens bestimmter Gemeinschaften bedienen, um kollektives Handeln zu erreichen: Durch den Verweis auf kollektive Kränkungen werden die Gruppenidentität und das Zusammengehörigkeitsgefühl gleichgesinnter Individuen gestärkt und die Mitglieder mobilisiert. Für radikal-islamistische Aktivisten spielt die innere Motivation, gegen die wahrgenommene Ungleichheit und Diskriminierung anderer Gruppenmitglieder vorgehen zu wollen, eine wesentliche Rolle, weshalb Täter extremer Gewaltakte nicht immer ungebildet und arm sind: Es ist nicht unbedingt persönliche Armut, die zur Mitgliedschaft in einer radikalen Gruppe führt, es kann auch die (subjektiv) wahrgenommene (ökonomische und kulturelle) Benachteiligung sein, welche die Gruppe insgesamt erfährt. Aus der Warte extremistischer Gewalttäter können daher Gewalthandlungen wie ein Selbstmordattentat rational sein, wenn das ausfhrende Individuum eine Alles-oder-Nichts-Entscheidung zwischen Solidarität und individueller Selbstbestimmtheit gefällt hat.
Zusammenspiel zwischen "Angst" und "Hass"
Auch die Existenz virulenter islamfeindlicher Botschaften erzieht nicht nur zur "Angst", sondern erzeugt auch "Hass" auf der Gegenseite. Denn nicht anders als benachteiligte Muslime, die von Konfliktmaklern indoktriniert und zu Aktionsgruppen zusammengefasst werden, einen tiefen Hass gegen den Westen empfinden mögen, versuchen bestimmte Politiker und politische Parteien im Westen, sich persönlichen Erfolg und Wählerstimmen dadurch zu sichern, dass sie "Angst" schüren, indem sie Gefahren predigen, die vom Islam insgesamt und von muslimischen Migranten im Besonderen ausgehen. Mit "Angst" ist hier das Unbehagen der Mehrheitsgesellschaften gemeint, welches sowohl Ursache als auch Folge von hetzerischen Botschaften in den öffentlichen und politischen Diskursen ist. "Hass" meint die Verhaltensweisen und Handlungen muslimischer Migranten, die von gewaltlosen Handlungen bis hin zu Terrorismus reichen können. So führte im Jahr 2001 zum Beispiel die Dänische Volkspartei (Dansk Folkeparti) ihren Wahlkampf mit einem Plakat, das eine junge blonde Frau mit dem Kommentar zeigte: "Wenn sie in den Ruhestand geht, werden wir eine mehrheitlich muslimische Nation sein." Die Partei konnte die Zahl ihrer Wählerstimmen um 70 Prozent verbessern. Im August 2007 versprach der Landeshauptmann von Kärnten Jörg Haider, den Bau von Moscheen und Minaretten in seinem Bundesland verbieten zu lassen; im September 2008 kam der österreichische Rechtspopulist bei den Nationalratswahlen auf 28 Prozent der Wählerstimmen. Die Anziehungskraft antimuslimischer politischer Parteien nimmt zu.
Der Erfolg solcher Parteien hängt von mindestens zwei Faktoren ab: dem Bedürfnis von Teilen der Mehrheitsgesellschaft nach Sündenböcken und ihren persönlichen Erfahrungen mit diesen Minderheitengruppen. Vor allem Personen, deren Arbeitsplätze schutzlos den Kräften der Globalisierung oder aus anderen Gründen ökonomischen Unsicherheiten ausgeliefert sind, sind besonders anfällig dafür, die Suche nach der "Wahrheit" zugunsten von hetzerischen Botschaften aufzugeben. Sobald der öffentliche Druck zunimmt, sehen sich auch staatliche und politische Akteure mit eher assimilatorischen Standpunkten zur muslimischen Einwanderung zum Handeln gezwungen. Dies geschieht oft in Form von legislativen Maßnahmen (Erschwerung des Familiennachzugs) oder in Gestalt einer integrationistischen Nationalisierungspolitik, die etwa die "kulturelle Befähigung" von Muslimen überprüfen lässt (Loyalitätstests als Nachweis einer demokratischen Grundhaltung).
Schlussfolgerungen
Eine politisierte kollektive Identität kann das konfliktträchtige Zusammenspiel von "Angst" und "Hass" erklären, welches das Aufkommen von islamischem Fundamentalismus in Westeuropa begünstigt. Hier wird die Verantwortung politischer Eliten deutlich, wenn es darum geht, übertriebener Ängstlichkeit vor dem Islam entgegenzutreten. Auch werden integrationspolitische Strategien, die auf "moderate Muslime" ausgerichtet sind, kaum geeignet sein, Radikalisierung zu beschränken, geschweige denn Terrorismus zu bekämpfen, solange für die Zielgruppen nicht gleichzeitig gleiche wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Chancen gewährleistet sind. Dies wiederum bedeutet, dass die für Muslime nach wie vor geltenden horizontalen (im Sinne kultureller) und vertikalen (im Sinne sozialer) Ungleichheiten beseitigt werden müssen.
Übersetzung aus dem Englischen von Georg Danckwerts, Krefeld.