Einleitung
Spätestens seit sich europaweit potenzielle terroristische Attentäter aus der zweiten und dritten Migrantengeneration muslimischen Glaubens und jungen Konvertiten rekrutieren, stellt sich die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen der Religion dieser Menschen und den daraus in europäischen Gesellschaften entstehenden Radikalisierungspotenzialen. Denn mit dem Aufkommen jihadistisch-motivierter terroristischer Gewalt ist das Risiko von Anschlägen mit hohen Opferzahlen und gravierenden Sachschäden stark gestiegen.
Außerweltlich orientierte Attentäter nehmen scheinbar weder auf ihre weltlichen Bezugsgruppen noch auf sich selbst Rücksicht - je verheerender der Anschlag, desto größer die vermeintliche Huldigung an den Gott, in dessen Namen der Anschlag verübt wird. Angesichts dieser Folgen von terroristischen Anschlägen hat sich der Kampf gegen den Terrorismus immer stärker ins Vorfeld der eigentlichen terroristischen Tat verlagert und richtet sich verstärkt auch gegen islamistische Strömungen, die terroristischer Gewalt als Rechtfertigungsgrundlage dienen.
Islamischer Aktivismus (Islamismus)
Mit "Islamismus" wird gemeinhin die aktive Werbung für islamische Glaubenssätze, Vorschriften, Gesetze oder Politikprogramme bezeichnet. Er wird meist mit islamischem Aktivismus oder radikalem Islam gleichgesetzt. Die folgende Typologisierung islamistischer Bewegungen und Organisationen entspricht der Definition der International Crisis Group (ICG).
Als politischer Islam werden islamisch geprägte politische Bewegungen kategorisiert, wie sie von den ägyptischen Muslimbrüdern und ihren Ablegern in Algerien, Jordanien, Kuwait, Palästina, Sudan und Syrien repräsentiert werden oder von nationalen Bewegungen wie der türkischen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (Adalet ve Kalknma Partisi, AKP) sowie der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (Parti pour la Justice at le Développement, PJD) in Marokko. Ihr Ziel ist es, politische Macht auf nationaler Ebene zu erlangen. Diese Bewegungen akzeptieren im Allgemeinen den Nationalstaat, operieren innerhalb seines konstitutionellen Rahmens, meiden Gewalt,
Als missionarischen Islamismus bezeichnet man die islamische Mission zur Bekehrung (al-Da'wa), die vornehmlich in zwei Varianten existiert: der stark strukturierten, aus Indien kommenden Tablighi-Bewegung und der sehr diffusen Salafiyya, die ihren Ursprung in Saudi Arabien hat und nun global aktiv ist, mit Präsenz im subsaharischen Afrika, in Südostasien und zunehmend auch in Europa. In beiden Fällen ist die Übernahme politischer Macht normalerweise ebenso wenig das Ziel wie die Organisation in Parteien. Der vorrangige Zweck dieser Bewegungen ist die Stärkung der muslimischen Identität, des islamischen Glaubens und der moralischen Ordnung des Islam gegen die Kräfte des Unglaubens. Die Missionierung erfolgt entweder durch Predigen (al-Da'wa) zur Stärkung und Revitalisierung des Glaubens (al-Iman) und der moralischen Ordnung oder durch den Zusammenhalt der Glaubensgemeinschaft (al-Umma).
Die dritte Variante, der jihadistische Islamismus, steht für den islamischen bewaffneten Kampf (al-Jihad),
Hervorzuheben ist, dass die politischen Strömungen (wie die Muslimbruderschaft oder die türkische AKP) die am wenigsten radikalen Gruppierungen darstellen. Sie gehen am weitesten in der Anerkennung demokratischer Normen und Prinzipien, die bisher als unislamisch gemieden wurden. Außerdem wird hier eine modernistische Haltung zum islamischen Recht eingenommen. Rein religiöse und missionarische Islamisten dagegen tendieren eher dazu, sich bei Konflikten sehr schnell zu radikalisieren. Da ihnen jegliche Erfahrung im politischen System und die Neigung zur politischen Teilhabe fehlt beziehungsweise verleidet wurde, entschließen sie sich auch eher für den bewaffneten Jihad.
Entstehungsgeschichte des Jihadismus
Der Jihadismus, die vom klassischen Jihad abzugrenzende Ideologie militanter Islamisten, speist sich aus unterschiedlichen Denkschulen und baut auf einer fragmentierten Wissensgrundlage auf. Der Rückgriff auf den Jihad als bewaffnete Verteidigung der islamischen Glaubensgemeinde war bereits ein wichtiges Charakteristikum des Widerstandes gegen die koloniale Eroberung. Seit dem Ende der kolonialen Ära lebte die Idee vom Jihad in einem komplexen Prozess, der sich aus vier Strängen speist, wieder auf:
Aufkommen einer doktrinären jihadistischen Tendenz in Ägypten in den 1970er und 1980er Jahren basierend auf dem radikalen Denken von Sayyid Qutb,
Mobilisierung jihadistischer Energien in der muslimischen Welt für den Krieg gegen die sowjetische militärische Präsenz in Afghanistan und das prosowjetische Regime in Kabul (1979-1989),
langwierige, aber erfolglose Aufstände gegen vermeintlich un-islamische Regime, insbesondere in Algerien (seit 1991) und Ägypten (bis 1997),
der von Al-Qaida in den späten 1990er Jahren ausgerufene Jihad gegen den Westen.
Während Qutbs Schriften eine Ausweitung des Jihad-Konzeptes nach innen in die Glaubensgemeinschaft darstellen,
Warum trifft dieses Denken in Europa auf fruchtbaren Boden?
Im islamistischen Narrativ finden gerade Muslime und junge Konvertiten in der Diaspora Anknüpfungspunkte für kollektive Identitätszuschreibungen. Das Mitgefühl mit Glaubensbrüdern etwa in Bosnien, Palästina oder Tschetschenien vermischt sich mit eigenen Demütigungs- und Opfererfahrungen, die "dem Westen" angelastet werden; der junge "Beur" maghrebinischer Herkunft in Frankreich oder der "Paki" in Großbritannien identifiziert sich mit dem palästinensischen "Chebab", der - wie in den elektronischen Medien gezeigt - von der israelischen Armee "gedemütigt" wird.
An der Vielfalt der Herkunftshintergründe und der Persönlichkeitsmuster radikaler Jihadisten wird auch das große integrative Potenzial des engeren Jihad-Narrativs deutlich.
Im jugendlichen Eifer ist es nicht untypisch, sich für Ideale und gegen vermeintliches Unrecht in der Welt zu engagieren. Den gesamten, mehrstufigen Radikalisierungsprozess bis hin zur Bereitschaft zu töten (und zu sterben) durchlaufen aber nur sehr wenige.
die Ausprägung der islamistischen Bewegung und konflikthafte Entwicklungen am Referenzort kollektiver Identität (im Heimatland, in bestimmten Zielgebieten oder in der globalen Umma),
die Situation im Land des gegenwärtigen Aufenthalts (wie die Migrationssituation, fehlende Integration, Diskriminierung und die Rolle der Religion in der Diaspora),
eine psychologisch-individuelle Vulnerabilität, sei es eine persönliche Krisensituation, die Individuen empfänglich macht für radikales Gedankengut, sei es die Einbindung über Primärkontakte in radikale Netzwerke.
Obwohl in den vergangenen Jahren immer öfter von Selbstradikalisierung die Rede ist, und der erste Impuls hin zur Rekrutierung in terroristische Netzwerke von den Rekruten selbst ausgeht, gibt es doch Strukturen, wie sogenannte gatekeeper (oftmals ehemalige Kämpfer), radikale Prediger und Propaganda im Internet, die als Pull-Faktoren anfällige Personen in Richtung gewaltsamer Radikalisierung führen können. Erst wenn beides zusammenkommt, oft in einer sogenannten kognitiven Öffnung,
Je stärker sich junge Muslime in Deutschland mit der globalen Umma statt mit dem Herkunftsland ihrer Eltern oder mit Deutschland identifizieren, desto offener werden sie für islamistische Strömungen aller Art. Da selbst Jihadisten ihre Botschaften in allgemeingültige religiöse Frames einbetten, scheint für das Gutheißen von Gewalt kein grundlegender Bruch mit der Religion notwendig zu sein. Derzeit findet an den Rändern der islamischen Welt und in der europäischen Diaspora eine Expansion der Salafiyya-Bewegung statt. Diese lässt sich schwer trennen von ihrer gewaltbereiten Abspaltung, der jihadistischen Salafiyya (al-Salafiyya al-jihadiyya), die gerade auf die Fantasie junger und zunehmend mobiler, wenn nicht völlig deterritorialisierter Teile der jungen muslimischen Bevölkerung große Faszination ausübt.
Internationale Konflikte, in denen westliche Streitkräfte muslimischen Kämpfern gegenüberstehen, produzieren Bilder und Mythen für eine selbst-perpetuierende Rechtfertigung des Jihad. In einer globalisierten Medienwelt wird die so erzeugte Anschlussfähigkeit des Jihadismus mehr als alles andere zur Radikalisierung von Menschen weltweit beitragen, die Glauben und Halt in einem radikalen Narrativ suchen - seien diese in Europa oder sonst wo auf der Welt.