Einleitung
Der französische Populismus- und Rechtsextremismusforscher Pierre-André Taguieff hat in den 1980er Jahren für den bis dahin als rechtsextrem geltenden französischen Front National (FN) die Bezeichnung "nationalpopulistisch" eingeführt, ohne dass dieser einen substanziellen Richtungswechsel vorgenommen hatte. Der FN ergriff rasch dieses Unbedenklichkeitsattest, das seine Nähe zum Vichy-Regime und die Leugnung des Holocaust durch prominente Mitglieder ausblendete und bezeichnet sich seit den 1990er Jahren selbst als "populistisch und stolz darauf".
Auch die Einführung des Begriffs Ethnopluralismus wirkte modernisierend. Er zielt nicht mehr wie der Kolonialrassismus auf die Unterwerfung fremder Ethnien, sondern auf deren Ausschluss aus Europa. Der biologische Rassismus gilt als überholt und wird durch die These von der unhintergehbaren Differenz von Ethnien ersetzt, die in einer globalen Apartheid separiert bleiben sollen.
Zur Terminologie
Michael Kohlstruck unterscheidet zwischen Anti-System- und Anti-Establishment-Parteien. Rechtsextreme Parteien sind Anti-Systemparteien, populistische dagegen "nur" Anti-Establishment-Parteien, die sich als Gegenstimme zu einer als Oligarchie bezeichneten politischen Elite verstehen. "Gegenstimmen setzen keine eigenständige weltanschauliche Konzeption (...) voraus, sie kanalisieren lediglich ein verbreitetes Unbehagen."
Der Unterschied zwischen RE und Rechtspopulismus liegt vor allem auf ideologischem Gebiet: RE vertritt eine holistische Ideologie, in deren Zentrum die ethnisch-kulturell homogene Volksgemeinschaft steht. Daraus folgt eine antipluralistische, antiliberale Staats- und Gesellschaftskonzeption, die unterhalb dieser Ebene Spielraum für verschiedene Richtungen lässt, für völkische nationalsozialistische Traditionalisten, Deutschnationale beziehungsweise die "klassische" Rechte in anderen Ländern und Nationalrevolutionäre.
die soziale Unterschichtung des RE seit den 1990er Jahren,
die Transnationalisierungskonzepte der extremen Rechten,
ihre zunehmende Vernetzung auf Parteien- und Bewegungsebene.
Soziale Frage und "nationale Präferenz"
Seit den 1960er Jahren, mit Verspätung in Italien und Frankreich, profitiert der RE vom class dealignment, der Entkoppelung von sozialer Lage und Wählerverhalten, und dringt auch in ehemals linke Wählerschichten ein. Zu Beginn der 1990er Jahre gesellten sich im Zuge von Globalisierung, Deregulierung und Neoliberalismus zum "tüchtigen und fleißigen" Mittelstand als ursprünglicher Basis des RE die "kleinen Leute" und die "soziale Frage" wurde akut.
Deutschland:
Im NPD-Aktionsprogramm heißt es: "Globalisierung bedeutet Arbeitslosigkeit, Lohndumping, Sozialabbau, Naturzerstörung und Krankheit."
Frankreich:
Für den FN spricht die Wahlforscherin Nonna Mayer vom "Arbeiterklassenlepenismus" (ouvriéro-lepenisme), zeigt aber, dass die Präsidentschaftswahlen von 2002 dem FN zwar Stimmengewinne bei Arbeitern im privaten Sektor, zugleich aber auch bei mittelständischen Unternehmern, vor allem aber bei Bauern, hier um mehr als das Doppelte, gebracht haben. Als schicht- und klassenübergreifende Partei mobilisiert der FN sozial heterogene, aber unterdurchschnittlich gebildete Wähler mit dem Leitthema der Immigration. Nachdem der FN 1997 mit 14,95 Prozent zur drittstärksten Partei aufgestiegen war, erlitt er bei den Parlamentswahlen von 2007 einen Rückgang auf nur noch 4,5 Prozent und erodiert zunehmend durch Abspaltungen. Die strategische Ausrichtung auf eine reine Anti-Immigrations-Partei stößt an ihre Grenzen. Daher spricht Le Pen inzwischen auch Menschen mit Migrationshintergrund als potentielle FN-Wähler an: In einer Rede in Valmy am 20. September 2006 sprach er nicht mehr nur "autochthone" Franzosen (français de souche) an, sondern auch solche mit Migrationshintergrund. Im Politbüro und im Zentralkomitee des FN sind zwei schwarze Franzosen und ein arabischstämmiger vertreten.
Großbritannien:
Hier findet die BNP die meisten Anhänger in deindustrialisierten Industriegebieten und in "weißen", von multiethnischen Vierteln umgebenen Enklaven. Oft handelt es sich um enttäuschte ehemalige Labour-Wähler.
In Italien
sind weniger rechtsextreme Kleinstparteien
Ungarn:
In Ostmitteleuropa ist der ungarische RE am dynamischsten. Die 2002 gegründete rechtsextreme Partei Jobbik (Bewegung für ein besseres Ungarn) profitiert nicht nur von den durch Liberalisierung, Privatisierung und Sozialkürzungen ausgelösten sozialen Verwerfungen, sondern hält auch das Trauma der Gebietsverluste Ungarns nach dem Ersten Weltkrieg wach. Bei den Parlamentswahlen im April 2010 stieg sie mit 16,7 Prozent zur drittstärksten Partei auf. Sie rekrutiert ihre Anhänger unter Facharbeitern und Studenten sowie in ökonomisch benachteiligten Provinzen. Mit ihrem paramilitärischen Arm, der Neuen Ungarischen Garde, schürt sie virulenten Antisemitismus und Antiziganismus. Das Ziel der Wiederherstellung Großungarns in den Grenzen von 1915 teilt sie mit dem Sieger der Parlamentswahlen, dem nationalkonservativen Viktor Orbán, mit dessen Partei Fidesz sie bereits seit längerem auf kommunaler Ebene zusammenarbeitet.
Der ostmitteleuropäische RE unterscheidet sich vom westlichen in mehrfacher Hinsicht:
in dem vor allem von der ungarischen, rumänischen und polnischen extremen Rechten forcierten Irredentismus vor dem Hintergrund der späten Nationalstaatsbildung dieser Länder;
in der größeren Akzeptanz des RE in der Intelligenz, insbesondere bei Studenten;
in der fehlenden Abgrenzung der bürgerlichen Parteien von nationalistischen und minderheitsfeindlichen Tendenzen. Die extreme Rechte "orientiert sich in Mittel- und Osteuropa ideologisch mehr an der Vergangenheit als ihr westliches Gegenüber".
Transnationalisierungskonzepte der extremen Rechten
Auch ultranationalistische Parteien haben immer schon internationale Kooperation gesucht. Erinnert sei nur an den Antikominternpakt zwischen Berlin und Tokio, und später auch Rom, an die Versuche, den italienischen Faschismus als paneuropäisches Entwicklungsmodell zu universalisieren, an die international zusammengesetzte Waffen-SS als Vorkämpferin für ein vereintes Großeuropa, an den in den 1940er Jahren von dem britischen Faschistenführer Sir Oswald Mosley propagierten Eurofaschismus oder an das von der italienischen neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) initiierte, bereits 1951 in Schweden gegründete paneuropäische Netzwerk "Europäische Soziale Bewegung". Perspektivisch stehen sich im RE drei Richtungen gegenüber: die nationalstaatliche, die neoimperiale und die regionalistische.
Für ein "Europa der Nationen" tritt vor allem der FN ein. 2006 erklärte Le Pen: "Sarkozy ist der Lakai des Atlantismus und des Empire, während ich die kleinen, souveränen Nationen verteidige."
Dagegen tritt das neoimperiale "Nation Europa"-Konzept für einen europäischen Großraum mit der Achse Paris-Berlin-Moskau ein. Karl Richter, Leiter des parlamentarischen Beratungsdienstes der NPD-Landtagsfraktion in Sachsen und seit 2009 stellvertretender Bundesvorsitzender der NPD, forderte 1992: "Die Zeit ist reif für eine grundlegende Umorientierung der europäischen Völker - weg vom raumfremden, überstaatlichen Weltpolizisten, hin zu einer neuen kontinentalen Großraumordnung, die europäischen Interessen endlich Vorrang einräumt und Europa wieder in den Rang einer souverän handelnden Größe erhebt."
Ab 2000 rückte Jörg Haider mit dem dritten, dem regionalistischen Modell, in den Vordergrund, dessen FPÖ, wie auch die Lega Nord, für ein föderal strukturiertes Europa der Ethnoregionen plädiert. Dieses Konzept setzt auf die regionale, kulturelle und sprachliche Segmentierung nach Zugehörigkeit zu Volksgruppen oder Landsmannschaften, blieb aber in seiner Reichweite begrenzt. Haiders Nachfolger Heinz-Christian Strache vertritt wieder das Modell souveräner, gegen die EU gerichteter Nationen.
Seit dem Einzug rechtsextremer Abgeordneter in das europäische Parlament Mitte der 1980er Jahre gibt es auch hier Bestrebungen zu transnationaler Zusammenarbeit. Im Oktober 2005 trat die Euronat
Vernetzungen des Rechtsextremismus
Während der europäische RE auf Parteienebene gut untersucht ist, bestehen Forschungsdefizite hinsichtlich seiner Vernetzung außerhalb von Parteien.
Auf die rechtsextreme Bewegungsszene außerhalb der Parteien, die groupuscular right (Roger Griffin), kann hier nur kursorisch eingegangen werden. International vernetzt sind Gruppen wie Blood & Honour und ihr bewaffneter Arm Combat 18 sowie die Musikszene von Rechtsrock, National Socialist Black Metal (NSBM) bis Dark Wave.
2005 formulierte der Neonazi-Aktivist Christian Worch in Anlehnung an die US-amerikanische Militärdoktrin: "Kommunikation und Vernetzung traten an die Stelle früherer organisatorischer Strukturen und erweisen sich sogar als funktionsfähiger. (...) Die Revolution findet von unten nach oben statt."
Libertarier, Rechtspopulisten, Rechtsextreme: fließende Grenzen
RE spricht unterdurchschnittlich formal gebildete Schichten an, mit denen sich das Bürgertum nicht gemein macht. Anti-Establishment-Protest artikuliert sich hier als Kampf für einen staatsfreien Kapitalismus. In den USA formiert sich dieser minimalstaatliche Libertarismus in der Tea Party, die auch rechtsextreme Splittergruppen wie Milizen, Patriot-Gruppen oder weiße Suprematisten anzieht.
In Deutschland findet er ein Forum in der Zeitschrift "eigentümlich frei", die sich als "Marktplatz für Liberalismus, Anarchismus und Kapitalismus" versteht. Ihre ideologischen Leitfiguren sind Murray Rothbard und die Philosophin Ayn Rand, die Eigennutz und Egoismus moralphilosophisch als Tugenden legitimiert. Ziel ist die staatlich ungehinderte Nutzenmaximierung neuer "Leistungsträger" in Finanz-, Marketing-, Management- und Akademikerkreisen oder im PR- und IT-Bereich. Das Grundübel sehen sie im "Sozialdemokratismus", von dem auch die CDU unter dem Vorsitz von Angela Merkel befallen sei. Libertarier sind gegen die von den Grünen geschürte "öko-alarmistische Klimaangst", gegen Feminismus und "Genderterror", gegen die "gutmenschlich" auftretenden Kirchen, gegen die "Diktatur der political correctness",
Perspektiven des Rechtsextremismus
RE ist in Westeuropa auf Parteienebene marginalisiert. Ein Ausbruch aus dieser Lage kann derzeit nur über eine Annäherung an den Rechtspopulismus erfolgen. 2006 schrieb der Nationalrevolutionär Jürgen Schwab, bis 2004 NPD-Mitglied, auf Altermedia: "Seit geraumer Zeit ist in mir die Überzeugung gereift, dass ein Teil der Völkischen strukturell pro-westlich ist."
Der RE steht damit vor einem Dilemma. Schließt er sich diesem Feindbild an, um über die Islamophobie neue Protestwähler zu mobilisieren, gibt er seine Identität als antiwestliches Bollwerk des "nationalen Widerstands" auf und nähert sich dem prowestlichen Rechtspopulismus an. Eine Gefahr geht in Westeuropa nicht vom RE per se aus, sondern von seiner Ligatur mit dem Rechtspopulismus. Dabei zeigt sich, dass der liberale Impetus eines Pim Fortuyn (Abwehr der "Islamisierung" im Namen des aufgeklärten, toleranten Westens) bei der FPÖ einer christlichen "Abendlandrhetorik" gewichen ist,