Einleitung
Das Bild neonazistischer Demonstrationen hat sich in den vergangenen acht Jahren gewandelt. Auf den ersten Blick erinnert wenig an das in der Vergangenheit für dieses Spektrum stilbildende Auftreten. Schwarz vermummt drängen sich Jugendliche hinter bunten Transparenten, anstelle von Frakturschrift und Runen treten zeitgemäße Gestaltungsformen mit bekannten Comicfiguren. Verwendete Slogans wie "Capitalism kills" oder "Gegen Krieg und Kapitalismus" werden in der Regel eher mit der politischen Linken assoziiert. "Autonome Nationalisten" (AN) nennen sich diese jugendlichen Neonazis, die sich nicht nur mit ihrer Selbstbezeichnung, sondern vor allem in ihren stilistischen und ästhetischen Praxen wie ihren Aktionsformen an den linken Autonomen orientieren.
AN sind eine Subform der sogenannten "Freien Kameradschaften" oder auch "Freien Nationalisten". Diese entstanden Mitte der 1990er Jahre in Reaktion auf die Verbote zahlreicher extrem rechter Organisationen. Während sich ein Teil der Neonazis in der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) sammelte, wandten sich viele von den traditionellen Strukturen der bislang vor allem in Parteien und parteiähnlichen Vereinigungen organisierten Szene ab. Stattdessen organisierte man sich in kleinen, lose strukturierten Gruppen auf lokaler Ebene, den Kameradschaften. Diese unabhängigen Gruppen vernetzen sich häufig regional in Aktionsbüros oder Aktionsbündnissen. Angelehnt an die Organisationsstruktur der radikalen Linken zielen sie darauf ab, für staatliche Repression weniger angreifbar zu sein. Trotz einer regional unterschiedlich stark ausgeprägten Zusammenarbeit mit der NPD bestehen die mehr als 120 Kameradschaften auf ihrer Eigenständigkeit.
Die neuen Strukturen eröffneten der Szene Möglichkeiten, neue Personenkreise für den Neonationalsozialismus zu gewinnen - speziell Jugendliche, die von den für Parteien typischen Regularien eher abgeschreckt werden. Zeitgleich entwickelte sich eine insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern stark ausgeprägte extrem rechte Jugendkultur, welche sich ausdifferenzierte und sich heute auch der Codes anderer Jugendkulturen als jener der Skinheads bedient.
Genese der "Autonomen Nationalisten"
Hatte sich das zuvor recht überschaubare optische Erscheinungsbild durch diese Entwicklung bereits diversifiziert, so waren es im Jahr 2002 Neonazis aus dem Berliner Kameradschaftsspektrum, die sich nicht nur in ihrem Äußeren verstärkt an der radikalen Linken orientierten, sondern auch mit der provokativen Selbstbezeichnung als "Autonome Nationalisten" Bezug nahmen auf die Autonomen und deren militantes Selbstverständnis. Einerseits frustriert von den eingefahrenen Ausdrucksformen der neonazistischen Szene und deren kultureller Limitierung, andererseits fasziniert von der jugendkulturell wesentlich zeitgemäßeren Ästhetik, aber auch den Aktionsformen der linksradikalen Szene vor Ort, begannen Neonazis, vor allem aus dem Umfeld der Kameradschaft Tor, sich Stilelemente des politischen Gegners anzueignen. Hierin liegt das eigentliche Novum, war doch der Vorbildcharakter der Autonomen hinsichtlich ihrer Organisationsstrukturen und ihrer Aktionsformen bereits Mitte der 1990er Jahre von führenden Köpfen der neonazistischen Szene diskutiert worden. In expliziter Ablehnung der von ihnen als reformistisch verachteten NPD griffen zunächst jüngere Neonazis aus Nordrhein-Westfalen den neuen Ansatz auf und bezeichneten sich ebenfalls als "Autonome Nationalisten".
Nur die wenigsten Gruppen der AN lassen sich schon durch ihre Eigenbezeichnung diesem Flügel des Neonazismus zurechnen. Entsprechend schwierig gestaltet sich eine zuverlässige Einschätzung des Personenpotenzials. Das Bundesministerium des Innern schätzt die Gesamtzahl organisierter Neonazis auf 5000,
Selbstverständnis
Das Selbstverständnis der "Autonomen Nationalisten" ist gekennzeichnet durch eine spezifische Kombination von rebellischer Attitüde und revolutionärem Pathos. Leitlinien wie "Revolutionär - statt Reaktionär"
Stattdessen bedient man sich gezielt einer Enteignung und Adaption von Symbolik und Aktionsformen der radikalen Linken. Die Nutzung der Selbstbezeichnung als Autonome geht einher mit einem Prozess des Kopierens und des extrem rechten Rekodierens von Ausdrucksformen der linksradikalen Autonomen. In der politischen Praxis findet diese Selbstinszenierung ihren Ausdruck beispielsweise in Transparenten, die an Stelle von Runen und Frakturschrift Slogans setzen wie "Ya basta! Es reicht!". Galten Gegenwart und Zeitgeist in der neonazistischen Szene zuvor als dekadent, individualistisch und eine Orientierung an eben diesen als absoluter Gegensatz zur angestrebten Volksgemeinschaft nach historischem NS-Vorbild, so brachen die AN mit dieser Tradition kultureller Limitierung und erklärten, ihnen sei zur Erreichung der eigenen politischen Ziele jedes Mittel recht. Während NPD und klassische Kameradschaften sich als wahre Vertreter eines imaginierten Volkswillens verstehen, sich als diejenigen sehen, die den Unmut einer schweigenden Mehrheit verkörperten und auf die Straße trügen, sind die Aktivitäten der AN häufig von einem antibürgerlichen und provokativen Habitus geprägt.
Ideologie
Allen ästhetischen und semantischen Anleihen aus der radikalen Linken zum Trotz ist diese Abgrenzung nicht ideologischer Natur, wie "Autonome Nationalisten" angesichts andauernder Kritik aus den eigenen Reihen nicht müde werden zu betonen. Es handele sich lediglich um eine Aktionsform, die sich in den vergangenen Jahren entwickelt habe, nicht jedoch um eine eigene Weltanschauung: "Der Autonome Nationalismus bezeichnet eine Agitationsform, welche sich die letzten Jahre innerhalb der nationalen Bewegung entwickelt hat. Eine eigene Weltanschauung o.Ä. ist mit AN nicht gemeint."
Die im Mittelpunkt stehende Adaption von Ausdrucksformen der Linken korrespondiert dabei nicht mit einer ideologischen Flexibilisierung. Zwar bedienen sich die AN mit Transparentaufschriften wie "Kapitalismus abschaffen" oder "Freiheit für alle - aus dem System ausbrechen" semantischer Anleihen beim politischen Gegner. Tatsächlich versuchen sie, Deutungskämpfe um politische Themenfelder zu führen, die traditionell von der Linken besetzt sind. Kern ihrer Agitation sind mit völkischem Antikapitalismus und Antisemitismus zentrale Ideologieelemente des Nationalsozialismus, welche die AN mit Blick auf gegenwärtige Feindbilder und Ressentiments zu aktualisieren suchen, um sich auf diese Weise neue Zielgruppen zu erschließen. Inhaltlich handelt es sich nicht um eine Modernisierung, sondern um eine Aktualisierung von - im Kern unveränderten - ideologischen Deutungsangeboten. Außerdem verfolgen die AN mit den gewandelten Darstellungsformen eine Strategie der Dekontextualisierung, indem sie in der Vermittlung ihrer politischen Ziele gezielt versuchen, diese von ihren historischen und ideologischen Zusammenhängen zu entkoppeln.
Adaption der Ästhetik
Die Modernisierung extrem rechter Agitation durch die AN ist daher vor allem eine stilistische und ästhetische Neuerung. Durch die AN erfuhr die kulturelle Limitierung eine Entgrenzung: "Es gab damals (...) gewisse Zwänge. (...) Als Nazi hat man sich so und so zu kleiden, man hat das und das zu essen, man hat die und die Musik zu hören. Und, das war bei diesem AN-Konzept halt eben nicht so. Man konnte sich anziehen, wie man wollte, man konnte essen was man will, man konnte Musik hören, was man möchte und musste nur diese Ideologie propagieren. (...) Also man konnte leben wie man will, man konnte alternativ, cool, locker irgendwie leben und gleichzeitig Nazi sein", erklärt ein ehemaliger Neonazi.
Auch in ihrer Zeichensprache und Symbolik orientieren sich die AN an moderner Popkultur wie auch dem politischen Gegner. Während die Versuche, das Bild des nationalsozialistischen Soldaten in die Gegenwart zu übertragen, in der Vergangenheit häufig altbacken wirkten, wollen die AN die Jugendlichen dort abholen, wo sie stehen: "Das heißt, dass wir uns dafür einsetzen alle relevanten Teile der Jugend und der Gesellschaft zu unterwandern und für unsere Zwecke zu instrumentalisieren. (...) Ultrakonservatives Gerede können wir nicht mehr hören."
Die häufig bis ins Detail gehende Übernahme der Symbolik der linken Autonomen zeigt, dass es sich nicht um reine Anpassung an den Zeitgeist handelt. Anfänglich vor allem als Provokation gedacht, werden Symboliken und Insignien des politischen Gegners aus ihrem ursprünglichen politischen Kontext gerissen beziehungsweise auf einzelne Aspekte reduziert, um diese in neonazistischem Zusammenhang nutzbar zu machen und neu zu besetzen. Gezielt versucht man auf diese Weise insbesondere junge Menschen für die rechte Szene zu interessieren, die sich unabhängig von den politischen Inhalten durch Ästhetik und Codes der Linken angezogen fühlen: "Diese 'Autonomen' kopieren den Stil und die Aufmachung der linken Strukturen und von linken bisher agitierten Jugendkulturen, dabei werden die bekannten Symbole und Outfits mit unseren Inhalten besetzt und in unserem Sinne interpretiert. (...) Mittels dieses Auftretens besteht die Möglichkeit sozusagen unerkannt, da dem bekannten Bild des 'Faschisten' entgegen laufend, in die bisher von gegnerischen Lagern beherrschten Gebiete vorzudringen, politisch und kulturell. Graffitis sprühen, unangepasst und 'hip' sein können nicht nur die Antifatzkes, sondern auch wir, damit erreichen wir ein Klientel welches uns bis dato verschlossen geblieben ist."
Aktionsformen
Die AN propagieren eine strikt antiparlamentarische Politik: "Wir glauben nicht daran, dass Wahlen etwas verändern können und geben uns nicht der Illusion hin, auf demokratischem Wege Veränderungen zu erreichen. Die neue Revolution muss auf der Straße stattfinden", erklärt beispielsweise die "Aktionsgruppe Rheinland".
Ihre Aktivitäten sind von der für die AN typische Widersprüchlichkeit gekennzeichnet. Einerseits dienen sie vor allem dem Ziel, in Konkurrenz zum politischen Gegner den öffentlichen Raum zu besetzen oder sich gegenüber der Staatsmacht zu behaupten. Die Erfolge eigener Aktionen werden dementsprechend häufig an Existenz und Dynamik der Reaktionen seitens der radikalen Linken oder der Polizei gemessen. Im Mittelpunkt stehen zumeist nicht politische Inhalte und deren Vermittlung, sondern die Selbstinszenierung als dynamisch, rebellisch und militant. Andererseits versucht man mancherorts, sich auf lokaler Ebene bürgerlich zu geben und realpolitisch zu agieren, was dazu führt, dass beispielsweise mit den eigenen Graffitiparolen geprahlt und gleichzeitig saubere und ordentliche Innenstädte gefordert werden.
Insbesondere der Charakter vieler extrem rechter Demonstrationen hat sich durch die AN verändert: Schwarz gekleidet, mit Sonnenbrillen, Handschuhen und anderen Accessoires erscheinen die Neonazis zwar noch stärker uniformiert, als dies in der Vergangenheit der Fall war, aber mit einem ordentlichen, disziplinierten Aufzug haben ihre schwarzen Blöcke nur wenig gemein. Gerade die von der Linken adaptierte Aktionsform des Schwarzens Blocks prägt das Selbstverständnis der AN ebenso wie ihre Außenwahrnehmung durch die Öffentlichkeit. Durch die generell hohe Anzahl neonazistischer Demonstrationen hatten diese zuvor zumeist wenig spektakulären Veranstaltungen gerade für jugendliche Neonazis an Attraktivität verloren. Bei ihnen haben häufig subjektive Erfolgsergebnisse Vorrang vor der Vermittlung politischer Inhalte. Durch das rebellische Auftreten der "Autonomen Nationalisten" und die offensiv propagierten Auseinandersetzungen mit der Polizei und den Gegendemonstranten haben die Demonstrationen jedoch einen Erlebnischarakter erhalten, der das Mobilisierungspotenzial unter jungen Neonazis vergrößert.
Gewalt
Die extreme Rechte betrachtet Kampf beziehungsweise Krieg ihrer sozialdarwinistischen Ideologie entsprechend als ontologische Seinskategorie.
Neuer Stil
Die unterschiedlichen Spektren der extremen Rechten lassen sich unter anderem durch die Akzentsetzungen in der Stil- und Symbolpolitik differenzieren. Die "Autonomen Nationalisten" und die für sie konstitutive "Stilbastelei" sind daher nicht nur Ausdruck einer Suchbewegung, sondern ebenso von Distinktionskämpfen.
Durch das zeitweilige anything goes postmoderner Beliebigkeit der AN eröffnete sich im deutschen Neonazismus ein Experimentierfeld, aus dem sich in Abgrenzung von dem bisherigen Auftreten der eigenen Szene, in Orientierung am Zeitgeist und nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner ein neuer Stil ausgebildet hat. Dieser kann verstanden werden als ein eigenständiges Sinnkonzept, zu dem Kleidung, Symbolik und Habitus ebenso zählen wie die spezifische Art und Weise, in der kulturelle und politische Inhalte aufgenommen, interpretiert und ausgedrückt werden.
Die "Stilbastelei" der AN ist dabei nicht so ungewöhnlich, wie sie vielleicht auf den ersten Blick anmutet. Die Genese neuer kultureller Stile basiert grundsätzlich auf einer differenzierenden Selektion aus der Matrix des Bestehenden: Stile werden nicht aus dem Nichts geschaffen, sondern durch Transformation und Umgruppierung des Bestehenden in ein Muster, durch welches mit ihm eine neue Bedeutung verbunden wird.
Rollback
Die Adaption linker Symbolik durch die AN und insbesondere ihr militantes Auftreten haben von Beginn an zu Konflikten sowohl mit der NPD als auch mit Teilen des Kameradschaftsspektrums geführt. Als sich die NPD im Jahr 2007 im Sinne einer taktischen Zivilisierung von dem Gebaren der AN distanzierte, solidarisierte sich der Großteil der Kameradschaften mit diesen, woraufhin die Partei - in vielen Regionen angewiesen auf die Unterstützung aus diesem Spektrum - zurückrudern musste. In der Folgezeit hat die von den AN geprägte Ästhetik weit über deren Spektrum hinaus Verbreitung gefunden. Gleichzeitig entwickelte sich unter den AN ab 2008 eine intensive Diskussion über die eigene Praxis, in der deutlich selbstkritische Töne laut wurden: Leider sei die Agitations- und Aktionsform der AN von manchen Neonazis als neue ideologische Ausrichtung, von anderen als vom Aussehen bestimmte Subkultur missverstanden worden. Es fehle teilweise völlig die theoretische Fundierung, stattdessen dominierten Lifestyle und blinder Aktionismus.
War die Aufregung nach der Erklärung der NPD noch groß gewesen, so hat man - auch unter Einfluss des medienwirksamen Ausstiegs mehrerer "Autonomer Nationalisten" aus der neonazistischen Szene - offenbar erkannt, dass sich postmoderne Beliebigkeit und hedonistische Selbstverwirklichung nur schwerlich mit dem Beharren auf einer nationalsozialistischen Identität des Einzelnen und dem gemeinsamen Streben nach einem völkischen Autoritätsstaat vereinbaren lassen. Anstatt allein möglichst anziehend auf Jugendliche zu wirken, sei eine Rückbesinnung auf völkische Werte und Traditionen notwendig.
Tatsächlich lässt sich auch in der politischen Praxis ein Wandel ausmachen: Für eine Demonstration in Recklinghausen im Jahr 2009 verbaten sich die organisierenden AN aus NRW englischsprachige Parolen und forderten ein "ordentliches" Erscheinungsbild, schließlich repräsentiere man immer noch ein Volk, samt Kultur und Identität und keine neuzeitlichen Subkulturen.
Kurzum
Die "Autonomen Nationalisten" sind eine ästhetisch-stilistische und strategisch-aktionistische Neuerung im deutschen Neonazismus, die dessen Auftreten insgesamt modernisiert hat. Durch eine Adaption ikonografischer Formen der linksradikalen Autonomen, der Entwendung von Codes und Handlungsritualen und deren extrem rechter Rekodierung ist es gelungen, das jugendkulturelle Identitätsangebot der extremen Rechten zu erweitern und insbesondere bei Demonstrationen einen neuartigen Erlebnischarakter zu gewährleisten.
Es findet seitens der AN keine Abkehr von zentralen NS-Ideologieelementen statt, sondern man beschränkt sich darauf, diese mit Blick auf gegenwärtige Feindbilder und Ressentiments zu aktualisieren, um sich neue Zielgruppen zu erschließen. Gleichzeitig bedienen sie sich des rebellischen Habitus linker Jugendkultur als Projektionsfläche für ihre politischen Ziele. Extremismustheoretische Gleichsetzungen der AN mit linksradikalen autonomen Szenen sind daher unhaltbar, blenden sie doch in ihrer Oberflächlichkeit nicht nur deren grundlegende ideologische Verschiedenheit, sondern auch die Widersprüchlichkeit zwischen offen zur Schau getragener postmoderner Lebensstilpluralisierung und proklamierter völkischer Vergemeinschaftung der AN aus.
Während einerseits bestimmte Stilelemente der AN wie Kleidung oder Transparentgestaltung gegenwärtig in der gesamten neonazistischen Szene Anwendung finden, kann andererseits in Teilen eine Rückbesinnung auf tradierte Ausdrucksformen festgestellt werden. Che-Guevara-T-Shirts etwa finden sich kaum noch, auch manche Webseiten bedienen sich wieder eher ästhetischer Elemente aus dem NS als jener der Popkultur. Insgesamt ist daher wieder eine stärkere Verzahnung des neonazistischen Spektrums zu beobachten.