Einleitung
Unmittelbar nach dem Passus über Zuverlässigkeitsüberprüfungen von Privatpiloten erklären die Regierungsparteien im aktuellen Koalitionsvertrag, sie wollten gewalttätige und extremistische Formen der politischen Auseinandersetzung nicht hinnehmen und "Extremismen jeder Art, seien es Links- oder Rechtsextremismus, Antisemitismus oder Islamismus", entgegentreten, um die "Grundwerte der pluralen Gesellschaft, insbesondere die freie Entfaltung der Person, Meinungs-, Presse-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit" als konstitutive Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung "zu schützen und zu verteidigen".
Kann dieser Begriff deshalb tabuisiert werden - oder ist er nicht doch entbehrlich? Offensichtlich ist Extremismus im politischen Kontext ein eindeutig interessengeleiteter Begriff zur Auseinandersetzung mit diversen politischen Phänomenen. Ist er das als sozialwissenschaftlicher Begriff auch? Ist politischer Extremismus als Schnittmenge aller Extremismen die Grundlage dafür, eine Identität von sogenannten linken und rechten Extremismen zu behaupten? Politisch motivierte Gewaltausübung gegen Sachen wie gegen Personen kann nicht akzeptiert werden. Was jedoch haben sowohl polemische bis abfällige Äußerungen über die Verfassung als auch gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Anhängern verschiedener politischer Richtungen mit der Gefährdung der Demokratie zu tun? Werden dadurch nicht strafrechtlich zu verfolgende Taten zu politischen aufgewertet und damit das Selbstverständnis der jeweiligen Akteure bedient?
Extremismusbegriff
Extremismus geht auf "extremus" und "extremitas" zurück. Ersteres bedeutet äußerst, entferntest, aber auch der ärgste, gefährlichste; letzteres bedeutet der äußerste Punkt, Rand. Eine Position gilt als umso extremer, je weiter entfernt sie von einer - ideellen - Mitte ist. In jeder Gesellschaft gibt es individuelle extreme Positionen, doch als politisch extremistisch gelten im politischen Kontext solche, die sich - als politische Strömungen - an den Rändern des politischen Spektrums befinden oder sich in diese Richtung bewegen.
Zwar ordnen bei Befragungen Wähler sowohl sich selbst als auch die Parteien nach diesem Schema ein,
Wer sich als Mitte definiert, erhebt zugleich den Anspruch, diese und damit zugleich die Mehrheit zu repräsentieren. Ob diese Mitte oder Mehrheit tatsächlich "gut" ist, kann bezweifelt werden. Denn auch sie können zu extremen Positionen tendieren: "Fühlt die Mehrheit sich gefährdet, ist sie bereit, alle Vernunft und Gesetzlichkeit über Bord zu werfen, wie die Akzeptanz des Nationalsozialismus zeigt."
Politischer Extremismus ist kein Sammelbegriff für alle extremen Positionen im politischen Spektrum. Eine Partei mit strikter marktliberaler Orientierung, die allein dem Markt die Regelung letztlich auch der gesellschaftlichen Verhältnisse überlassen will, gilt keineswegs als politisch extrem, selbst wenn in diesem Fall die Politik faktisch durch die Ökonomie dominiert wird. Als extremistisch gelten explizit die Positionen im Links-Rechts-Spektrum, denen unterstellt wird, dass sie sich programmatisch wie auch rhetorisch gegen den "demokratischen Verfassungsstaat" richten.
Verfassungswidrigkeit als Kriterium
1952 definierte das Bundesverfassungsgericht im Verbotsurteil zur neonationalsozialistischen Sozialistischen Reichspartei (SRP) acht Prinzipien als Kern der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Diese sind Menschenrechte, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Unabhängigkeit der Gerichte, Mehrparteienprinzip und Chancengleichheit der Parteien einschließlich Oppositionsfreiheit.
Bis 1973 wurde amtlich nicht von politischem Extremismus, sondern von Rechts- beziehungsweise Linksradikalismus geredet. Der Wechsel wurde damit begründet, dass der Begriff "extremistisch" der Tatsache Rechnung trage, "dass politische Aktivitäten oder Organisationen nicht schon deshalb verfassungsfeindlich sind, weil sie eine bestimmte nach allgemeinem Sprachgebrauch 'radikale', das heißt eine bis an die Wurzel einer Fragestellung gehende Zielsetzung haben".
Bis heute wird die Fortgeltung der Formel der "wehrhaften Demokratie" erklärt, obwohl die Demokratie in Deutschland insgesamt als stabil gilt.
Amtlicher versus wissenschaftlicher Extremismusbegriff
Der amtliche Begriff ist nicht der der Sozialwissenschaften. In politikwissenschaftlichen Lexika bezeichnet Extremismus "politische Einstellungs- und Verhaltensmuster, die auf der für die Operationalisierung politischer Orientierungen üblichen Rechts-Links-Skala an den äußeren Polen (...) angesiedelt" sind.
Die Wissenschaft folgt auch nicht der Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremismus unter dem Oberbegriff des politischen Extremismus. Zum einen, weil keine Identitäten behauptet werden sollen und zum anderen, weil Rechtsextremismus ein eigener und Linksextremismus kein eigener Forschungsgegenstand ist. Bereits die amtlichen Definitionen von Rechts- wie von Linksextremismus zeigen beachtliche Differenzen. Rechtsextremismus wird als "Weltbild" definiert, das "von nationalistischen und rassistischen Anschauungen geprägt (wird). Dabei herrscht die Auffassung vor, die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder Rasse entscheide über den Wert eines Menschen".
Der Linksextremismus will zwar auch die bestehende Ordnung abschaffen, aber damit hat die Gemeinsamkeit der Ziele ein Ende. Linksextremisten richten ihr politisches Handeln an "revolutionär-marxistischen" oder anarchistischen Vorstellungen aus und streben "ein sozialistisches bzw. kommunistisches System oder eine 'herrschaftsfreie' anarchistische Gesellschaft an".
Dass Autonome, Anarchisten und Kommunisten unter einem Begriff subsumiert werden, was sowohl weder die einen noch die anderen akzeptieren würden, ist eine der Schwierigkeiten, die Systematik der Kategorie "Linksextremismus" zu verstehen. Zudem bevorzugen Kommunisten in der Regel hierarchische und nicht selten auch autoritäre Strukturen. Den Autonomen sind sie zuwider; ihr Ziel ist Herrschaftslosigkeit. Sie bilden keine Parteistrukturen und sind Marxisten-Leninisten, Trotzkisten und insbesondere Stalinisten äußerst suspekt. Autonome, die sich nicht als "Gesetzlose" stilisieren, sondern in die Tradition des Anarchismus als soziale Bewegung stellen,
In den empirischen Sozialwissenschaften gibt es eine etablierte und differenzierte Rechtsextremismusforschung. Rechtsextremismus ist nach der Definition von Richard Stöss "kurz gesagt (...) völkische(r) Nationalismus".
Ähnlich konzise Definitionen eines Linksextremismus liefert die sozialwissenschaftliche Forschung nicht. Sie befasst sich primär mit politikwissenschaftlichen, historischen Ansätzen und empirischen sozialwissenschaftlichen Methoden mit Revolutions-, Kommunismus-, Bewegungs- und Anarchismusforschung,
Auch hinsichtlich der Gemeinsamkeiten der "Extremismen" werden wesentliche Differenzen zwischen dem amtlichen und dem wissenschaftlichen Extremismusbegriff sichtbar: Einerseits handele es sich um gänzlich unterschiedliche Phänomene, andererseits seien sie in Bezug auf ihre politischen Ziele, ihre Mittel und ihre Organisationsstrukturen ähnlich.
Die unterschiedlichen Dimensionen des Begriffs sowie Zweifel an seiner Angemessenheit tragen dazu bei, dass er infrage gestellt wird. So wird beklagt, dass der Extremismusansatz die Gewaltorientierung von nazistischen Organisationen unter dem "Zerrbild der Auseinandersetzung zwischen linken und rechten Jugendgruppen" verschleiert; dass er keine Klarheit über die Relevanz verschiedener antidemokratischer Einstellungen schafft; dass er den Blick für die reale Gefährdung der staatlichen Institutionen wie der demokratischen Alltagskultur trübt und dass er wenig hilfreich sei für die Auseinandersetzung "mit antidemokratischen und menschenfeindlichen Einstellungen".
Neue politische Konfliktkonstellationen
Darüber hinaus hat der soziale Wandel zu einer neuen Struktur der gesellschaftlichen Konflikte geführt. Mit der alten Industriegesellschaft hat sich zugleich das Zeitalter der Klassenkämpfe aus der politischen Organisation der Gesellschaft weitgehend verabschiedet. Die Konfliktstruktur der nachindustriellen Gesellschaft ist nicht mehr durch den Konflikt von Arbeit (Sozialismus) und Kapital (Kapitalismus) gekennzeichnet, sondern durch gegensätzliche Wertvorstellungen oder politische Ziele. Die maßgebliche politische Konfliktkonstellation verläuft nicht zwischen rechts und links, sondern zwischen einer sozial-libertären und einer neoliberal-autoritären Politikkonzeption. Der alte Klassenkonflikt wurde abgelöst durch einen Konflikt zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Grundüberzeugungen, also einen Wertekonflikt, in dem sich die jeweiligen Ziele nicht grundsätzlich ausschließen: Bei Befragungen zeigt es sich, das Personen, die sich als "links" einstufen, sozial und libertär eingestellt sind, während Personen, die sich als "rechts" bezeichnen, zwar betont autoritär disponiert sind, aber zugleich auch soziale Gerechtigkeit anstreben. Auf der politischen Achse stehen sich Libertarismus (Links) und Autoritarismus (Rechts) gegenüber, das heißt einerseits libertäre postmaterialistische Werte (wie direkte Demokratie, Ökologie, Gleichberechtigung der Geschlechter, Multikulturalität) und andererseits autoritäre Werte (wie nach innen und außen starker Nationalstaat, Patriotismus, Sicherheit und Ordnung). Es kann durchaus zu Wertesynthesen kommen, also jemand für Verteilungsgerechtigkeit und zugleich für Leistungsdenken sein, oder im Umweltbereich libertäre, in Fragen der inneren Sicherheit jedoch autoritäre Positionen vertreten. Das entspricht den komplexen Denkmustern und Wertorientierungen der Menschen in modernen Gesellschaften, die sich geschlossenen Ideologien entziehen.
Somit wird durch die Veränderung der Konfliktstruktur in der Folge des sozialen Wandels die Bedeutung der Begriffe "rechts" und "links" zur Strukturierung der politischen Realität erheblich eingeschränkt. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass in der Bevölkerung sehr unterschiedliche Vorstellungen über deren Bedeutung bestehen. Wer sich als "rechts" oder als "links" einstuft, folgt bestimmten sozio-politischen Orientierungen. Sie beziehen sich auf Persönlichkeitseigenschaften (wie Autoritarismus, Selbstbewusstsein), auf Wertorientierungen und Einstellungen zu den politischen oder sozialen Verhältnissen in der Bundesrepublik. Dabei kontrastieren zwei Grundmuster: demokratische versus autoritäre Überzeugungen.
Demokratische Überzeugungen sind eine Kombination aus politischem Selbstbewusstsein, freiheitlichen libertären Werten und demokratischen Einstellungen. "Links" ist jemand, der von der Demokratie als System überzeugt ist und dieses mit einem libertären Selbstverständnis verknüpft sowie ein Bedürfnis nach politischer Partizipation hat. Bei autoritären Überzeugungen verbinden sich autoritäre Persönlichkeitsmerkmale, autoritäre Werte und restriktive Demokratievorstellungen. Von dieser "rechten" Position aus können diejenigen anfällig für Rechtsextremismus werden, die diese Überzeugungen mit Unzufriedenheit über wirtschaftliche, soziale und/oder politische Verhältnisse verknüpfen. Es dürfte traditionelle Linke, die kapitalismuskritisch oder gar antikapitalistisch eingestellt sind und sich einen starken Staat wünschen, durchaus irritieren, wenn sie plötzlich feststellen müssen, dass beide Positionen auch von Rechten eingenommen werden.
"Politischer Extremismus" ade?
Angesichts dieser Komplexität ist ein Begriff wie politischer Extremismus für die Wissenschaft unterkomplex und als Arbeitsbegriff ungeeignet. Es geht vielmehr darum, die weiteren Auswirkungen des fortschreitenden sozialen Wandels auf politische Einstellungen und Orientierungen angemessen zu analysieren. Die Verwendung des Begriffs durch den und im Umfeld des Verfassungsschutzes signalisiert, dass er sich nur zögerlich den Herausforderungen stellt, die von der inzwischen erreichten Kompliziertheit politischer Strukturen, von der Komplexität politischen Denkens und von den veränderten Rahmenbedingungen politischen Handelns ausgehen. Die Missbilligung eines Verfassungsgrundsatzes ist weder ein strafrechtlicher Tatbestand noch Ausdruck politischen Extremismus. Sachbeschädigungen, Gewalttätigkeiten oder Körperverletzungen durch angeblich oder tatsächlich politisch motivierte Akteure sind strafrechtliche Tatbestände, die vom polizeilichen Staatsschutz untersucht werden und für die im Fall einer Verurteilung kein Tatbestandsmerkmal eines politischen Extremismus konstruiert wird. Daher könnte überlegt werden, ob der Begriff nicht hinfällig geworden ist. Denn letztlich soll der amtliche Verfassungsschutz nicht einen begrifflich unscharfen politischen Extremismus bekämpfen, sondern organisierte Aktivitäten, durch die die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigt oder in ihrer Funktion beeinträchtigt werden soll. Zugleich sollte in einem öffentlichen Diskurs ein Verständnis über die Grundrechte hergestellt werden, welches zu ihrer offensiven Auslegung führt. Dadurch würde es der Zivilgesellschaft leichter fallen, mit Unterstützung staatlicher Institutionen oder diese unterstützend gegen einzelne extremistische Einstellungen anzugehen und damit die Demokratie zu stärken.