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Einfach war gestern. Zur Strukturierung der politischen Realität in einer modernen Gesellschaft - Essay | Extremismus | bpb.de

Extremismus Editorial Einfach war gestern. Zur Strukturierung der politischen Realität in einer modernen Gesellschaft - Essay Gewalthandeln linker und rechter militanter Szenen "Auf Fragen von Extremisten reagieren können." Eren Güvercin im Gespräch mit Ulrich Dovermann "Autonome Nationalisten" Kulturelle Homogenität und aggressive Intoleranz. Eine Kritik der Neuen Rechten Fließende Grenzen zwischen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Europa? Radikalisierung von europäischen Muslimen - Radikalisierungsprozesse in der Diaspora Radikalisierung von europäischen Muslimen - Identität und Radikalisierung

Einfach war gestern. Zur Strukturierung der politischen Realität in einer modernen Gesellschaft - Essay

Gero Neugebauer

/ 15 Minuten zu lesen

Extremismus ist ein interessengeleiteter Begriff. Durch die Veränderung der Konfliktstruktur in der Folge des sozialen Wandels ist die Bedeutung der Begriffe "rechts" und "links" zur Strukturierung der politischen Realität eingeschränkt.

Einleitung

Unmittelbar nach dem Passus über Zuverlässigkeitsüberprüfungen von Privatpiloten erklären die Regierungsparteien im aktuellen Koalitionsvertrag, sie wollten gewalttätige und extremistische Formen der politischen Auseinandersetzung nicht hinnehmen und "Extremismen jeder Art, seien es Links- oder Rechtsextremismus, Antisemitismus oder Islamismus", entgegentreten, um die "Grundwerte der pluralen Gesellschaft, insbesondere die freie Entfaltung der Person, Meinungs-, Presse-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit" als konstitutive Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung "zu schützen und zu verteidigen". In einem Koalitionsvertrag muss Extremismus nicht erklärt werden, da davon ausgegangen wird, dass der Begriff im öffentlichen politischen Diskurs besetzt ist. Zur Begrifflichkeit tragen Berichte über Polizisten, die aus Demonstrationen heraus mit Sprengkörpern "Marke Eigenbau" beworfen werden, ebenso bei wie Bilder randalierender rechtsextremistischer Demonstranten oder Mutmaßungen über Jugendliche islamischen Glaubens, die als Anhänger einer radikalen Richtung des Islam wie des militanten Salafismus als potenzielle islamistische Terroristen gelten. Wenn dann ein oberstes Gericht dem Verfassungsschutz bestätigt, dass der Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke in Thüringen Bodo Ramelow öffentlich beobachtet werden darf, weil es in dessen Partei organisierten politischen Extremismus gäbe, dann verfestigt sich der Eindruck, dass "politischer Extremismus" einen Feind bezeichnet, gegen den angegangen werden muss, weil sonst die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigt werden würde.

Kann dieser Begriff deshalb tabuisiert werden - oder ist er nicht doch entbehrlich? Offensichtlich ist Extremismus im politischen Kontext ein eindeutig interessengeleiteter Begriff zur Auseinandersetzung mit diversen politischen Phänomenen. Ist er das als sozialwissenschaftlicher Begriff auch? Ist politischer Extremismus als Schnittmenge aller Extremismen die Grundlage dafür, eine Identität von sogenannten linken und rechten Extremismen zu behaupten? Politisch motivierte Gewaltausübung gegen Sachen wie gegen Personen kann nicht akzeptiert werden. Was jedoch haben sowohl polemische bis abfällige Äußerungen über die Verfassung als auch gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Anhängern verschiedener politischer Richtungen mit der Gefährdung der Demokratie zu tun? Werden dadurch nicht strafrechtlich zu verfolgende Taten zu politischen aufgewertet und damit das Selbstverständnis der jeweiligen Akteure bedient?

Extremismusbegriff

Extremismus geht auf "extremus" und "extremitas" zurück. Ersteres bedeutet äußerst, entferntest, aber auch der ärgste, gefährlichste; letzteres bedeutet der äußerste Punkt, Rand. Eine Position gilt als umso extremer, je weiter entfernt sie von einer - ideellen - Mitte ist. In jeder Gesellschaft gibt es individuelle extreme Positionen, doch als politisch extremistisch gelten im politischen Kontext solche, die sich - als politische Strömungen - an den Rändern des politischen Spektrums befinden oder sich in diese Richtung bewegen. Diese Vorstellung basiert auf der Annahme, dass das politische Spektrum einer Gesellschaft linear auf einer eindimensionalen Recht-Links-Achse abgebildet werden kann.

Zwar ordnen bei Befragungen Wähler sowohl sich selbst als auch die Parteien nach diesem Schema ein, aber damit sind die Probleme dieses Modells nicht gelöst. Es wird der Komplexität der Gesellschaft nicht gerecht, da es statisch ist und mit der Reduktion auf "rechts" und "links" die Konfliktstruktur der Gesellschaft nur bedingt widerspiegelt. Politischer Extremismus wird nicht in der Mitte der Gesellschaft, sondern als Randphänomen verortet und die - tatsächlich oder vermeintlich - von ihm ausgehende Bedrohung für den Kern der Verfassungsordnung zu seinem Alleinstellungsmerkmal gemacht. Zudem wird nicht deutlich, nach welchen Kriterien die Übergänge zwischen der jeweiligen extremen Position und der Mitte bestimmt werden, wie also im rechten Spektrum die Positionen zwischen den beiden Extremen "Mitte" und "rechter Rand" verortet werden und wie sich der Übergang zu radikalen und weiter zu extremen Positionen vollzieht. Denn die Mitte wird selbst zur extremen Position, wenn auf der Achse die beiden Teilspektren links und rechts abgetragen werden.

Wer sich als Mitte definiert, erhebt zugleich den Anspruch, diese und damit zugleich die Mehrheit zu repräsentieren. Ob diese Mitte oder Mehrheit tatsächlich "gut" ist, kann bezweifelt werden. Denn auch sie können zu extremen Positionen tendieren: "Fühlt die Mehrheit sich gefährdet, ist sie bereit, alle Vernunft und Gesetzlichkeit über Bord zu werfen, wie die Akzeptanz des Nationalsozialismus zeigt." Schließlich ist der Nationalsozialismus aus der Mitte der deutschen Gesellschaft heraus groß geworden, und auch heute entspringt der Rechtsextremismus zum Teil der Mitte der Gesellschaft, das heißt dem Ort, an welchem die sind, die durch Verunsicherung, Zukunftsangst und Orientierungsprobleme veranlasst sind, sich rechtsextremistischen Deutungs- und Problemlösungsangeboten zu öffnen.

Politischer Extremismus ist kein Sammelbegriff für alle extremen Positionen im politischen Spektrum. Eine Partei mit strikter marktliberaler Orientierung, die allein dem Markt die Regelung letztlich auch der gesellschaftlichen Verhältnisse überlassen will, gilt keineswegs als politisch extrem, selbst wenn in diesem Fall die Politik faktisch durch die Ökonomie dominiert wird. Als extremistisch gelten explizit die Positionen im Links-Rechts-Spektrum, denen unterstellt wird, dass sie sich programmatisch wie auch rhetorisch gegen den "demokratischen Verfassungsstaat" richten. Diese Auffassung wird durch das Konzept der "wehrhaften" oder "streitbaren" Demokratie legitimiert. Der Staatsrechtler Carlo Schmid hatte 1946 bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates über das Grundgesetz gefragt, ob Freiheit und Gleichheit "auch denen eingeräumt werden (sollen), deren Streben ausschließlich darauf geht, nach der Ergreifung der Macht die Freiheit selbst auszurotten". Seine Antwort war, dass dann, wenn man den Mut habe zu glauben, dass die Demokratie "etwas für die Würde des Menschen Notwendiges sei", auch "den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen (muss), die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen". Diese Haltung wurde von den Erfahrungen der Weimarer Republik, der entstehenden Blockkonfrontation, der Existenz einer politisch aktiven kommunistischen Partei und Zweifeln an der Akzeptanz der von den Besatzungsmächten initiierten Entwicklung zur Demokratie geprägt.

Verfassungswidrigkeit als Kriterium

1952 definierte das Bundesverfassungsgericht im Verbotsurteil zur neonationalsozialistischen Sozialistischen Reichspartei (SRP) acht Prinzipien als Kern der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Diese sind Menschenrechte, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Unabhängigkeit der Gerichte, Mehrparteienprinzip und Chancengleichheit der Parteien einschließlich Oppositionsfreiheit. 1956 verbot das Bundesverfassungsgericht die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) und führte aus, dass eine Partei nicht bereits "dann verfassungswidrig ist, wenn sie diese obersten Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht anerkennt, sie ablehnt, ihnen andere entgegensetzt. Es muss vielmehr eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung hinzukommen, sie muss planvoll das Funktionieren dieser Ordnung beeinträchtigen, im weiteren Verlauf diese Ordnung selbst beseitigen wollen". Das zentrale Kriterium für das Verbot der Parteien war wie in den Diskussionen um ein Verbot der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) die Verfassungswidrigkeit. Von rechtsextremistisch oder linksextremistisch war nicht die Rede.

Bis 1973 wurde amtlich nicht von politischem Extremismus, sondern von Rechts- beziehungsweise Linksradikalismus geredet. Der Wechsel wurde damit begründet, dass der Begriff "extremistisch" der Tatsache Rechnung trage, "dass politische Aktivitäten oder Organisationen nicht schon deshalb verfassungsfeindlich sind, weil sie eine bestimmte nach allgemeinem Sprachgebrauch 'radikale', das heißt eine bis an die Wurzel einer Fragestellung gehende Zielsetzung haben". In der Politik und in der Publizistik galt der Begriff bis in die 1980er Jahre "für Ideologie und Praxis von politischen Akteuren". Dazu zählten Parteien, Parteipolitiker und Publizisten, welche "die politisch-rechtliche Grundordnung verändern wollten".

Bis heute wird die Fortgeltung der Formel der "wehrhaften Demokratie" erklärt, obwohl die Demokratie in Deutschland insgesamt als stabil gilt. So konnte es dem Bundesverfassungsgericht 2005 leicht fallen, zu bestätigen, dass die "bloße Kritik an Verfassungswerten und Verfassungsgrundsätzen nicht als Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzuschätzen (ist), wohl aber darüber hinausgehende Aktivitäten zu deren Beseitigung". Selbst Kritik an der Verfassung und ihren wesentlichen Elementen sei ebenso erlaubt wie die "Äußerung der Forderung, tragende Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu ändern". Politischer Extremismus ist also kein Rechtsbegriff. Er wird im politischen Diskurs als Kampfbegriff zur Charakterisierung bestimmter politischer Kräfte gebraucht. Im Kontext der Arbeit des Verfassungsschutzes fungiert er als Sammelbezeichnung für Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder gegen den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder gerichtet sind oder darauf abzielen, die Amtsführung der Verfassungsorgane oder ihrer Mitglieder in Bund und in den Ländern auf ungesetzliche Weise zu beeinträchtigen.

Amtlicher versus wissenschaftlicher Extremismusbegriff

Der amtliche Begriff ist nicht der der Sozialwissenschaften. In politikwissenschaftlichen Lexika bezeichnet Extremismus "politische Einstellungs- und Verhaltensmuster, die auf der für die Operationalisierung politischer Orientierungen üblichen Rechts-Links-Skala an den äußeren Polen (...) angesiedelt" sind. Es wird versucht, nach Zielen und Werten oder nach Mitteln und Normen zu unterscheiden. Dabei wird offen gelassen, ob mit diesen Positionen zugleich die "völlige Ablehnung" der existierenden politischen und sozialen Ordnung verbunden ist. Forscher, die sich auf den amtlichen Extremismusbegriff stützen, haben ein strikt normatives Verständnis von der Gesellschaft und ihrer politischen Verfasstheit, weshalb sie per se unterstellen, dass Vertreter extremistischer Positionen die gegebene Ordnung beseitigen wollen. Oft wird davon ausgegangen, dass der Wortlaut eines Programms die politische Praxis der Partei determiniert. Interesse an der Erforschung der unterschiedlichen Ursachen für das Entstehen beispielsweise rechtsextremer Einstellungen sowie an den Voraussetzungen ihrer Umsetzung in politisches Handeln ist oft kaum erkennbar. Doch weil es in den Sozialwissenschaften um die Analyse von gesellschaftlichen und politischen Sachverhalten geht, muss ein wissenschaftlicher Arbeitsbegriff so operationalisiert werden können, dass er sowohl zur Analyse von gesellschaftlichen und politischen Phänomenen als auch zur Entwicklung von Strategien zur politischen Auseinandersetzung taugt. Das kann ein solch normativ bestimmter Ansatz nur bedingt leisten.

Die Wissenschaft folgt auch nicht der Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremismus unter dem Oberbegriff des politischen Extremismus. Zum einen, weil keine Identitäten behauptet werden sollen und zum anderen, weil Rechtsextremismus ein eigener und Linksextremismus kein eigener Forschungsgegenstand ist. Bereits die amtlichen Definitionen von Rechts- wie von Linksextremismus zeigen beachtliche Differenzen. Rechtsextremismus wird als "Weltbild" definiert, das "von nationalistischen und rassistischen Anschauungen geprägt (wird). Dabei herrscht die Auffassung vor, die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder Rasse entscheide über den Wert eines Menschen". Rechtsextremisten wollen ein durch einen Führer angeführtes autoritäres politisches System, in dem das ethnisch homogene Volk mit dem Staat zur Volksgemeinschaft verschmilzt. Parlamentarische Kontrolle wie politische Opposition seien überflüssig, denn der oder die Führer würden nach dem von ihnen repräsentierten vermeintlich einheitlichen Willen des Volkes handeln.

Der Linksextremismus will zwar auch die bestehende Ordnung abschaffen, aber damit hat die Gemeinsamkeit der Ziele ein Ende. Linksextremisten richten ihr politisches Handeln an "revolutionär-marxistischen" oder anarchistischen Vorstellungen aus und streben "ein sozialistisches bzw. kommunistisches System oder eine 'herrschaftsfreie' anarchistische Gesellschaft an". Während der Rechtsextremismus sich in verschiedene nationalistische und anders geprägte Strömungen ausdifferenziere, organisiere sich der Linksextremismus, in dem besonders die gewaltbereiten Linksextremisten auffällig seien, in unterschiedlichen Aktionsfeldern: "Antirepression", "Antimilitarismus" und "Antifaschismus". Die "Antifaschismusarbeit" ziele dabei vordergründig auf die Bekämpfung rechtsextremistischer Strukturen ab, das eigentliche Ziel sei es, "die freiheitliche demokratische Grundordnung zu überwinden, um die dem 'kapitalistischen System' angeblich innewohnenden Wurzeln des Faschismus zu beseitigen". Trotzdem sich Autonome (vereinzelt) um klare politische Positionen bemühen, sei das autonome Selbstverständnis von der Vorstellung eines freien, selbstbestimmten Lebens innerhalb "herrschaftsfreier Räume ('Autonomie')" geprägt. Als Vertreter dieser sozialen Bewegung werden die "Traditionellen Anarchisten" dem linksextremen Spektrum zugeschlagen.

Dass Autonome, Anarchisten und Kommunisten unter einem Begriff subsumiert werden, was sowohl weder die einen noch die anderen akzeptieren würden, ist eine der Schwierigkeiten, die Systematik der Kategorie "Linksextremismus" zu verstehen. Zudem bevorzugen Kommunisten in der Regel hierarchische und nicht selten auch autoritäre Strukturen. Den Autonomen sind sie zuwider; ihr Ziel ist Herrschaftslosigkeit. Sie bilden keine Parteistrukturen und sind Marxisten-Leninisten, Trotzkisten und insbesondere Stalinisten äußerst suspekt. Autonome, die sich nicht als "Gesetzlose" stilisieren, sondern in die Tradition des Anarchismus als soziale Bewegung stellen, können ihre "autonomen Räume" nur in pluralistischen demokratischen Systemen entfalten. Denn nur diese bieten die rechtlichen als auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie Schutz der individuellen Rechte und - mit einiger Wahrscheinlichkeit - gesellschaftliche Toleranz. Manche gewalttätigen Aktivisten, die als "Autonome" zur linken Szene gezählt werden (dank dieser Tatsache brauchen sie nicht den Nachweis zu führen, dass sie überhaupt links sind), sehen sich vielleicht in der historischen Nachfolge anarchistischer Gewalttäter. Dass dieses "organisierungs- und hierarchiefeindliche radikale linksextremistische Spektrum" politische Aktivitäten mit dem Ziel des gewaltsamen Umsturzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung entfalten könnte, erstaunt. Die der Szene zurechenbaren gewalttätigen Aktionen, dies haben sie mit gewaltbereiten und -tätigen Rechtsextremen gemein, sind deshalb nicht zu relativieren, könnten jedoch primär ein Problem der öffentlichen Sicherheit und ein strafrechtliches sein.

In den empirischen Sozialwissenschaften gibt es eine etablierte und differenzierte Rechtsextremismusforschung. Rechtsextremismus ist nach der Definition von Richard Stöss "kurz gesagt (...) völkische(r) Nationalismus". Nach Hans-Gerd Jaschke bezeichnet Rechtsextremismus "die Gesamtheit von Einstellungen, Verhaltensweisen und Aktionen, organisiert oder nicht, die von der rassisch oder ethnisch bedingten sozialen Ungleichheit der Menschen ausgehen, nach ethnischer Homogenität der Völker verlangen und das Gleichheitsgebot der Menschenrechts-Deklaration ablehnen, die den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum betonen, von der Unterordnung des Bürgers unter die Staatsräson ausgehen und die den Wertepluralismus einer liberalen Demokratie ablehnen und Demokratisierung rückgängig machen wollen". Dieser Begriff orientiert sich nicht an amtlichen Bedrohungsszenarien, summiert die unterschiedlichen Ansätze sowie relevante, die Forschung leitende Fragen über den Rechtsextremismus und weist auf dessen unterschiedliche Dimensionen - Einstellungen und Verhalten - sowie deren Inhalte - von Nationalismus bis Sexismus sowie von Protest bis zum Terror - hin.

Ähnlich konzise Definitionen eines Linksextremismus liefert die sozialwissenschaftliche Forschung nicht. Sie befasst sich primär mit politikwissenschaftlichen, historischen Ansätzen und empirischen sozialwissenschaftlichen Methoden mit Revolutions-, Kommunismus-, Bewegungs- und Anarchismusforschung, jedoch nicht mit Linksextremismus als eigenem Forschungsgegenstand. Das Verständnis von Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft führt dazu, die Faktoren zu erforschen, die die Demokratie stärken - und bei der Erforschung jener, die sie schwächen, sich auf den Rechtsextremismus zu konzentrieren.

Auch hinsichtlich der Gemeinsamkeiten der "Extremismen" werden wesentliche Differenzen zwischen dem amtlichen und dem wissenschaftlichen Extremismusbegriff sichtbar: Einerseits handele es sich um gänzlich unterschiedliche Phänomene, andererseits seien sie in Bezug auf ihre politischen Ziele, ihre Mittel und ihre Organisationsstrukturen ähnlich. Wenn Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zwischen rechts- und linksextremistischen Positionen auftauchen, dann in dem Punkt, der die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei beiden Parteiverboten bestimmt hat: Demokratiefeindlichkeit. Politischer Extremismus als System findet sich im rechtsextremistischen Führerstaat und der Ideologie des völkischen Nationalismus; bei Linksextremisten findet er sich bei den Anhängern der Diktatur des Proletariats als politische Form der Herrschaft der Arbeiterklasse. Die Protagonisten des nationalsozialistischen Regimes wie auch der stalinistischen Diktatur weichen mit ihrer Orientierung an der Vergangenheit einer adäquaten Auseinandersetzung mit den Problemen der Gegenwart und Zukunft aus.

Die unterschiedlichen Dimensionen des Begriffs sowie Zweifel an seiner Angemessenheit tragen dazu bei, dass er infrage gestellt wird. So wird beklagt, dass der Extremismusansatz die Gewaltorientierung von nazistischen Organisationen unter dem "Zerrbild der Auseinandersetzung zwischen linken und rechten Jugendgruppen" verschleiert; dass er keine Klarheit über die Relevanz verschiedener antidemokratischer Einstellungen schafft; dass er den Blick für die reale Gefährdung der staatlichen Institutionen wie der demokratischen Alltagskultur trübt und dass er wenig hilfreich sei für die Auseinandersetzung "mit antidemokratischen und menschenfeindlichen Einstellungen". Daher spricht etliches für eine Überprüfung, da die damaligen Voraussetzungen für das Konzept der "wehrhaften Demokratie" zwanzig Jahre nach der deutschen Einheit und dem Ende der Blockkonfrontation nicht mehr existieren. Laut Bundesverfassungsgericht verträgt eine gefestigte Demokratie durchaus Kritik und begreift sie nicht als Gefährdung ihrer Existenz. Die repräsentative Demokratie erweitert durch Volksabstimmungen und Volksentscheide die Partizipationsmöglichkeiten der Bürger. Wahlenthaltung wird nicht als Bekenntnis gegen die demokratische Ordnung, sondern unter anderem als Kritik an deren Leistungsfähigkeit gewertet.

Neue politische Konfliktkonstellationen

Darüber hinaus hat der soziale Wandel zu einer neuen Struktur der gesellschaftlichen Konflikte geführt. Mit der alten Industriegesellschaft hat sich zugleich das Zeitalter der Klassenkämpfe aus der politischen Organisation der Gesellschaft weitgehend verabschiedet. Die Konfliktstruktur der nachindustriellen Gesellschaft ist nicht mehr durch den Konflikt von Arbeit (Sozialismus) und Kapital (Kapitalismus) gekennzeichnet, sondern durch gegensätzliche Wertvorstellungen oder politische Ziele. Die maßgebliche politische Konfliktkonstellation verläuft nicht zwischen rechts und links, sondern zwischen einer sozial-libertären und einer neoliberal-autoritären Politikkonzeption. Der alte Klassenkonflikt wurde abgelöst durch einen Konflikt zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Grundüberzeugungen, also einen Wertekonflikt, in dem sich die jeweiligen Ziele nicht grundsätzlich ausschließen: Bei Befragungen zeigt es sich, das Personen, die sich als "links" einstufen, sozial und libertär eingestellt sind, während Personen, die sich als "rechts" bezeichnen, zwar betont autoritär disponiert sind, aber zugleich auch soziale Gerechtigkeit anstreben. Auf der politischen Achse stehen sich Libertarismus (Links) und Autoritarismus (Rechts) gegenüber, das heißt einerseits libertäre postmaterialistische Werte (wie direkte Demokratie, Ökologie, Gleichberechtigung der Geschlechter, Multikulturalität) und andererseits autoritäre Werte (wie nach innen und außen starker Nationalstaat, Patriotismus, Sicherheit und Ordnung). Es kann durchaus zu Wertesynthesen kommen, also jemand für Verteilungsgerechtigkeit und zugleich für Leistungsdenken sein, oder im Umweltbereich libertäre, in Fragen der inneren Sicherheit jedoch autoritäre Positionen vertreten. Das entspricht den komplexen Denkmustern und Wertorientierungen der Menschen in modernen Gesellschaften, die sich geschlossenen Ideologien entziehen.

Somit wird durch die Veränderung der Konfliktstruktur in der Folge des sozialen Wandels die Bedeutung der Begriffe "rechts" und "links" zur Strukturierung der politischen Realität erheblich eingeschränkt. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass in der Bevölkerung sehr unterschiedliche Vorstellungen über deren Bedeutung bestehen. Wer sich als "rechts" oder als "links" einstuft, folgt bestimmten sozio-politischen Orientierungen. Sie beziehen sich auf Persönlichkeitseigenschaften (wie Autoritarismus, Selbstbewusstsein), auf Wertorientierungen und Einstellungen zu den politischen oder sozialen Verhältnissen in der Bundesrepublik. Dabei kontrastieren zwei Grundmuster: demokratische versus autoritäre Überzeugungen.

Demokratische Überzeugungen sind eine Kombination aus politischem Selbstbewusstsein, freiheitlichen libertären Werten und demokratischen Einstellungen. "Links" ist jemand, der von der Demokratie als System überzeugt ist und dieses mit einem libertären Selbstverständnis verknüpft sowie ein Bedürfnis nach politischer Partizipation hat. Bei autoritären Überzeugungen verbinden sich autoritäre Persönlichkeitsmerkmale, autoritäre Werte und restriktive Demokratievorstellungen. Von dieser "rechten" Position aus können diejenigen anfällig für Rechtsextremismus werden, die diese Überzeugungen mit Unzufriedenheit über wirtschaftliche, soziale und/oder politische Verhältnisse verknüpfen. Es dürfte traditionelle Linke, die kapitalismuskritisch oder gar antikapitalistisch eingestellt sind und sich einen starken Staat wünschen, durchaus irritieren, wenn sie plötzlich feststellen müssen, dass beide Positionen auch von Rechten eingenommen werden.

"Politischer Extremismus" ade?

Angesichts dieser Komplexität ist ein Begriff wie politischer Extremismus für die Wissenschaft unterkomplex und als Arbeitsbegriff ungeeignet. Es geht vielmehr darum, die weiteren Auswirkungen des fortschreitenden sozialen Wandels auf politische Einstellungen und Orientierungen angemessen zu analysieren. Die Verwendung des Begriffs durch den und im Umfeld des Verfassungsschutzes signalisiert, dass er sich nur zögerlich den Herausforderungen stellt, die von der inzwischen erreichten Kompliziertheit politischer Strukturen, von der Komplexität politischen Denkens und von den veränderten Rahmenbedingungen politischen Handelns ausgehen. Die Missbilligung eines Verfassungsgrundsatzes ist weder ein strafrechtlicher Tatbestand noch Ausdruck politischen Extremismus. Sachbeschädigungen, Gewalttätigkeiten oder Körperverletzungen durch angeblich oder tatsächlich politisch motivierte Akteure sind strafrechtliche Tatbestände, die vom polizeilichen Staatsschutz untersucht werden und für die im Fall einer Verurteilung kein Tatbestandsmerkmal eines politischen Extremismus konstruiert wird. Daher könnte überlegt werden, ob der Begriff nicht hinfällig geworden ist. Denn letztlich soll der amtliche Verfassungsschutz nicht einen begrifflich unscharfen politischen Extremismus bekämpfen, sondern organisierte Aktivitäten, durch die die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigt oder in ihrer Funktion beeinträchtigt werden soll. Zugleich sollte in einem öffentlichen Diskurs ein Verständnis über die Grundrechte hergestellt werden, welches zu ihrer offensiven Auslegung führt. Dadurch würde es der Zivilgesellschaft leichter fallen, mit Unterstützung staatlicher Institutionen oder diese unterstützend gegen einzelne extremistische Einstellungen anzugehen und damit die Demokratie zu stärken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, online: www.csu.de/dateien/partei/beschluesse/
    091026_koalitionsvertrag.pdf (10.10.2010), S. 99f.

  2. Vgl. Berliner Morgenpost vom 16.6.2010 und vom 30.8.2010.

  3. Vgl. Petra Brendel, Extremismus, in: Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Lexikon der Politikwissenschaft, München 20022, S. 222.

  4. Vgl. das Extremismusmodell bei Richard Stöss, Rechtsextremismus im Wandel, Berlin 20072, S. 19.

  5. Vgl. ARD-Deutschlandtrend, Februar 2008, online: www.infratest-dimap.de/uploads/media/dt0802.pdf (20.9.2010).

  6. Eberhard Tiefensee, Extremismus aus philosophischer Sicht, Erfurt 2001, online: www.extremismus.com/texte/philex.htm (20.9.2010).

  7. "Der politische Extremismus (...) zeichnet sich dadurch aus, dass er den demokratischen Verfassungsstaat ablehnt und beseitigen will." Eckhart Jesse, Extremismus, Bonn 2003, online: www.bpb.de/wissen/045338376868096
    12704313150200958,0,0,Extremismus.html (20.9.2010).

  8. Zit. nach: R. Stöss (Anm. 4), S. 15.

  9. Vgl. ebd., S. 16.

  10. Ebd., S. 17.

  11. So der damalige Bundesinnenminister Werner Maihofer im Vorwort des Verfassungsschutzberichts von 1974, herausgegeben vom Bundesministerium des Innern (BMI), Bonn 1975.

  12. Andreas Klärner/Michael Kohlstruck, Thema der Öffentlichkeit und Gegenstand der Forschung, in: dies. (Hrsg.), Moderner Rechtsextremismus in Deutschland, Hamburg 2006, S. 17.

  13. Die Stabilität ist sowohl durch mangelnde Angebote für demokratische Partizipation als auch durch die Zunahme von Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit und Sozialdarwinismus gefährdet. Vgl. Oliver Decker et al., Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, Berlin 2010, S. 152, S. 140.

  14. Leitsätze zu dem Beschluss des Ersten Senats vom 24.5.2005, Randziffer 70, online: www.bverfg.de/entscheidungen/
    rs20050524_1bvr107201.html (20.9. 2010).

  15. Ebd., Randziffer 72.

  16. Everhard Holtmann et al. (Hrsg.), Politiklexikon, München-Wien 19942, S. 165.

  17. Vgl. P. Brendel (Anm. 3).

  18. Programme werden erst durch ihre Interpretation wirksam, wenn sie zur Begründung der religiösen oder politischen Praxis durch die entsprechenden Akteure als Anleitung zum Handeln ausgelegt werden.

  19. BMI (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2009, Vorabfassung, Berlin 2010, S. 49, online: www.verfassungsschutz.de/download/SHOW/
    vsbericht_2009.pdf (20.9.2010).

  20. Vgl. ebd.

  21. Ebd., S. 126.

  22. Ebd.

  23. Ebd., S. 133f.

  24. Vgl. ebd., S. 150.

  25. Vgl. Peter Lösche, Anarchismus, in: D. Nohlen/R.-O. Schultze (Anm. 3), S. 19f.

  26. BMI (Anm. 19), S. 149.

  27. Richard Stöss, Neuere Entwicklungstendenzen des Rechtsextremismus in Deutschland, in: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 21 (2010) 2, S. 117.

  28. Hans-Gerd-Jaschke, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe Positionen - Praxisfelder, Opladen 2001, S. 30.

  29. Vgl. Gero Neugebauer, Extremismus-Linksextremismus-Rechtsextremismus: Einige Anmerkungen zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen, in: Wilfried Schubarth/Richard Stöss (Hrsg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Bonn 2000, S. 24ff.

  30. Vgl. P. Brendel (Anm. 3).

  31. Vgl. BMI (Hrsg.), Bedingungsfaktoren des gesellschaftlichen Zusammenhalts, Berlin 2009, S. 63.

  32. Als weiteres Beispiel wird auch die Behauptung genannt, dass "Verschwörungstheorien, Utopismus und Absolutheitsanspruch" nur Merkmale des Extremismus wären, obwohl sie in allen Bereichen der Gesellschaft zu finden sind. Vgl. Grit Hanneforth/Michael Nattke/Stefan Schönfelder, Einführung, in: Kulturbüro Sachsen et al. (Hrsg.), Gibt es Extremismus? Extremismusansatz und Extremismusbegriff in der Auseinandersetzung mit Neonazismus und (anti-)demokratischen Einstellungen, Dresden 2010, S. 7.

Dr. rer. pol., geb. 1941; Politologe am Otto-Stammer-Zentrum, FU Berlin, Ihnestraße 26, 14195 Berlin. E-Mail Link: gerosofo@zedat.fu-berlin.de