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Was ist "gesunde Ernährung"?

Detlef Briesen

/ 17 Minuten zu lesen

Derzeit versucht sich die Gesundheitspolitik stärker auf die Förderung "richtiger" Ernährung auszurichten. Was aber ist gesunde Kost? Der Aufsatz stellt Konzepte vor, die diese Frage unterschiedlich beantworten.

Einleitung

Bei Debatten über Gesundheitspolitik spielt die Vorstellung eine große Rolle, die Menschen zu einem stärker ihre Gesundheit berücksichtigenden Lebensstil zu motivieren. Davon wird eine erhebliche Kostenersparnis für das überlastete Gesundheitssystem erwartet, und ohnehin gilt Verhaltensprävention als Mittel, unnötige Leiden und vorzeitiges Ableben von vornherein zu verhindern. Solche Ansätze sind aus dem hier eingenommenen gesundheitshistorischen Blickwinkel weder neu noch originell. Die Vermeidung von Krankheiten durch ein wie auch immer als "gesund" bezeichnetes Verhalten zieht sich vielmehr wie ein roter Faden durch die Geschichte der menschlichen Gesundheit.

Dies gilt insbesondere für Prävention durch Ernährung. Sie zeichnet sich durch eine Reihe von Besonderheiten aus: Zum einen liegen hier - statt einfacher und klarer Konzepte, wie etwa dem, nicht zu rauchen oder keine Drogen zu nehmen - oft nur diffuse Anleitungen vor. Ernährungslehren beruhen mitunter eher auf Glaubenssystemen oder nicht genannten persönlichen Vorlieben ihrer Apologeten. Zum anderen können sich in ihnen voreilige Schlüsse von wissenschaftlichen Studien auf gesundes Verhalten abbilden. Gerade auch Fachwissenschaftler haben in den vergangenen Jahrzehnten Positionen eingekommen, die sich bald als falsch oder sogar gesundheitsschädlich erweisen sollten. Damit soll allerdings nicht behauptet werden, Ernährungswissenschaftler, Mediziner und Physiologen hätten nicht auch echten wissenschaftlichen Fortschritt erreicht. Im Folgenden werde ich versuchen, einen Überblick über die wichtigsten Ernährungslehren, deren Herkunft und aktuelle Relevanz zu geben.

Humoralpathologie

Eine erste Antwort auf die Frage nach gesunder Ernährung geben Erklärungsansätze, die sich auf die Tradition der Humoralpathologie zurückführen lassen. Bis heute berufen sich Ernährungsratgeber auf die Kräuterheilkunde der Hildegard von Bingen (ca. 1098-1179). Nach solchen Schonkostlehren ist - ähnlich wie beim indischen Ayurveda - persönliche Gesundheit angeblich durch eine Ernährung erreichbar, welche die Prinzipien universeller Harmonie berücksichtigt. Vorstellungen wie diese prägten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein das alteuropäische Erbe, also jene vorbildhaften Lehren, die sich (angeblich) bei Griechen und Römern herausgebildet hatten. Allerdings war nach dem 5. Jahrhundert der Großteil des antiken Wissens verlorengegangen. Zudem war die Medizin bis zum Aufkommen der modernen Chirurgie und Chemotherapie im späten 19. Jahrhundert im Wesentlichen eine Präventionslehre: Sie versuchte, durch "gesunde" Verhaltensweisen Krankheiten erst gar nicht entstehen zu lassen - heilbar waren diese durch Intervention von Ärzten ohnehin fast nie. Teilt man diese Skepsis gegenüber Heilungschancen durch die Schulmedizin, so sind die traditionellen Lehren bis heute maßgeblich geblieben.

Gut fassbar wurde die Verbindung von Kosmologie und Gesundheit bei Hippokrates von Kos (ca. 460-370 v.Chr.). In der Schrift "De Diaeta" wurden Krankheiten als Störungen des Gleichgewichts durch Maß- und Zügellosigkeit begriffen. Daraus entstand ein Regelwerk für eine gesunde Lebensweise mit idealem Tagesablauf und ebensolcher Ernährung. Konstitutiv war dabei die Humoralpathologie, auch Viersäftelehre genannt. Eine bestimmte Fassung der antiken Physik mit den Grundsubstanzen Feuer, Wasser, Erde, Luft erhielt zusätzlich die Funktion eines Krankheitskonzeptes. Die vier Elemente wurden zu vier konstitutiven Säften im menschlichen Körper (Blut, Schleim und zweierlei Galle), vier Lebensaltern und vier Qualitäten (kalt, warm, trocken, feucht) in Analogie gesetzt. Gesundheit war seitdem eine Folge des richtigen Flusses der Körpersäfte; noch bei der Kneippkur versucht man, diesen durch Behandlung mit Wasser wiederherzustellen. Durch richtige Kost ist nach dieser Lehre manches Leiden zu vermeiden. Die Hippokratiker bedachten dabei Tätigkeiten, Temperamente, Lebensalter, Wind- und Witterungsverhältnisse mit. Brot und Fleisch standen im Zentrum der gesunden Ernährung; Vorsicht war bei Fisch, Obst, Gemüse und Milch angebracht.

Galen von Pergamon (ca. 129-199) bestimmte über viele Jahrhunderte die Vorstellungen von gesunder Ernährung, wobei er die hippokratischen Lehren um wichtige Einzelheiten ergänzte. Von den Früchten und Gemüsen waren Weintrauben am besten - was wahrscheinlich bis heute ihren Einsatz als Krankenkost mit erklärt. Genießen sollte man laut Galen vorrangig Brot und Schweinefleisch. Damit war eine Antwort auf die Frage nach der richtigen Kost formuliert, die bis heute in den Versuchen weiterwirkt, gesunde Ernährung als Re-Integration in die kosmische Ordnung zu begreifen. Übergänge zu esoterischen Heilslehren sind dabei offensichtlich. Aber nicht nur die aktuelle Esoterik, auch die heutige Kochpraxis ist durch humoralpathologische Rezepte beeinflusst. Birnen werden eigentlich in Rotwein gekocht, um sie zu entgiften, die "Kälte" von Blattsalat wird durch eine "warme" Substanz, Essig, ausbalanciert.

Gesunde Mischkost

Eine weitere Antwort auf die Frage nach der gesunden Ernährung ist die Idee von der gesunden Mischkost. Sie kam nach 1840 mit der organischen Chemie auf. Ausgehend von den Ideen von Justus von Liebig (1803-1873) verbreitete sich die Mischkost vor allem nach 1950 in einer modifizierten Variante im deutschsprachigen Raum. Dort wurde sie in der Nachkriegszeit geprägt von Ernährungsforschern wie Werner Kollath (1892-1970) und Ernst Kofrányi (1908-1989). Die gesunde Mischkost war über viele Jahrzehnte die Standardlehre in der Ökotrophologie und wurde von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) propagiert. Damit kam ihr ein quasi regierungsamtlicher Status zu, wenn sich auch gerade in der Bundesrepublik der Staat in Fragen der Lebensführung eher zurückhielt.

Ursprung der gesunden Mischkost war Kritik an der Humoralpathologie. Alchemisten und Iatrochemiker entdeckten die Funktionen der inneren Organe und den Stoffwechsel. Das neue Verständnis von diesem als zentralem Vorgang bei der Ernährung ging vom französischen Chemiker Antoine-Laurent Lavoisier (1743-1794) aus. Weitere Meilensteine der Forschung waren das Verständnis des Zuckerstoffwechsels und der Fette und Proteine. Der Physiologe Claude Bernard (1813-1878) entdeckte die Funktion von Bauchspeicheldrüse und Leber für die Verdauung. Der Stoffwechsel war nun als Abbau von Grundstoffen und als Aufbau körpereigener Substanzen erkannt. Die spezielle Leistung von Liebig bestand darin, aus den bis dahin fragmentarischen Forschungsergebnissen eine Ernährungslehre zu schaffen. Er teilte die Nährstoffe in zwei Gruppen: Die Proteine waren vorrangig, denn sie lieferten die Energie für Muskelarbeit und geistiges Schaffen; Fette und Kohlenhydrate versorgten den Körper nur mit Wrme. Diese Eiweißlehre trug einerseits zu den hohen Tagesdosen an tierischen Proteinen bei, die unter Berufung auf Liebig empfohlen wurden, bis hin zu Nur-Fleisch-Ernährung und Glyx-Diät, die einen niedrigen glykämischen Index, also eine kohlenhydratarme bis -freie Kost, als Voraussetzung für die "schlanke Linie" propagiert. Andererseits zeigten Forschungen eine echte Unterversorgung der damaligen Unterschichten mit Proteinen auf. Liebig selbst - durch seinen Fleischextrakt - und weitere Ernährungswissenschaftler wie Jacob Moleschott (1822-1893) trugen ihre Ergebnisse daher als sozialpolitische Reformansätze in die Öffentlichkeit. 1858 erschien die Ernährungslehre von Moleschott bereits in der dritten Auflage. Sie propagierte gesunde Mischkost aus pflanzlichen und tierischen Bestandteilen und empfahl, das jahreszeitliche Angebot ebenso zu berücksichtigen wie individuelle Vorlieben. Menschen sollten nicht mehr essen, was Traditionen vorschrieben, sondern was ihrer Physiologie und ihren persönlichen Bedürfnissen entsprach. Zudem waren innerhalb der Produktgruppen Lebensmittel, auch mit Rücksicht auf den Geldbeutel, austauschbar. Eine solche Sichtweise liegt bis heute allen Ernährungspyramiden zugrunde, die etwa die öffentliche Gesundheitsaufklärung verbreitet.

In der langen Debatte um die Mischkost relativierte sich allmählich die Bedeutung von tierischem Protein. Heute gilt Fleisch nicht mehr als unverzichtbar für die Kost, was sich inzwischen in den Ernährungspyramiden widerspiegelt. Weiterhin zeigte sich, dass die menschliche Nahrung bis dahin unbekannte Substanzen enthalten musste. Nachdem 1911 eine später Vitamin B genannte Substanz identifiziert worden war, rissen die Entdeckungen nicht mehr ab: Weitere Vitamine sowie die Mineral- und sekundären Pflanzenstoffe wurden in ihrer Bedeutung erkannt. Dies hat die gesunde Mischkost bis heute fortlaufend verändert. Sie ist - bei allen Unterschieden in Details - noch immer die Basis der wissenschaftlich fundierten Ernährungslehren.

Lebensreform

Die Lebensreform behauptet: Eine gesunde Ernährung folgt den Prinzipien der Natur. Sie bildet die Basis für zwei Konjunkturen der Naturnahrung, die eigentliche Lebensreform (ungefähr 1890 bis 1940) sowie die Bio- und Öko-Kost (in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren). Die Naturkost wird oft mit der Humoralpathologie gleichgesetzt. Diese These ist ebenso ungenau wie die direkte Ableitung der Bio-Kost aus der Lebensreform. Die Lebens- als Ernährungsreform ist maßgeblich durch den Vitalismus beeinflusst. Die Vorstellung einer dem Menschen immanenten Vitalkraft bildete sich im 18. Jahrhundert heraus, als Reaktion auf die Lehre von der Maschine Mensch. Der Vitalismus betonte dagegen das ganzheitliche Zusammenwirken von Seele und Körper. Dieses principe vital wurde einflussreich über jene Zivilisationskritik verbreitet, die Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) vertrat. Aus der Naturphilosophie ergaben sich Verbindungen zur Naturmedizin. Sie behauptet apriorisch einen jeweils heilenden Wert von Wasser, Luft oder Sonne. Ihre Heilmethoden wurden bald um eine Naturnahrung vor allem aus Getreideprodukten ergänzt, welche die Genesung angeblich beschleunigte. Noch heute einflussreiche Verfechter sind Wilhelm Hufeland (1762-1836), Johann Schroth (1798-1856) und Sylvester Graham (1794-1851), der Pionier des Vollkornbrotes.

Nach 1880 formierte sich die Lebensreform. Sie unterschied sich noch deutlicher von der Humoralpathologie als die Naturheilkunde. Hatten diejenigen, die sich auf Hippokrates und Galen beriefen, Fleischkost bisher als besonders wertvoll empfohlen, so wandten sich manche Reformer dem Vegetarismus zu. Einen noch stärkeren Bruch mit der Tradition nahm die Rohkostlehre vor. Bisher hatte man großen Wert auf die Zubereitung der Kost gelegt, um deren Verdaulichkeit zu verbessern. Die Rohkostlehre verlangte dagegen, pflanzliche Kost nur gering verarbeitet zu verspeisen, um die bis dahin als unverdaulich oder giftig geltenden pflanzlichen Faserstoffe aufzunehmen. Bis heute einflussreiche Rohköstler sind Emil Drebber (1873-1943) und Max-Oskar Bircher-Benner (1867-1939).

Die Lebensreform war keineswegs rückwärtsgewandt, sondern befasste sich mit zeitgenössischen Herausforderungen. In Deutschland oder den USA standen spätestens um 1900 Lebensmittel in größerer Auswahl und ausreichend für jedermann zur Verfügung. Die moderne Mühlentechnik erzeugte preiswerte Weißmehlprodukte, in Deutschland verzehnfachte sich zwischen 1850 und 1900 der Pro-Kopf-Verbrauch von Zucker, ebenfalls zuvor ein Luxusprodukt. Es war die Leistung der Lebensreform, diesen quantitativen Überfluss als qualitativ mangelhaft darzustellen. Die Zivilisationskrankheiten wurden so zur Folge einer falschen Kost. Außerdem musste die Lebensreform ihre Behauptungen wissenschaftlich belegen. Es wurde versucht, den Vitalismus mit Prinzipien aus Chemie oder Physiologie in Einklang zu bringen. Dabei ging man nicht selten mit dubiosen Mitteln vor, zog aus richtigen Beobachtungen falsche Schlüsse oder entwickelte falsche Erklärungen für durchaus richtige Therapien.

Der Mediziner Mikkel Hindhede (1862-1934) zum Beispiel interpretierte die Vorgänge in seinem Heimatland Dänemark während des Ersten Weltkriegs als gigantisches Experiment. Denn selbst in dem nicht kriegführenden Land wurde eine schwere Versorgungskrise ausgelöst. Die dänische Regierung rationierte tierische Produkte und Alkohol. Daraufhin sanken die Sterbe- und Krankheitsraten. Hindhede legte dies als Beweis für die Reformgedanken aus: Falsche Ernährung schwächte die Lebenskraft. Sie war durch laktovegetabile Kost, Sonnen- und Luftbäder und vor allem durch Abhärtung wiederzuerlangen, was Hindhede in die Nähe der NS-Bewegung brachte. Max-Oskar Bircher-Benner war der einflussreichste Ernährungsreformer des deutschen Sprachgebietes. Die Wirkung seiner Reformkost erklärte er mit der Idee von Lichtquanten, die der menschliche Körper beim Verzehr von Baumfrüchten, Beeren, Nüssen, Feld- und Körnerfrüchten und ungekochter Milch aufnehme. Unterversorgung mit Lichtquanten schwäche die Lebenskraft und mache krank. Positiv dagegen sollte sein lichtquantenreiches Müsli wirken.

Die Ernährungs- als Teil der Lebensreform war zwischen 1890 und dem Zweiten Weltkrieg vor allem in Deutschland die bedeutendste "alternative" Reformbewegung. Viele Lebensreformer stellten sich nach 1933 in den Dienst des Nationalsozialismus, wie auch viele prominente Nazis Anhänger der Reform waren. Dies versah nach 1945 die gesamte Lebens- und Ernährungsreform mit dem Verdacht, Teil der NS-Bewegung gewesen zu sein. Daher führte die Ernährungsreform in der frühen Bundesrepublik eher eine Nischenexistenz. Die Übergänge von der Lebensreform zur Öko-Bewegung waren deshalb, über den Einfluss der USA, durch Organic Food und Negative Nutrition, durch Diskontinuitäten geprägt.

Internationaler Ernährungsstil

Der Internationale Ernährungsstil gibt eine weitere Antwort auf die Frage nach gesunder Ernährung: Eine Ernährung ist gesund, wenn sie von der Wissenschaft empfohlen, von der Industrie hergestellt und von der Regierung kontrolliert wird. Dabei spielen Ernährungswissenschaften und -industrie sowie die staatliche Lebensmittelkontrolle und die entsprechenden Ernährungslehren eine zentrale Rolle. Der Internationale Ernährungsstil bildete sich zwischen 1870 und 1940 in den USA heraus, eine Folge des umfassenden Wandels der wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen in einem sich verändernden internationalen Machtgefüge.

Nach 1900 begann der deutschsprachige Raum allmählich jenen Spitzenplatz zu verlieren, den er im 19. Jahrhundert in den Naturwissenschaften gehalten hatte. Zum wichtigsten Forschungszentrum wurden die USA. Ernährungswissenschaftler wie Russell H. Chittenden (1856-1943) oder Elmer McCollum (1879-1967) verfügten an der Yale Universität über Forschungslabore mit einer Ausstattung, die ihre europäischen Kollegen nicht besaßen. Die Spitzenforschung verlagerte sich in die USA; so nach 1920 die über Vitamine und nach 1950 diejenige über Wohlstandskrankheiten. Neben den Universitäten förderten die Regierungen die Forschung, so besonders das Bureau of Chemistry des Landwirtschaftsministeriums in Washington. Es unterstand seit 1906 Harvey Washington Wiley (1844-1930), dem führenden Kopf der Pure-Food-Bewegung, einer Reaktion auf die zahllosen damaligen Lebensmittelskandale. Wiley war maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass 1906 die Federal Food and Drug Administration (FDA) gegründet worden war. Die Aufgabe der behördlichen Kontrollinstanz bestand darin, bundesweit gegen Verfälschung und Hygienemängel bei Lebensmitteln und Medikamenten vorzugehen, was empirische Forschung voraussetzte. Aus der Tätigkeit der Forschungsinstitute und Kontrollbehörden entstanden im Zweiten Weltkrieg jene recommended daily allowances (RDAs), die seitdem weltweit wissenschaftliche Normen für die gesunde Kost setzen.

Dabei waren die Übergänge zur Industrieforschung fließend. Erzeugerverbände (etwa die der Milchproduzenten) und Großkonzerne führten selbst in erheblichem Maße empirische Studien durch. Diese waren durch zwei Motive bestimmt, welche die Industrieforschung bis heute prägen: mögliche Kritik an Hygiene und Qualität durch Verbraucherbewegungen von vornherein zu unterbinden und Produktinnovationen zu ermöglichen. In den USA hatte sich seit dem Sezessionskrieg (1861-1865) eine bis dahin weltweit einmalige Lebensmittelindustrie entwickelt. Sie versorgte immer mehr Verbraucher mit verarbeiteter Kost, etwa Frühstückszerealien, Obst- und Gemüsekonserven oder Würzsaucen. Da der Versorgungsstand selbst in der Großen Depression (1929-1941) hoch blieb, versuchten die Unternehmen, ihre Produktpalette zu erweitern oder schon eingeführte Erzeugnisse mit Zusatzleistungen zu versehen. So kamen bis in die 1930er Jahre Fertigmenüs, Tiefkühlkost, Vitaminpillen und angereichertes Mehl zu den Verbrauchern.

Die gute Versorgungslage in den USA war ein wichtiger Impuls für die Werbung. Hier trafen sich die Interessen der Lebensmittelindustrie mit denjenigen einer Gruppe von Sozialreformern, die an den Ideen von Ellen S. Richards (1842-1911) und Mary Hinman Abel (1850-1938) orientiert waren. Deren Konzept, die Neue Ernährung, hatte die gesunde Mischkost in die USA gebracht, und zwar zunächst aus sozialpolitischen Erwägungen: Die Unterschichten konnten durch preiswertes und gutes Essen Geld für bessere Wohnungen, Kleidung und Bildung sparen. Diese Ideen beeinflussten nach 1900 jene Hauswirtschaftslehre, die in Schulen und Colleges besonders an junge Frauen aus der Mittelschicht vermittelt wurde. Dabei verschob sich der Reformgedanke allmählich von finanziellen zu gesundheitspolitischen Motiven. Der Wandel wurde durch wissenschaftliche Erkenntnisse, etwa über Vitamine, und durch einen weiteren Boom der Industrieerzeugnisse noch beschleunigt. Aus der Neuen Ernährung entstand so bis zum Zweiten Weltkrieg der Internationale Ernährungsstil.

Die amerikanische Hausfrau wurde zur Familienmanagerin aufgewertet. Als Familienköchin stand sie allerdings vor einer schwierigen Aufgabe. Gefordert war nun eine abwechslungsreiche, gesunde, nicht zu kostspielige und leistungsoptimierende Kost. Die Anleitung dazu konnten die Hausfrauen den prosperierenden Massenmedien entnehmen. In den 1920er Jahren entstand eine journalistische Praxis, die bis heute angewandt wird: Die Ernährungsredaktionen in Zeitschriften oder (später) im Fernsehen griffen auf die Rezeptdienste von Großkonzernen zurück. Deren Menüvorschläge zu übernehmen verband die Interessen von Herausgebern und Werbeabteilungen. Die Hausfrauen kochten die Rezepte unter Verwendung der beworbenen Produkte zu Hause nach. Es war die moderne Hausfrau, die zunächst in den USA, von den 1950er Jahren an auch in Westeuropa die Esskultur neu bestimmte. Diese Kost hat durchaus positive Aspekte: Zweifellos ist die Wertschätzung von Früchten, Milch und Gemüse ein Fortschritt gegenüber der Kost des 19. Jahrhunderts.

Negative Nutrition

Seit Ende der 1950er Jahre verbreitet sich, ausgehend von den USA, eine weitere Antwort auf die Frage nach gesunder Ernährung: Diese gibt nicht mehr an, was Menschen nach Herzenslust, in Maßen oder jedenfalls ohne Bedenken zu sich nehmen können, wie es die Ernährungslehren zuvor getan hatten. Die neue Lehre empfahl ihren Anhängern vor allem eines: grundsätzliche Skepsis gegenüber allen Ratschlägen von Wissenschaftlern, Behörden, Werbewirtschaft und besonders gegenüber den Erzeugnissen der Lebensmittelindustrie. Wegen ihrer kritischen Grundtendenz wurde dieses Konzept daher von Warren J. Belasco Negative Nutrition genannt. Es ist heute die Basis für einflussreiche Verbraucherbewegungen. Negative Nutrition steht mit kritischer Ernährungsforschung, mit Umwelt- und Verbraucherschutz in enger Verbindung.

Für die kritische Ernährungsforschung war die Framingham-Studie von herausragendem Wert; mit ihr begann 1950 die systematische Suche nach den Ursachen der damals dramatisch zunehmenden kardiovaskulären Krankheiten. Dabei richtete man die Untersuchung auf den Lebensstil aus. Beobachtet wurde über mehr als vier Jahrzehnte hinweg eine Stichprobe von anfangs 6507 Personen aus der Kleinstadt Framingham in Massachusetts. Dabei ermittelte die Studie sechs Risikofaktoren: Bluthochdruck, Rauchen, ein geringes Ausmaß körperlicher Aktivitäten, Blutfettwerte, hohes Übergewicht und Diabetes. Die letzten drei Faktoren erwiesen sich durch die Ernährung beeinflusst, ja, es zeigte sich, dass die bisher angepriesene Kost mit ihren hohen Anteilen an tierischem Fett und Eiweiß maßgeblich an der Entstehung von Herzkreislauferkrankungen beteiligt war. Ab 1961, mit Bekanntwerden der Cholesterin-Studien, schien es so, als wäre die bis dahin empfohlene Kost überhaupt todbringend. Ein großer Teil dessen, wozu die Experten bisher geraten hatten, Milch, Butter und Rindfleisch, enthielt eine Substanz, die (angeblich) Herzinfarkte und Schlaganfälle auslöste.

Damit war eine neue Dimension von Ernährungsängsten erreicht. Cholesterin konnte man durch Verzehr von Margarine und cholesterinfreien Dressings vermeiden. Zudem wurde erkannt, dass der Internationale Ernährungsstil nur nordwesteuropäische Traditionen berücksichtigte. Waren die Küchen der Mittelmeerländer, Japans oder Chinas nicht viel gesünder? Die folgende, langjährige Debatte veränderte allmählich die offiziellen Ratschläge für gesunde Kost. Erstmals 1977 wandte sich das Repräsentantenhaus der Negative Nutrition zu: Amerikaner sollten weniger Fleisch und tierisches Fett zu sich nehmen und stattdessen Fisch, Olivenöl, Früchte, Gemüse und Getreideprodukte verspeisen. Ähnlich wandelten sich seitdem die Ernährungsratschläge der DGE; die jüngste Debatte um die "Ernährungsampel" soll zumindest erwähnt werden.

Vorangetrieben wurde Negative Nutrition durch eine Flut von Umwelt- und Ernährungsskandalen, die wiederum zunächst die USA erschütterten. Die lange Liste beginnt 1958 mit der Erkenntnis, dass chemische Zusatzstoffe in Lebensmitteln Krebs auslösen. Additive, Pestizide und Herbizide gerieten in den Fokus der Kritik, nicht zuletzt durch die bahnbrechende Studie von Rachel Carson (1907-1964) über deren verheerende Wirkungen auf Wildtiere. Es folgten zahllose weitere Skandale: Quecksilber in Fisch, Botulismus durch Pizza, Arsen in Hühnern, Hormone im Rindfleisch und Salmonellen in der Dosensuppe. Das Resultat war, dass sich, wiederum zuerst in den USA, eine neue Verbraucherbewegung formierte. Sie wurde zusätzlich durch ein traditionelles Problem befeuert. Im Juli 1967 wiesen der Verbraucheranwalt Ralph Nader und der Journalist Nick Kotz nach, dass Industriefleisch zumeist von sogenannten 4D-Tieren (dead, dying, diseased, disabled) stammte.

Ein Höhepunkt in der Eskalation der Umwelt- und Ernährungsängste war zu Beginn der 1980er Jahre erreicht: 1979 ereignete sich der Unfall im Atommeiler von Harrisburg, 1986 trug sich die bisher größte Katastrophe bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie im heute ukrainischen Tschernobyl zu. Damals wurden Pilze und Beeren aus dem Wald und selbst Muttermilch suspekt. Zeitgleich erreichte Negative Nutrition breitenwirksam die Bundesrepublik Deutschland. Schon 1982 hatte die Kölner Katalyse-Umweltgruppe die zahlreichen Dubiositäten der modernen Industriekost zusammengefasst: Wurstwaren enthielten schädliche Emulgatoren, Geflügel war durch Salmonellen belastet, in Fluss- und Seefischen fanden sich große Mengen von Blei, Kadmium, Pestiziden und Phosphaten. Mit der angeblich gesunden Kuhmilch nahm man Pflanzenschutzmittel wie DDT, Lindan, Schwermetalle wie Thallium oder sogar Rattengift auf.

Eine wichtige Folge der Negative Nutrition ist eine seitdem ungebrochene Konjunktur des Vegetarismus und Veganismus sowie der Bio-Kost. Weiterhin führte Negative Nutrition zur Gründung von Verbraucherorganisationen nach dem Vorbild des Umweltschutzes, besonders von Greenpeace. Ein gutes Beispiel dafür gibt die Organisation Foodwatch ab, die aktuell von Thilo Bode geleitet wird: Foodwatch ist durch tiefe Skepsis vor allem gegen die hoch technisierte Lebensmittelproduktion geprägt und fordert umfassende Kontrollen der Großkonzerne.

Gesunde Ernährung und Lebensstil

Negative Nutrition trug maßgeblich dazu bei, dass sich zahlreiche weitere Antworten auf die Frage nach der gesunden Ernährung herausgebildet haben. Diese stehen allerdings in enger Beziehung zu den bisher genannten Lehren. Was die neuen Konzepte von gesunder Mischkost, Naturkost oder Negative Nutrition unterscheidet, ist zumeist ihre Verbindung mit zwei wichtigen soziokulturellen Veränderungen der vergangenen 40 Jahre.

In diesem Zeitraum hat sich erstens eine neuartige Verbindung von sozialem und Bildungsstatus mit Gesundheitsbewusstsein eingestellt. Die (manchmal übertriebenen) Horrormeldungen über die Gefahren durch Umwelt und Ernährung veränderten vor allem das Verhalten der Mittel- und Oberschichten. Die Unterschicht genießt bis heute gerne salzige Snacks sowie extrem Süßes und sieht ein großes Stück Fleisch auf dem Teller immer noch als Indiz für Wohlstand und Wohlergehen an. Zudem ist in der Unterschicht das Rauchen weiter verbreitet. Für die besonders durch Bildung Privilegierten gehören dagegen häufig optimale Blutwerte und geringes Körperfett zu den wichtigsten Indikatoren einer richtigen Ernährung, ebenso wie die regelmäßig erfreulich verlaufenden Checkups beim Hausarzt. Erreicht wird dies angesichts des immer vielfältiger werdenden Angebotes an Lebensmitteln durch lebenslangen Verzicht bzw. permanentes Diät-Halten, mitunter erleichtert durch Konzepte wie Slow Food oder LOHAS (lifestyle of health and sustainability, Lebensstil für Gesundheit und Nachhaltigkeit). Diese soziokulturelle Polarisierung durch gesunde Kost und ausreichende Bewegung oder eben deren Fehlen zeigt sich inzwischen sehr deutlich am Taillenumfang der verschiedenen sozialen Schichten, vor allem in den USA: Dort bringen Menschen aus den Unterschichten, besonders Frauen und Personen afrikanischer oder mexikanischer Herkunft, im Durchschnitt erheblich mehr Gewicht auf die Waage als Wohlhabende und Gebildete.

Im selben Zeitraum wurde zweitens die Orientierung an Lebensstilkonzepten immer populärer. Diese bestimmen inzwischen oft die jeweils typischen Ernährungsweisen. Die Verbindung mit der oben erwähnten sozialen Polarisierung ist dabei ebenso offenkundig wie die bis heute weiterwirkenden Kontinuitäten zu Humoralpathologie, gesunder Mischkost, Lebensreform, Internationalem Ernährungsstil oder Negative Nutrition. Eine besondere Rolle spielt dabei die Bio- oder Öko-Kost. Functional Food dagegen bezeichnet Lebensmittel, die zusätzlich mit Vitaminen oder Bakterienkulturen angereichert werden. Die begleitende Werbung behauptet dabei einen positiven Effekt auf die Gesundheit. Fine Food meint vor allem teure und Luxusprodukte, deren Verbrauch sich in Deutschland ebenfalls seit den 1970er Jahren im Rahmen der so genannten Edelfresswelle erheblich erhöht hat. Dass Fine Food mit gehobenen Einkommen einhergeht, liegt auf der Hand. Ethno-Food beschreibt dagegen die ungebrochene Konjunktur von Speisen, die nicht aus der nordwesteuropäischen Küchentradition stammen. Sofern Ethno-Küche mit ostasiatischer Kost einhergeht, gilt sie mitunter auch als gesünder. Mit Wellness-Lebensmitteln wird die Behauptung verbunden, dass deren Verbrauch - etwa von bestimmten Joghurt-Kulturen oder Kräuteressenzen - das allgemeine Wohlbefinden stärken solle. Dabei existiert ein breiter Übergang von (angeblich) wissenschaftlich nachgewiesenen Wirkungen bis zu Begründungen, die besonders aus dem Ayurveda stammen. Convenience-Produkte schließlich sind praktisch für die Verbraucher, nach Aussagen der Erzeuger frisch, hygienisch und schmackhaft und stehen daher vielleicht am eindeutigsten in der Tradition der normierten Industriewaren des Internationalen Ernährungsstils. Und natürlich sind alle diese Lebensstilprodukte nach Angaben der Hersteller auch gesund ...

Resümee

Geschichtswissenschaftler beschreiben eher gesellschaftliche Entwicklungen und versuchen diese zueinander in Beziehung zu setzen. In dieser Hinsicht immerhin sollte deutlich geworden sein: Die jeweiligen Definitionen gesunder Ernährung sind erstens von sehr allgemeinen Referenzsystemen abhängig. Diese beruhen auf vielfältigen Faktoren wie Wirtschaft, Technik, Wissenschaft, Moden und allgemeinen Glaubenssätzen. Zweitens führen diese Referenzsysteme als Traditionen beinahe ein Eigenleben, so dass es mitunter den Zeitgenossen kaum möglich ist, Herkunft und Ausrichtung der jeweiligen Konzepte für eine gesunde Kost überhaupt richtig einzuschätzen. Drittens: Gesunde Ernährung ist nicht einfach da, sondern eher eine nie endende Herausforderung, die sich in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder von Neuem stellt. Dabei wissen wir heute selbst nach Jahrzehnten exzellenter Ernährungsforschung mehr über schädliche als über gesundheitsfördernde Auswirkungen unserer Kost.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Darstellung folgt Detlef Briesen, Das gesunde Leben. Ernährung und Gesundheit seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2010.

  2. Vgl. Paul Potter/Beate Gundert, Hippokrates aus Kos, in: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 15, Stuttgart 1998, Sp. 590-599.

  3. Vgl. Werner Kollath, Die Ordnung unserer Nahrung, Stuttgart 1942; Ernst Kofrányi/Willie Wirths, Einführung in die Ernährungslehre, Frankfurt/M. 199411.

  4. Vgl. Jacob Moleschott, Lehre der Nahrungsmittel. Für das Volk, Erlangen 18583.

  5. Vgl. Christoph Wilhelm Hufeland, Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern, Jena 1797.

  6. Vgl. Mikkel Hindhede, Die neue Ernährungslehre, Dresden 1922.

  7. Vgl. Max-Oskar Bircher-Benner, Kranke Menschen in diätetischer Heilbehandlung, Zürich 1944.

  8. Vgl. für das Folgende: Harvey A. Levenstein, Revolution at the Table: The Transformation of the American Diet, New York 1988; ders., Paradox of Plenty: A Social History of Eating in Modern America, New York 1993.

  9. Vgl. Ellen H. Richards, The Costs of Living as Modified by Sanitary Science, New York 1900.

  10. Vgl. Warren J. Belasco, Appetite for Change: How the Counter Culture Took on the Food Industry, 1966-1988, New York 1989.

  11. Vgl. Rachel Carson, The Silent Spring, Boston 1963.

  12. Vgl. Katalyse-Umweltgruppe Köln e.V. (Hrsg.), Chemie in Lebensmitteln, Köln 1982.

  13. Vgl. Thilo Bode, Abgespeist. Wie wir beim Essen betrogen werden und was wir dagegen tun können, Frankfurt/M. 2007.

  14. Vgl. Kenneth F. Kiple, A Movable Feast. Ten Millennia of Food Globalization, Cambridge 2007, S. 253ff.

Dr. phil., geb. 1957; Privatdozent im Fach Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen, FB 04, Otto-Behaghel-Straße 10 G, 35394 Gießen. E-Mail Link: detlef.briesen@geschichte.uni-giessen.de