Einleitung
Nachdem in Deutschland im internationalen Vergleich mit Verspätung registriert worden ist, dass es auch hierzulande eine erhebliche sozial bedingte Ungleichheit gesundheitlicher Zustände in der Bevölkerung gibt, lässt sich seit etwa einem Jahrzehnt ein emsiges Sammeln von sozialepidemiologischen Daten beobachten. Diese Daten sollen darüber Auskunft geben, welche Bevölkerungsgruppen aufgrund welcher Merkmale besonders von Krankheiten und vorzeitigem Tod bedroht sind.
Aus der Literatur wissen wir zunächst, dass das verfügbare Einkommen für eine Reihe von Krankheiten und für die Lebenserwartung eine sehr bedeutsame Rolle spielt.
Auch das Bildungsniveau wird in sozialepidemiologischen Studien immer wieder als besonders relevante Stellgröße für die individuelle Gesundheit hervorgehoben.
Das verfügbare Einkommen und das erreichte Bildungsniveau sind aber keineswegs die einzigen gesundheitsrelevanten Ressourcen. Wir wissen ferner, dass sich beispielsweise die berufliche Position, Arbeitslosigkeit oder die Beschaffenheit des sozialen Nahraums - zum Beispiel ein sozial segregierter Wohnort oder eine Hochhaussiedlung, die als sozialer Brennpunkt gilt - ungünstig auf die Gesundheit auswirken. Insbesondere für räumliche Effekte auf die Gesundheit liegen für Deutschland sehr wenige Daten vor. Ein Seitenblick auf die USA offenbart im Hinblick auf gesundheitliche Ungleichheit ein Schreckensszenario: "Research (...) using official data from twenty-three rich and poor areas in the United States found that white women who had reached the age of sixteen and were living in the richest areas could expect to live until they were eighty-six years old, compared to seventy for black women in the poorest areas of New York, Chicago, and Los Angeles - a difference of sixteen years. Similarly, sixteen-year-old white men living in rich areas could expect to live until they were seventy-four or seventy-five, whereas black men in the poorest areas could expect to live to only about fifty-nine. The difference in life expectancy between whites in rich areas and blacks in poor areas of the United States was close to sixteen years for both men and women."
In den Gesundheitswissenschaften und der Sozialepidemiologie liegen mittlerweile eine große Anzahl von Untersuchungen, Studien und Daten vor, mit denen sich das bedrohliche Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheit auch für Deutschland abschätzen lässt. Dass es gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland gibt, ist eindeutig. Offen ist im Augenblick, ob sie in den vergangenen Jahren zugenommen hat - wofür einige Anzeichen sprechen - und wie die stetige Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit zu erklären ist.
Sozialepidemiologische Erklärungen
Die Abhängigkeit des individuellen Gesundheitszustands von bestimmten Einflussgrößen kann zunächst einmal nicht überraschen. Das Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, ist für einen Tiefbauarbeiter, der dreißig Jahre lang Kaltasphalt auf Straßen aufträgt, höher als für einen Hartz-IV-Case-Manager, selbst wenn beide Raucher sind. Auch ist unmittelbar einsichtig, dass heruntergekommene, nicht sanierte Wohnquartiere durch Schimmelpilzbefall, Feuchtigkeit oder Lärmbelastungen größere Krankheitsrisiken für die Bewohnerinnen und Bewohner mit sich bringen als ein Wohnen in gediegenen, wohlhabenden Vierteln.
Diese mehr oder weniger unmittelbaren Effekte des Zusammenhangs von Arbeits- und Umweltbelastungen einerseits sowie gesundheitlichem Zustand und Krankheitsrisiko andererseits werden dann wesentlich komplexer, wenn die statistisch signifikanten Zusammenhänge zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit, dem erreichten Bildungsniveau und dem verfügbaren Einkommen auf der einen Seite sowie den Krankheitsrisiken und sozial ungleichen Sterblichkeitsraten auf der anderen Seite erklärt werden sollen. Um den Befund zu erklären, dass eine niedrige Schichtzugehörigkeit oder ein geringer Bildungsabschluss mit spezifischen Krankheitsrisiken und vorzeitigem Tod einhergeht, sind eine Reihe von - in der Regel sehr impliziten - Zusatzannahmen notwendig. Denn solche Sozialstrukturindikatoren wie Einkommen, Bildung oder soziale Schicht folgen stets einer Ressourcenlogik: Ein hoher sozialer Status, hohes Einkommen, hohes Bildungsniveau gehen mit vielen Handlungsressourcen, ein geringer Sozialstatus, geringes Einkommen, geringes Bildungsniveau mit entsprechend wenigen Handlungsressourcen einher.
Nun ist die Verfügbarkeit über ein monatliches Bruttoeinkommen von nur 1500 Euro oder ein erreichter Hauptschulabschluss nicht unmittelbar ein gesundheitsgefährdender Tatbestand. Theoretisch lässt sich selbst mit relativ wenig Geld in hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaften ebenso ein gesundheitsverträgliches Leben führen wie mit einem Hauptschulabschluss, wenn einmal die durchaus wahrscheinlichen, anhängenden gesundheitsschädigenden Wohn- und Arbeitsbedingungen außer Acht gelassen werden.
Kulturelle und milieuspezifische Differenzen
Was die Sozialepidemiologie nicht oder nur unzureichend zu erklären vermag, ist, warum sich Individuen bzw. nach bestimmten Merkmalen definierte Gruppen von Menschen (statistische Aggregate) so verhalten, wie sie sich eben verhalten - oder mit den Worten des britischen Gesundheitswissenschaftlers Michael Marmots: Wenn individuelles Gesundheitsverhalten die Ursache (cause) für gesundheitliche Ungleichheiten ist, was sind dann die causes of the causes? Wird individuelles Gesundheitsverhalten aus einer Ressourcenlogik heraus erklärt, dann haben die gesundheitlichen Risikogruppen entweder nicht genug Geld, um gesundheitszuträglich zu leben, oder sie sind aufgrund ihres geringen formalen Bildungsniveaus nicht in der Lage, ihr Gesundheitsverhalten mittel- und langfristig einschätzen zu können, und verhalten sich deshalb gesundheitsabträglich. Bisweilen gilt sogar beides.
Solchen (hier in der kritischen Zuspitzung überzeichneten) sozialepidemiologischen Erklärungsansätzen, die soziale Großgruppenkategorien wie Einkommensschwache oder Bildungsferne unmittelbar mit individuellem Verhalten in Verbindung bringen, fehlt eine Dimension, die sich nicht ohne Weiteres in eine messbare Variable übertragen lässt.
Individuelles Verhalten und individuelle Lebensführung wird im Rahmen eines Ansatzes, der vor allem auf die kulturelle Seite alltäglicher Lebenspraxis schaut, durch die Zugehörigkeit zu sozialen Milieus erklärt. Soziale Milieus sind als kulturelle Verdichtungen traditionsreicher sozialer Gruppen (Arbeiterklasse, Kleinbürgertum, herrschende Klasse, Subproletariat) mit unterschiedlichen verfügbaren Handlungsressourcen zu verstehen. Erst durch die Zugehörigkeit zu spezifischen sozialen Milieus - so unsere These im Anschluss an die Arbeiten von Vester und anderen - erhalten soziale Praktiken, Alltagsroutinen und Bewertungsmuster von Gesundheit ihren individuellen sowie ihren sozialen Sinn.
Um also - so lässt sich zusammenfassen - die Verhaltensdifferenzen von Menschen befriedigend zu erklären, sind klassenkulturelle, nach sozialen Milieus unterschiedene Wahrnehmungen der sozialen Welt und der Einschätzung und Wertschätzung von individuellen Verhaltensweisen als überindividuelle, Sinn setzende Verhaltensstrukturierungen zu berücksichtigen, mit denen die vorhandenen Unterschiede in den verfügbaren Handlungsressourcen milieuspezifisch interpretiert und symbolisch in Wert gesetzt werden. Diese Perspektive lässt sich als Ethnologie der eigenen Gesellschaft bezeichnen und ist prominent von Irving Goffman und Pierre Bourdieu vertreten worden. Die Einnahme eines solchen ethnologischen Blicks auf die Verhaltensweisen der einheimischen Bevölkerungsgruppen, wie er hier für die Gesundheitswissenschaften und Sozialepidemiologie eingeklagt wird, erlaubt es, die Kontextgebundenheit individuellen Gesundheitsverhaltens präziser zu bestimmen als ausschließlich ressourcenorientierte Ansätze. Die Ethnologie lässt sich hier nutzen als eine spezialisierte Wissenschaft zur Erforschung kultureller Differenzen.
Ethnische Zugehörigkeit
Die milieuspezifischen klassenkulturellen Differenzlinien sind nicht die einzigen kulturellen Differenzen, die in einer hoch entwickelten und modernen Industriegesellschaft auffindbar sind. Das Bild sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit wird noch einmal komplexer, wenn die zweite große kulturelle Differenzierungslinie, die ethnische Zugehörigkeit, ins Blickfeld gerät. Die Sozialepidemiologie hat eine ganze Reihe von zum Teil widersprüchlichen Befunden zusammengetragen, ob Menschen mit anderen ethnischen Zugehörigkeiten als der deutschen beziehungsweise Menschen mit Migrationshintergrund (im Folgenden werden diese beiden Bezeichnungen der Lesbarkeit halber synonym verwendet) innerhalb Deutschlands als besondere gesundheitliche Risikogruppe betrachtet werden müssen oder aber - im Gegenteil - sogar einen gegenüber Deutschen besseren durchschnittlichen Gesundheitszustand aufweisen.
Besonders auffällig sind Migranten aus einer gesundheitswissenschaftlichen Perspektive dann, wenn sie zwar überproportional in einer niedrigen sozialen Schicht anzutreffen sind, sich daraus aber kein erhöhtes Krankheits- und Sterblichkeitsrisiko ergibt: "Innerhalb der nicht migrierten Bevölkerungsgruppen ist hinreichend bekannt, dass ein niedrigerer sozialer Status mit erhöhten Risiken für Krankheit und vorzeitigen Tod einhergeht (...). Paradoxerweise haben Migranten aber trotz ihrer sozialen Benachteiligung oftmals eine niedrigere Sterblichkeit als die Allgemeinbevölkerung (...). Dieser Vorteil ist zum Teil ausgeprägt."
Anderseits weisen Menschen mit Migrationshintergrund durchaus auffällige einzelne Gesundheitsbelastungen auf. So sind Tuberkuloseinfektionen bei Migranten gegenüber der deutschen Bevölkerung ebenso signifikant erhöht wie die Säuglingssterblichkeit (in deutschen Krankenhäusern!). Die subjektive Zufriedenheit mit dem eigenen gesundheitlichen Zustand ist bei türkischen Männern ab einem Alter von 44 Lebensjahren gegenüber deutschen Männern, aber auch gegenüber Männern aus anderen Anwerbeländern, deutlich niedriger. Und schließlich ist das Risiko, an Fettleibigkeit zu leiden, bei nichtdeutschen Frauen ab einem Alter von 40 gegenüber deutschen Frauen signifikant erhöht.
Für den vorliegenden Argumentationszusammenhang ist es weniger zentral, ob nun Angehörige von ethnischen Minderheiten positiv oder negativ auffällig sind in Hinblick auf Krankheitsrisiken und Sterblichkeitsraten, sondern dass sie zunächst unabhängig von der Richtung des statistischen Effekts in der Regel (aber nicht immer) eine statistisch signifikante Gruppe bilden. Auch diese Differenzen zwischen Angehörigen ethnischer Minderheiten und der deutschen Mehrheitsgesellschaft werden mit großer Wahrscheinlichkeit durch individuelle Verhaltensunterschiede hervorgerufen. Und ebenso wie bei den milieuspezifischen kulturellen Differenzen ist auch bei den kulturellen Differenzen im Gesundheitszustand entlang ethnischer Differenzierungslinien davon auszugehen, dass es sich hier um alltägliche individuelle Verhaltensunterschiede handelt, die durch überindividuelle Normen und Werte strukturiert sind. Aber anders als bei den klassenkulturellen milieuspezifischen Differenzen liegen die ethnischen Differenzen zunächst einmal quer zu einer ungleichen Ressourcenlogik.
Soziale Ungleichheiten in den durchschnittlich verfügbaren Handlungsressourcen zwischen der Migrationsbevölkerung und der deutschen Mehrheitsgesellschaft spielen eine wichtige Rolle - die (klassen-)kulturell verankerten gesundheitsbezogenen Differenzen zwischen Migranten und Nicht-Migranten gehen aber nicht darin auf. Ebenso bedeutsam für die Gesundheit sind beispielsweise Verhaltensweisen, die aus kulturellen Ernährungs- und Bewegungsvorschriften hervorgehen oder kulturell unterschiedliche Vorstellungen von Krankheitsursachen und Gesundheitskonzepten transportieren.
Diese kulturellen Differenzen werden traditionell von der Medizinethnologie beschrieben. Dabei werden in den klassischen Texten andere als die modernen bio-medizinischen Krankheits- und Gesundheitskonzepte empirisch und kulturvergleichend nachgezeichnet.
Gerade diese Analysen der Pluralisierung von Krankheitskonzepten und Gesundheitsvorstellungen dürften für multiethnische Industriegesellschaften wie Deutschland in hohem Maße gelten. Der Gesundheitswissenschaft wäre zum besseren Verständnis sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheiten gerade bei der Migrationsbevölkerung diese ethnologische Perspektive hilfreich, um die Ursachen hinter den Verhaltensdifferenzen sensibel nachzuzeichnen und als soziale Tatsachen, die individuelles Verhalten strukturieren, anzuerkennen. Wird die Erforschung und Thematisierung gesundheitlicher Ungleichheiten um eine ethnologische Perspektive ergänzt, ergeben sich wichtige gesundheitspolitische Konsequenzen, die abschließend skizziert werden sollen.
Gesundheitspolitische Konsequenzen einer ergänzenden ethnologischen Perspektive
Es ist breiter Konsens in den Gesundheitswissenschaften, aber auch in den gesundheitspolitischen Diskussionen, dass die mittlerweile auch für Deutschland empirisch gut beschriebenen bestehenden gesundheitlichen Ungleichheiten reduziert werden sollten. Die aktuellen Versuche zur Reduktion dieser sozialen Ungleichheiten zielen vor allem auf die Änderung gesundheitsschädlichen individuellen Verhaltens ab - mit starkem Fokus auf sozial benachteiligte Gruppen, den so genannten Risikogruppen.
Die hier vorgeschlagene Perspektive einer Verknüpfung von Ungleichheitsforschung und ethnologischer Perspektive, wie sie in den Werken von Pierre Bourdieu und Michael Vester zu finden ist, sollte für das Verständnis und die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten stärker als bislang fruchtbar gemacht werden. Aus einer solchen Perspektive wäre zunächst die aktuelle gesundheitspolitische Strategie zu überdenken. Denn wenn individuelles Verhalten durch überindividuelle kulturelle Kontexte vorstrukturiert wird, dann wird verständlich, warum Versuche, durch Aufklärungskampagnen, allgemeine Gesundheitserziehung und -bildung individuelle Verhaltensänderungen herbeizuführen, so häufig scheitern, selbst wenn für die Individuen unmittelbare Gesundheitsgewinne zu erwarten sind. Ernst zu nehmen wäre einmal mehr das strukturorientierte Motto der Weltgesundheitsorganisation (WHO): "Making the healthier choice the easier choice."
Die meisten Gesundheitswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sind sich darin einig, dass sich die Veränderung gesundheitsabträglicher gesellschaftlicher Verhältnisse nachhaltiger auf die Verbesserung des gesundheitlichen Zustands der Gesamtbevölkerung auswirkt als Maßnahmen zur Veränderung des individuellen Gesundheitsverhaltens. Das würde auch bedeuten, dass sich die Priorität bei der Reduktion gesundheitlicher Ungleichheiten zu einer umverteilenden Sozialpolitik verschiebt: Aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht ist die Existenz von Armut die wichtigste Ursache gesundheitlicher Ungleichheit. Will Gesundheitspolitik gesundheitliche Ungleichheit ernsthaft reduzieren und die auch in Deutschland markanten Differenzen in der Lebenserwartung unterschiedlicher sozialer Gruppen angleichen, dann sollte sie mit Armutsbekämpfung beginnen.
Auch aus einer ethnologisch ergänzten Perspektive wäre die Reduktion von Ressourcenungleichheiten ein primäres Ziel. Diese Sichtweise geht aber über die Thematisierung von Ressourcenungleichheiten hinaus und nimmt die symbolische Dimension kultureller Differenzen mit in den Blick. Denn soziale Ungleichheiten entfalten sich ebenso entlang von kulturellen Hierarchisierungen. So können zum Beispiel Angehörige von ethnischen Minderheiten oder unterprivilegierter Milieus auf der Grundlage ihrer (klassen-)kulturellen Bezugssysteme über andere Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit und entsprechend andere Verhaltensweisen als die definitionsmächtige einheimische Mittelschicht verfügen. Wenn diese aber durch den in Deutschland durch die Mehrheitsgesellschaft (selbst in seiner klassenkulturellen Differenziertheit) herrschenden Konsens über angemessene Verhaltensweisen oder Einstellungsmuster gegenüber Gesundheit und Krankheit (oder auch Prävention) als illegitime, unangemessene Verhaltensweisen wahrgenommen werden, dann schlagen kulturelle Differenzen um in gesundheitliche Ungleichheiten.
Die Handlungsdimension dieser Form gesundheitlicher Ungleichheit folgt keiner Ressourcenlogik, sondern einer Logik kultureller und symbolischer Abwertung. Gesundheitspolitik müsste sich zur Vermeidung solcher Ungleichheiten eine ethnologische Perspektive aneignen, die darauf abzielen würde, (milieuspezifische oder ethnische) kulturelle Differenzen, zunächst unabhängig davon, ob sie gesundheitszuträgliche oder gesundheitsabträgliche individuelle Verhaltensweisen provozieren, als gleichermaßen individuell handlungsmotivierend und sinnstiftend wahrzunehmen.
Damit wäre ein präziseres Verständnis gesundheitlicher Ungleichheit zu gewinnen. Erst in einem zweiten Schritt wäre dann zu überlegen, wie gesundheitsabträgliche und riskante Elemente kultureller Bezugssysteme - übrigens auch der deutschen Mittelschichtmilieus mit ihrem überzogenen Arbeitsethos - überwunden werden können. Denn aus einer ethnologischen Ergänzung der Gesundheitswissenschaften im Allgemeinen und der gesundheitlichen Ungleichheitsforschung im Besonderen folgt nicht die unkritische Feier aller kulturellen Differenzen, sondern ein genaueres Verständnis individueller gesundheitsabträglicher Verhaltensweisen.
Die normative Zielperspektive für eine entsprechende Gesundheitspolitik wäre die Kombination aus einer umfassenden Ressourcenumverteilung, der vorrangigen Veränderung gesellschaftlicher Institutionen und Strukturen in Richtung Gesundheitsförderung und der mittelfristigen Veränderung der kulturellen Bezugssysteme in Richtung Gesundheitszuträglichkeit bei prinzipieller Anerkennung und Akzeptanz kultureller Differenzen. Es lässt sich nicht bestreiten, dass wir im Moment von einer solchen Perspektive und Praxis in der Gesundheitspolitik noch sehr weit entfernt sind - umso dringender ist es, eine Veränderung in der Perspektive auf den Weg zu bringen.