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Integrationsrealität und Integrationsdiskurs | Anerkennung, Teilhabe, Integration | bpb.de

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Integrationsrealität und Integrationsdiskurs

Dietrich Thränhardt

/ 15 Minuten zu lesen

Sowohl in Deutschland als auch den Niederlanden hatte sich im Umgang mit Einwanderern ein Integrationskonsens entwickelt. Doch wieso ist nach Berichten über "nachholende Integration" nun die Rede von Integrationsunwilligkeit?

Einleitung

Der "Sarrazin-Effekt" in Deutschland 2010 ähnelte dem "Pim-Fortuyn-Schock" in den Niederlanden 2002. In beiden Fällen war die Lage im Land stabil und die Wirtschaftsentwicklung besser als in den Nachbarländern. Auch im Umgang mit Einwanderern schien Grund zum Optimismus zu bestehen. Ein Integrationskonsens hatte sich entwickelt, in den alle Parteien und gesellschaftlichen Gruppen eingebunden waren. Plötzlich aber schwenkte der Diskurs um. Die Thesen Pim Fortuyns im Jahr 2002 und Thilo Sarrazins im Jahr 2010 gerieten zur Sensation, alle Medien beschäftigten sich in großem Stil damit. Wie in den Niederlanden 2002 schien es auch in Deutschland ab August 2010 kein anderes Thema mehr zu geben. "Bild" und "Spiegel" starteten in nie dagewesener Gleichzeitigkeit mit Sarrazin-Vorabdrucken und hielten das Thema über Wochen in den Schlagzeilen. Andere Medien zogen mit, wenn auch eher kritisch, und auch eine Talkshow nach der anderen beschäftigte sich mit Sarrazins Provokationen. Beide Autoren verletzten gezielt die Spielregeln der demokratischen Debatte, wie sie nach 1945 beachtet worden waren. Sie bezweifelten grundsätzlich die Gleichheit aller Menschen und insbesondere die Fähigkeit von Muslimen, produktive Mitglieder einer modernen Gesellschaft zu werden. Die von allen Seiten hereinbrechende Kritik verstärkte den Sensationscharakter der Aussagen und schmückte beide mit der Märtyrer-Aura des mutigen Tabubrechers. Sarrazin klagte, er werde einem Schauprozess ausgesetzt. Nachweise sachlicher Unrichtigkeiten und Widersprüche gingen angesichts dieses Sensationalismus unter.

Wie sind die plötzlichen Brüche zu erklären? Wieso schwelgten die Niederlande zuerst im Multikulturalismus? Warum gilt der Begriff dort heute als diskreditiert? Wieso ist nach den vielen Berichten über "nachholende Integration" in Deutschland nun ständig die Rede von "Integrationsunwilligkeit"? Wieso wurden die bunt gemischten Fußballteams in Deutschland, Holland und auch in Frankreich bei ihren internationalen Erfolgen bejubelt und kurz darauf vergessen? Und was kann Deutschland aus der achtjährigen Xenophobie-Erfahrung in den Niederlanden lernen?

Multikulturalismus war seit den Reformen von 1979/80 Gegenstand niederländischen Stolzes und deutscher Bewunderung. Noch 1995 beschrieb die niederländische Regierung ihre Integrationspolitik als Vorbild für ganz Europa. Nach den Brandanschlägen von Solingen 1993 startete ein niederländischer Diskjockey eine Postkartenaktion, in der 1,2 Millionen Niederländer dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl eine Postkarte mit dem Text "Ich bin wütend" schickten - im Vollgefühl moralischer Überlegenheit über das Nachbarland. Die Niederlande definierten sich als "multikulturelles" Land und planten eine Politik der Toleranz und der Legitimität von Unterschieden. Volle und gleichberechtigte Partizipation, Verbesserung der sozialen und ökonomischen Situation, Angleichung des Rechtsstatus von Ausländern und Verhinderung von Diskriminierung wurden offizielle Ziele. Die Einführung des kommunalen Wahlrechts für Ausländer 1986 geriet zu einer Demonstration der Öffnung, als der christdemokratische Ministerpräsident Ruud Lubbers Moscheen und Hinduvereine besuchte. 1985 wurde die Einbürgerung vereinfacht, in den Jahren zwischen 1992 und 1997 prinzipiell die mehrfache Staatsangehörigkeit zugelassen. In dieser Phase übertrafen die Niederlande mit ihren hohen Einbürgerungsraten alle anderen europäischen Länder. Die Parteien bemühten sich um Kandidaten mit Migrationshintergrund, und nach einigen Jahren hatten nicht nur die linken Parteien, sondern auch die Konservativen und Liberalen auf allen Ebenen allochthone Mandatsträger in ihren Reihen. Migrantenorganisationen wurden finanziell unterstützt und islamische und hinduistische Riten und Institutionen vom Staat anerkannt. Nach der Jahrtausendwende schlug die Euphorie in ebenso radikalen Pessimismus um. Pim Fortuyn veränderte im Jahr 2002 mit seinem Konglomerat aus islamophoben, politisch inkorrekten und unterhaltsamen Versatzstücken das politische Klima radikal. Er sprach sich gegen den Gleichberechtigungsartikel in der Verfassung und jegliche weitere Einwanderung von Muslimen aus. Er gerierte sich als Stimme des Volkes gegen das Establishment, gegen eine "linke Kirche" von Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten und ihre politisch korrekte Haltung, die es der normalen Bevölkerung unmöglich gemacht habe, frei und offen ihre wirkliche Meinung zu äußern. Er war alles, was niederländische Politiker nicht sind: sensationell, unkonventionell, widersprüchlich, schrill, er zelebrierte seinen Reichtum in exzentrischer Weise - eine ständige postmoderne Mediensensation. Obwohl die "Liste Pim Fortuyn" als Partei nach der Ermordung Fortuyns durch einen Tierschutzaktivisten schnell scheiterte, blieben seine Themen erfolgreich. Nach der Ermordung Theo van Goghs, der den Islam mit seinem Film Submission angegriffen hatte, erreichte die Islamophobie 2004 einen Höhepunkt. Dutzende von Moscheen wurden angegriffen, einige Tage später folgten Angriffe auf christliche Kirchen. Seitdem ist die Debatte um den Islam und seine Vereinbarkeit mit Aufklärung und Moderne ständiges Thema in den Niederlanden. Ein populistischer Wahlerfolg folgt auf den anderen. Nach Fortuyns Ermordung hatte zunächst Rita Verdonk von der rechtsliberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie viel Erfolg bei den Wählern. Sie führte als Ministerin zwischen 2003 und 2006 die restriktivste Gesetzgebung zu Immigration und Integration in Europa ein. 2010 errang Geert Wilders mit einer antiislamischen Kampagne einen spektakulären Wahlsieg mit 24 von 150 Mandaten, im September 2010 sahen Umfragen ihn als stärkste politische Kraft. Analysiert man den radikalen Umschlag des politischen Klimas, so lassen sich vier Momente identifizieren:

Die multikulturelle Politik hatte keine

ökonomische Basis.

Während des Übergangs zum Multikulturalismus gab es gleichzeitig große Entlassungswellen im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise um 1980. Um die schweren Einbrüche im Beschäftigungssystem nach der zweiten Ölkrise 1979/80 abzufedern, wurden viele Niederländer und besonders viele Migranten in die Arbeitsunfähigkeitsrente (WAO) abgeschoben - eine komfortable Lösung für Arbeitgeber und Entlassene, welche die Migranten aber als Gruppe mit dem Odium der wirtschaftlichen Untätigkeit belegte. Mit sinkender Verankerung in der Arbeitswelt sank auch die Verankerung in der Gesellschaft. Ergebnis waren große wirtschaftliche und soziale Diskrepanzen zwischen einheimischen und "nichtwestlichen" Einwohnern. Während im Jahr 1983 die Arbeitslosenquoten der Zielgruppen der Minderheitenpolitik zwei- bis dreimal so hoch wie die der einheimischen Niederländer gewesen war, lag sie Anfang der 1990er Jahre bis zu fünfmal höher.

Von Anfang an hatte die niederländische

Variante des Multikulturalismus stark die

Unterschiedlichkeit betont

- im Gegensatz etwa zum integrativen Multikulturalismus-Verständnis in Kanada. In den Konzeptionen war von "Identitätsgruppen" und "Identitätsbelebung" die Rede, und der Staat unterstützte einheitliche kulturelle Zusammenschlüsse der Einwanderungsgruppen auf der Basis der Herkunft. Der niederländische Migrationswissenschaftler Jan Rath kritisierte diese Politik schon 1991 als "Minorisierung", also als Festlegung der Einwanderer auf ihre kulturelle Unterschiedlichkeit.

In der niederländischen Politik breitete

sich Spannungslosigkeit aus.

Im Jahr 2002 regierte seit acht Jahren eine Koalition aus Sozialdemokraten und Liberalkonservativen, damit schwand die traditionelle Rechts-Links-Spannung in der Politik. 2002 trat zudem die Regierung zurück, nachdem eine Kommission die Mitverantwortung der Niederlande für das Massaker von Srebrenica festgestellt hatte.

Schon seit 1991 war die Legitimität bestimmter Einwandergruppen infrage gestellt

worden.

In diesem Jahr erklärte der liberale Fraktionsvorsitzende und spätere EU-Kommissar Frits Bolkestein, westliche und islamische Werte seien unvereinbar. Er forderte, die Minderheiten sollten sich stärker in die niederländische Lebensweise einfügen. Damit begann eine Reihe von Elite-Diskursen, die den Islam als gefährlich, andersartig und nicht integrationsfähig definierten. In einer internationalen Umfrage wurde 1995 in den Niederlanden weniger Unterstützung für eine Politik des Multikulturalismus festgestellt als in Deutschland. Die Aussage, der Staat müsse Minderheiten helfen, ihre eigenen Sitten und Gebräuche zu erhalten, befürworten die Niederländer nur mit 20 Prozent, die Deutschen dagegen mit 41 Prozent. Auch die Frage, ob Minderheiten ihre eigenen Sitten und Gebräuche erhalten oder ob sie sich anpassen und in der Mehrheitsgesellschaft aufgehen sollten, ergab in den Niederlanden mit 71 Prozent eine größere Präferenz für die Assimilation gegenüber 48 Prozent in Deutschland.

Der deutsche Blick auf die Niederlande

Die Deutschen reagierten auf die Gewaltereignisse in den Niederlanden betroffen. "Holland ist überall", kommentierte der SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz die Ermordung Theo van Goghs. Die deutsche Politik begann sich mit dem Islam zu beschäftigen und Gespräche mit seinen Vertretern zu institutionalisieren - eine teilweise Abkehr von der traditionellen Haltung, die religiöse Betreuung weitgehend der Türkischen Anstalt für Religion (Ditib) und damit faktisch dem türkischen Staat (Diyanet) zu überantworten. Nach dem Vorbild Ayaan Hirsi Alis in den Niederlanden meldeten sich auch in Deutschland Islamkritikerinnen mit Migrationshintergrund zu Wort. Die Unterdrückung von Frauen in muslimischen Familien wurde ein ständiges öffentliches Thema, und das Stereotyp der unterdrückten Kopftuch-Frau breitete sich in den Medien aus. Allerdings war der antiislamische Diskurs in Deutschland lange Zeit weniger prominent und weniger radikal als in den Niederlanden. Seit 2003 wurden die Niederlande europaweit zum Vorbild für eine systematische staatliche Integrationspolitik, mit verbindlichen Integrationskursen, Einbürgerungstests, Sprachtests vor der Familienzusammenführung und Anhebung des Mindestheiratsalters für nachziehende Migranten. Deutschland vollzog einen Teil dieser Maßnahmen nach, ging dabei aber weniger radikal vor. Per saldo wurden beide Länder von Einwanderungs- zu Auswanderungsländern.

Eine Konstante blieb die deutsche Bewunderung für die niederländische Politik. Noch ein Jahr vor der großen Krise dort bezeichnete die Süssmuth-Kommission 2001 die niederländische Integrationspolitik als vorbildlich. Ganz anders die Rezeption in den Niederlanden: Dort wurde zum ersten Mal der "deutsche Ansatz" als mögliches Vorbild entdeckt: Warum gab es in Deutschland mehr Arbeitsbeteiligung der Migranten, weniger Abhängigkeit von Sozialkassen, weniger Segregation in den Städten, weniger Diskrepanzen bei den Bildungsabschlüssen? In Deutschland dagegen wurden die vergleichsweise positiven Daten kaum rezipiert. Stattdessen waren die Krisen in den Niederlanden und später die Unruhen in den französischen Vorstädten immer wieder Anlass zu der bangen Frage, ob dergleichen auch in Deutschland geschehen könne.

Die Vergleichsuntersuchungen bekamen in Deutschland wenig Publizität. 1998 wiesen die Nürnberger Arbeitsmarktforscherin Melanie Kiehl und der Arbeitsmarktforscher Heinz Werner erstmals darauf hin, dass die Diskrepanzen zwischen Einheimischen und Zuwanderern auf dem Arbeitsmarkt in den Niederlanden beträchtlich größer seien als in Deutschland. Nach der Jahrhundertwende erschienen weitere Studien, in denen institutionelle Kontexte und ihre Effekte auf die Integrationsqualität in unterschiedlichen Ländern verglichen wurden. 2004 wurde in einer vergleichenden Untersuchung zur zweiten türkeistämmigen Generation in sieben europäischen Ländern festgestellt, dass die Arbeitslosigkeit unter türkeistämmigen Jugendlichen in Deutschland, der Schweiz und Österreich - Länder mit einem dualen Ausbildungssystem - drei bis vier Mal niedriger war als in Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Daraus wurde geschlussfolgert, dass allgemeine Regelungen und Politiken die Bildungs- und Arbeitsmarktlage von Jugendlichen mit Migrationshintergrund sehr viel stärker beeinflussen als Sonderprogramme.

Diskurs und Realität in Deutschland

In Deutschland waren Anwerbung und Einwanderung von Anfang an von einer Diskrepanz bestimmt: einerseits bestimmt von der wirtschaftlichen und sozialen Gleichstellung mit den einheimischen Arbeitnehmern, also gleichen Löhnen, gleichen Rechten in den Sozialversicherungen und seit 1972 auch dem aktiven und passiven Wahlrecht zu den Betriebsräten. Mit der zunehmenden Regelungsdichte der Europäischen Union und dem Assoziationsvertrag zwischen der EU und Türkei 1963 war all dies auch durch supranationales Recht abgesichert, was die deutsche Rechtsprechung mehr und mehr berücksichtigte. Die Migranten gehörten rasch zur "Kernarbeiterschaft" der exportstarken deutschen Industrie und organisierten sich zu einem erheblichen Teil in den Gewerkschaften. Sie gingen hauptsächlich in die Wachstumsregionen Süd- und Westdeutschlands. Andererseits kam es lange Zeit nicht zu einer politischen Akzeptanz. Lange bleib der Mythos von der Rückkehr erhalten, die Einbürgerungsraten blieben niedrig und die Regierung Helmut Kohls setzte ein "Rückkehrförderungsgesetz" durch, das 1984 Zehntausenden von türkischen Familien finanzielle Anreize bot, damit sie in ihr Heimatland zurückkehrten. Zwischen 1982 und 1998 betonte die Bundesregierung immer wieder, Deutschland sei "kein Einwanderungsland", während gleichzeitig in den Jahren vor und nach der Wiedervereinigung große Einwanderungswellen ankamen: Aussiedler aus Polen, Rumänien und der ehemaligen Sowjetunion, Flüchtlinge aus der Türkei und dem zerfallenden Jugoslawien, nachziehende Familienangehörige und EU-Bürger. Dazu kamen die "Übersiedler" nach dem Fall der Mauer. Die Zahl der "Ausländer" verdoppelte sich in diesen Jahren auf sieben Millionen.

Im Gegensatz zur multikulturellen Euphorie in den Niederlanden war die Migration in Deutschland nach 1980 in vielfacher Weise negativ besetzt: Die Regierung Helmut Kohls kündigte 1982 die Lösung des "Ausländerproblems" an. Seit 1991 stellte sie das Asylrecht in Frage, der damalige Kanzlerkandidat der SPD Oskar Lafontaine dagegen den Zuzug der Aussiedler. Die deutschen Medien schilderten Migranten und ihre Aufnahme in Deutschland immer wieder als Problem. Zwei frühe Filme waren Archetypen der Negativrezeption: Rainer Werner Fassbinders "Angst essen Seele auf" beschrieb die Deutschen als grundsätzlich ausländerfeindlich und die Ausländer als Opfer, Tevfik Baers "40 qm Deutschland" den randständigen türkischen Mann als Unterdrücker seiner Frau. Beide Negativklischees wurden unablässig wiederholt. Dass die reale Situation nicht nur negativ war, die Migranten von Jahr zu Jahr besser Deutsch sprachen, sich in deutschen Vereinen ebenso wie in eigenen Gruppen engagierten, in den Betrieben ebenso wie in der Freizeit immer mehr Kontakte zustande kamen und viele Einwanderer trotz Wahrung eigener Traditionen sich in der deutschen Lebenswirklichkeit immer mehr zu Hause fühlten, wurde zwar regelmäßig in empirischen Arbeiten dargestellt, in der Öffentlichkeit aber wenig rezipiert.

Seit dem Regierungswechsel 1998 existiert in Deutschland ein Konsens über die Notwendigkeit der Integration von Zuwanderern. Formuliert wurde dieser Konsens durch die Süssmuth-Kommission 2001 und die von der CDU eingesetzte Müller-Kommission. Das Geburtsrecht für Kinder von Ausländern, die seit acht Jahren in Deutschland leben, ist inzwischen grundsätzlich unbestritten. Die Green Card-Initiative zur Anwerbung von IT-Spezialisten verknüpfte Zuwanderung mit wirtschaftlicher Effizienz und setzte sich gegen Kritik ("Kinder statt Inder") durch. Schließlich kam es nach langen Auseinandersetzungen im Jahr 2005 zur Verabschiedung eines Zuwanderungsgesetzes, das einen neuen einheitlichen Rechtsrahmen schuf, gleichzeitig aber dazu beitrug, die Zuwanderung still zu stellen. Mit dem Zuwanderungsgesetz wurde der Zuzug von Spätaussiedlern und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion weitgehend gestoppt. Die Familienzusammenführung wurde mit der Einführung eines Sprachtests stark abgebremst. Die deutsche Visumpolitik, die seit der Skandalisierung der Visumserteilung in der Ukraine 2005 noch rigider geworden ist, macht es ausländischen Fachkräften und Studenten außerordentlich schwer, nach Deutschland zu kommen. Es ist symptomatisch für diese Situation, dass Harianto Wijaya, der erste angeworbene IT-Spezialist im Jahr 2000, sein Visum 2005 nicht verlängert bekam und heute ein erfolgreiches Unternehmen in Indonesien führt.

Neuer Schub des Pessimismus?

Obwohl es also seit 2006 keine relevante Zuwanderung mehr gibt, obwohl die Beschäftigungssituation sich günstig entwickelt, ist es auch in Deutschland zu einem neuen Schub des Integrationspessimismus gekommen. Wie in den Niederlanden lassen sich in Deutschland vier Momente identifizieren, welche die öffentliche Wahrnehmung beeinflussten:

Erosion der ökonomischen Basis.

Während die "erste Generation" der Migranten auf Grund der Anwerbung stabil in den Betrieben verankert war, ist es für die "zweite" und "dritte" Generation schwieriger, in der Wirtschaft Fuß zu fassen, trotz der Jahr für Jahr besser werdenden Schulabschlüsse und Sprachkenntnisse. Ein Grund dafür ist der Strukturwandel der Wirtschaft, am deutlichsten spürbar in der Deindustrialisierung in Berlin nach der Wiedervereinigung. Ein zweiter Grund sind die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und die lange Zeit hoher Arbeitslosigkeit, die sich auf Gruppen mit weniger Netzwerkverbindungen besonders stark auswirkt. Während die Arbeitslosigkeit von Ausländern bis 1980 unter der von Deutschen lag, übertrifft sie sie heute um mehr als das Doppelte. Arbeitsverbote und Nachrangigkeitsklauseln behinderten nachziehende Familienangehörige und Asylbewerber. Seit 1994 nahm auch die Quote der Auszubildenden mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit Jahr für Jahr ab. Außerhalb der EU erworbene Qualifizierungen werden immer noch nicht anerkannt. Dies führt zu Phänomenen wie der aus Russland stammenden hochqualifizierten Mathematiklehrerin, die putzen geht, oder des Mikrobiologen, der Taxi fährt. Auf Grund restriktiver Regelungen sanken die Einbürgerungszahlen wieder ab, Deutschland liegt dabei im europäischen Vergleich weit hinten. Dies hat Auswirkungen auf Arbeit und Wirtschaft, da nach wie vor für Nicht-EU-Bürger rechtliche oder faktische Hindernisse bestehen, bestimmte qualifizierte Berufe zu ergreifen, beispielsweise sich als Arzt niederzulassen. Eingebürgerte werden besser akzeptiert und erreichen dementsprechend auch höhere Einkommen.

Die Integrationsdebatte ist kulturalisiert

worden.

"Sprache, Sprache, Sprache" sei wichtig, hieß es bei der diesjährigen Vorstellung des bundesweiten Integrationsprogramms, das sich auf Bildung, Sprache und auf zivilgesellschaftliche Aktivierung einschließlich der Einbeziehung von Migrantenorganisationen beschränkt. Berufliche Aspekte werden nur am Rande berührt. In den vergangenen Jahren sind nach niederländischem Vorbild verpflichtende Integrationskurse eingeführt worden, die neben einem Sprachangebot Informationen zur deutschen Gesellschaft enthalten. Gleichzeitig ist eine Stufenleiter von Prüfungen aufgebaut worden, die Einwanderer zu durchlaufen haben: Sie beginnt mit dem Deutschtest, der vor der Erteilung eines Visums im Ausland absolviert werden muss, und den übrigen Bedingungen für die Visumserteilung. Ein zweiter Test ist nach dem obligatorischen Sprach- und Orientierungskurs in Deutschland abzulegen, ein dritter Prüfungskomplex umfasst einen Deutsch- und einen Landeskundetest als Bedingung für die Einbürgerung. Teilweise ergeben sich Wiederholungseffekte bei den Tests. Ergebnis ist eine empfindliche Verminderung der Einwanderungs- und Einbürgerungszahlen, verbunden mit einer sozialen Selektion und vor allem mit dem Ausschluss von Migranten mit wenig Bildungserfahrung.

Spannungslosigkeit in der Politik.

Lange Zeit war die deutsche Asyl- und Migrationspolitik von einer Links-Rechts-Polemik geprägt. Seit dem Integrationskonsens von 2005 ist dies einer innenpolitischen Spannungslosigkeit auf diesem Feld gewichen, sowohl während der Großen Koalition in den Jahren zwischen 2005 und 2009 als auch danach. Gleichzeitig beschwor die offizielle Politik ständig die Integrationsdefizite der Migranten. Dies eröffnete unkonventionellen Polemikern ein freies Feld. Im öffentlichen Diskurs veränderte sich das Bild der Zugewanderten, das an "den Türken" oder "den Muslimen" festgemacht wird. War früher das Bild des hart arbeitenden Einwanderers in körperlich anstrengenden Berufen vorherrschend, so ist heute das Bild des abgeschottet lebenden Beziehers von Sozialleistungen verbreitet. Trotz der Anpassung der Migranten an die niedrigen deutschen Geburtenraten werden sie immer noch mit hohen Kinderzahlen in Verbindung gebracht.

Obwohl der Pluralismus zu den Grundlagen des bundesdeutschen Selbstverständnisses gehört und mit der Realität einer ausdifferenzierten Gesellschaft korrespondiert, verfestigte sich in Bezug auf die Migranten die Idee einer homogenen Gesellschaft, an die sich die Migranten anzupassen hätten. Als negativer Kampfbegriff entstand 1997 dazu der Begriff "Parallelgesellschaft", die Vorstellung, insbesondere türkische beziehungsweise muslimische Migranten lebten in abgeschotteten kulturellen Welten. Zwar ist diese These in einer empirischen Untersuchung falsifiziert worden, und es wurde nachgewiesen, dass die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland in vielfältiger Weise gesellschaftlich vernetzt und integriert ist. In den Medien aber setzte eine intensive Berichterstattung über mangelnde Integration ein, die immer wieder mit sprechenden Beispielen untermauert wurde. Aufsehenerregende Fälle wie der Hilferuf der Lehrer an der Rütlischule in Berlin oder ein Raubüberfall zweier junger Migranten in München wurden in der Öffentlichkeit skandalisiert. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung wurde 2010 mit dem Buch Thilo Sarrazins ("Deutschland schafft sich ab") erreicht, der vor allem Berliner Beispiele anführt und diese verallgemeinert. Er präsentiert eine vielfach widersprüchliche Mischung aus biologistisch-eugenischen und kulturalistisch-islamfeindlichen Thesen. Er blendet Aspekte aus, die nicht in den kulturpessimistischen Duktus des Buches passen, beispielsweise die wachsenden Schulerfolge ausländischer Kinder, die Abwanderung junger türkeistämmiger Akademiker oder die wirtschaftliche Dynamik der Türkei. Wie Pim Fortuyn, Ayaan Hirsi Ali und Geert Wilders definiert er den Islam als solchen als Integrationsproblem. Unter dem Druck dieses Diskurses nannte Bundesinnenminister Thomas de Maizière im September 2010 die griffige Zahl von 10 bis 15 Prozent "Integrationsunwilligen". Für diesen Prozentsatz gibt es allerdings keine Belege, und es bleibt auch ungeklärt, was exakt gemeint ist. Gleichwohl forderten mehrere Politiker anschließend, Migranten auszuweisen, die sich nicht anpassten.

Perzeptionen und Realitäten

Deutschland steht heute in der Gefahr, ähnliche Fehler zu begehen wie die Niederlande in den 1970er und 1980er Jahren: sich nur auf das kulturelle Feld zu konzentrieren und nicht wahrzunehmen, dass sich Integration in erster Linie nicht mit staatlichen Sonderprogrammen gestalten lässt, sondern in Wirtschaft und Gesellschaft vollzieht. In einer Marktwirtschaft ist der effektive und gleichberechtigte Zugang zum Arbeitsmarkt beziehungsweise zu selbstständiger Tätigkeit entscheidend für die Integration, da davon Status, Zugehörigkeit und soziale Kontakte abhängen. Wie früher in den Niederlanden schlägt absinkende Verankerung in der Arbeitswelt schließlich auch auf die öffentliche Wahrnehmung durch. Eine gute Integrationspolitik kann fördern, sie kann die sozioökonomische Integration aber nicht ersetzen. Vor allem die feste Verankerung in den Betrieben, Betriebsräten und Gewerkschaften und Erfolge im dualen Ausbildungssystem haben in Deutschland in den ersten Jahrzehnten zu einer vergleichsweise erfolgreichen wirtschaftlichen und sozialen Integration beigetragen. Mit der Schwächung dieser Verankerung durch Arbeitsverbote, Arbeitslosigkeit und die Aushöhlung des Tarifsystems wurde auch der Integrationserfolg gefährdet.

Schließlich wird klar, dass Perzeptionen und Realitäten in Bezug auf Migration und Integration sowohl in Deutschland wie in den Niederlanden in einem sehr lockeren Zusammenhang stehen - sowohl intern als auch im Vergleich. Die Niederlande feierten ihren Multikulturalismus gerade in den Jahren, in denen die wirtschaftliche Integration abstürzte. Als diese dann besser wurde, verbreitete sich in der Öffentlichkeit die Meinung, die Integration sei desaströs gescheitert. Deutschland hat seine erfolgreichen Integrationsansätze in den ersten Jahrzehnten weitgehend übersehen. Es steht heute in der Gefahr, bewährte Rezepte des "Modells Deutschland" zu vergessen und sich auf Maßnahmen zu fokussieren, die wünschenswert, aber nicht entscheidend sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Frits Bolkestein, Address to the Liberal International Conference at Luzern, Den Haag 1991.

  2. Vgl. Anita Böcker/Dietrich Thränhardt, Erfolge und Misserfolge der Integration. Deutschland und die Niederlande im Vergleich, in: APuZ, (2003) 26, S. 6.

  3. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.11.2004.

  4. A. Böcker/D. Thränhardt (Anm. 2).

  5. Vgl. Melanie Kiehl/Heinz Werner, Die Arbeitsmarktsituation von EU-Bürgern und Angehörigen von Drittstaaten in der EU, in: IAB-Werkstattberichte, Nr. 7 vom 30.7.1998.

  6. Vgl. Maurice Crul/Hans Vermeulen, The Second Generation in Europe. International Migration Review, Special Issue, New York 2004.

  7. Vgl. Wilhelm Heitmeyer/Joachim Müller/Helmut Schröder, Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche in Deutschland, Frankfurt 1997.

  8. Vgl. Martina Sauer/Dirk Halm, Erfolge und Defizite der Integration türkeistämmiger Einwanderer. Entwicklung der Lebenssituation 1999 bis 2008, Essen 2009.

  9. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 10.9.2010.

Dr. rer. soc., geb. 1941; Prof. em. an der Universität Münster, Institut für Politikwissenschaft, Platz der Weißen Rose, 48151 Münster. E-Mail Link: thranha@uni-muenster.de