Einleitung
Seit knapp sechs Jahren gibt es in Deutschland ein einheitliches Grundsicherungssystem für erwerbsfähige Hilfebedürftige - ein Kernstück der Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der damaligen rot-grünen Bundesregierung. Es bedeutete nicht nur die administrative Zusammenlegung und Vereinheitlichung der beiden vormals getrennten Unterstützungssysteme der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe, sondern, zumindest in der politischen Rhetorik und im Gesetzestext, auch eine stark veränderte Ausrichtung der dahinterstehenden Ziele und Motive. Stellt das neue System aus Grundsicherung und Aktivierung
Wirkungen von Hartz IV - empirische Befunde
Nach der Systemumstellung am 1. Januar 2005 war für viele Beobachter zunächst überraschend, wie hoch in den ersten drei Monaten der Zuwachs an Hilfebeziehern ausfiel. Selbst nach der Saldierung der Übergänge aus den alten Systemen der Arbeitslosen- und Sozialhilfe und den erwarteten saisonalen Zugängen mit den Abgängen aus dem Hilfebezug durch Fluktuation, durch die Haushaltsveranlagung und die geänderten Freibetragsregelungen blieb ein Zuwachs von rund einer Million neuen Hilfebedürftigen. Die einzige plausible Erklärung hierfür ist eine verstärkte Mobilisierung von Bedürftigen, die bislang ihnen zustehende Sozialleistungen nicht genutzt hatten,
Empirische Analysen belegen empfundene Teilhabedefizite
Die working poor, also Menschen, die zusätzlich zu Arbeitseinkommen noch ergänzende Sozialleistungen beziehen, sind durch die Reform verstärkt ins Blickfeld geraten, das gleiche gilt für diejenigen, die zum Arbeitslosengeld I noch Grundsicherungsleistungen beziehen ("Aufstocker").
Für viele Beobachter ebenfalls überraschend, aus Sicht der Armutsforschung hingegen altbekannt ist die Heterogenität der Hilfebezieher - der "erwerbsfähigen Hilfebedürftigen". Sie bilden keinesfalls eine homogene Gruppe von Exkludierten und Außenseitern, Arbeitsmarktfernen und Langzeitarbeitslosen. Bildungsarme und Migranten sind unter den Hilfeempfängern überrepräsentiert; bei letzteren kombinieren sich mitunter Bildungs- und Qualifikationsnachteile mit mangelnden Sprachkenntnissen. Etliche Leistungsbezieher - vor allem die jüngsten - sind nicht arbeitslos, sondern befinden sich in schulischen und beruflichen Bildungsprozessen und sind wegen der Arbeitslosigkeit eines Familienmitglieds hilfebedürftig geworden. Jugendliche verfügen zwar oft über mehr Unterstützung aus der Familie, aber ihre Anerkennung unter Gleichaltrigen leidet darunter, dass sie nicht ausreichend an den für die Altersgruppe als normal erachteten Konsummustern teilnehmen können.
Altbekannte Befunde aus der Armutsforschung begegnen uns ohnehin auch bei der Analyse des neuen Systems - etwa der Zusammenhang von (persönlicher oder familialer) Arbeitslosigkeit und Armut, das Risiko der Altersarmut nach längerer Arbeitslosigkeit, die schwierigen Einstiege Jugendlicher und junger Erwachsener aus Leistungsbezieherhaushalten in Berufsausbildung und Erwerbsleben.
Weitgehend neu ist das mit der Hartz-IV-Reform und ihren Vorläufern (z.B. "Arbeitsamt 2000") verbundene Interesse an Betreuung und Aktivierung. Untersuchungen zum Vermittlerhandeln fördern - neben den Einführungs- und Umstellungsschwierigkeiten des neuen Systems
Die Betreuten selbst reagieren auf die Aktivitäten ihrer Vermittler höchst unterschiedlich, keineswegs werden alle Maßnahmeangebote als echte Chance zur Reintegration in den Arbeitsmarkt wahrgenommen. Das Spektrum reicht von der empfundenen Zumutung über die Wahrnehmung, dass man angesichts der Grundsicherungsleistung zu einer Gegenleistung verpflichtet sei, bis zur Betrachtung der Betreuungsbeziehung als Quasi-Arbeitsverhältnis. Nur ein kleinerer Teil der Betroffenen reagiert so, wie es die Mitwirkung an der Aktivierungsidee erfordern würde.
Dass es angesichts der tiefgreifenden Systemumstellungen 2005 nicht zu größeren Friktionen in der Grundversorgung von mehreren Millionen Menschen kam, darf bereits als Erfolg per se gelten. Doch der Erfolg der Aktivierungspolitiken ist nicht eindeutig belegt. Es scheint, als ob beispielsweise Maßnahmen mit Arbeitscharakter positive Wirkungen eher im Hinblick auf soziale Stabilisierung und soziale Teilhabe zeigen als auf die unmittelbare Arbeitsmarktintegration.
Armutspolitik zwischen Ausgrenzung, Kontrolle und Unterstützung
Es ist eine Grundtatsache des sozialen Lebens, dass manche Menschen ihren Lebensunterhalt nicht alleine bestreiten können. In bestimmten Lebensphasen ist dies sogar normal, etwa in der Kindheit, im Alter oder bei Krankheit. Ebenso gehört ein kollektives Einstehen hierfür durch Mitmenschen der unmittelbaren Umgebung (Familie, Stamm, Dorf, Kultusgemeinde oder andere soziale Gruppen) zu den Grundstrukturen menschlicher Gemeinschaftsbildung. Doch ebenso kommt es vor, dass diese primären Unterstützungsbeziehungen nicht ausreichen. Deshalb lassen sich seit der Antike institutionalisierte, sekundäre Formen der Unterstützung nachweisen, von den Kornkammern der Pharaonen bis zu den Armenspitälern der mittelalterlichen Städte.
Das Massenelend der Industrialisierung und die genuinen Existenzrisiken der Lohnarbeit führten schließlich zur Entstehung und Entwicklung des Wohlfahrtsstaates, in dem breite und entwickelte "sekundäre Institutionen" der Sozialpolitik auch die Menschen in Armut unterstützen. Begrifflich und politisch lässt sich dabei ein Übergang von der Armenfrage des Mittelalters über die Soziale Frage des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bis zur entwickelten wohlfahrtsstaatlichen Sozialpolitik seit etwa 1929 bis 1970 aufzeigen, die Armut mehr und mehr verschiedenen Rand- und Problemgruppen zuschreibt, während vormals zentrale Armutsrisiken (Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit) nunmehr durch die flankierenden Institutionen des Normalarbeitsverhältnisses abgedeckt sind.
Schon seit Jahrhunderten ist ein charakteristischer Zwiespalt des gesellschaftlichen Umgangs mit Armut zu beobachten: Armut ruft einerseits Solidarität, Mitleid und Unterstützung hervor, andererseits auch Ablehnung, Irritation und Ausgrenzung, insbesondere wenn sie mit abweichenden Lebensweisen verbunden ist. Letzteres kann von religiöser oder ethnischer Abweichung bis zu Abweichungen von standardisierten Rollenmustern reichen (zum Beispiel Hausfrau, Arbeiter, Staatsbürger, Sesshaftigkeit). Auf diesem Zwiespalt fußt die bekannte Unterscheidung von deserving und undeserving poor - zwischen den Armen also, die gesellschaftliche Unterstützung "verdienen", da unverschuldet in Not geraten, und denjenigen, die ihren Anspruch auf die Solidarität der Gesellschaft gleichsam "verwirkt" haben. Nur so erklärt sich auch, dass Armutsbekämpfung seit ihren Anfängen bis heute zwei Gesichter hat: Das eine ist Versorgung und Unterstützung, das andere ist die "armenpolizeiliche" Perspektive von Ordnung, Kontrolle, Zwang und Ausgrenzung, die von Bettelverboten über Zwangsarbeit bis zu Armenhäusern und Deportation reichen konnte. So kannte die Bundesrepublik bis 1967 noch die Zwangsunterbringung von armen Menschen mit abweichendem Lebenswandel, wie "Nichtsesshafte", "unsittliche" Frauen oder "auffällige" Jugendliche.
Eine zunächst umstrittene, für die weitere Entwicklung jedoch folgenreiche Zäsur war das Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts von 1954: Mit der Anerkennung des Sozialstaatsgebots im Grundgesetz und des subjektiven Anspruchs auf Unterstützung setzte sich letztlich die in anderen westlichen Demokratien dominante Vorstellung von Sozialleistungen als Bürgerrecht auch in Deutschland durch.
Kontinuitäten ...
In der Geschichte der Sozialpolitik stoßen wir bei allen Entwicklungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik auf erstaunliche strukturelle Kontinuitäten. Diese bestehen aus grundlegenden Widersprüchen und Ambivalenzen - ganz im Sinne eines konflikttheoretischen Gesellschaftsverständnisses.
Ein Dauerthema ist auch die Angemessenheit der Grundsicherung. Seit dem Bestehen der Bundesrepublik ist das Niveau materieller Unterstützungsleistungen umstritten. Dieser Streit bewegt sich im Spannungsfeld zwischen "objektiven" Grundbedürfnissen (Standardwarenkorb oder soziokulturelles Existenzminimum), dem Lohnabstandsgebot und dem regionalen und lebenslagenabhängigen Differenzierungsbedarf. Entsprechend wechseln sich Forderungen nach einer Anhebung oder Absenkung der materiellen Unterstützungsleistungen ab. Das wissenschaftliche, juristische und politische Pro und Contra
Ein wichtiges Ereignis in diesem Zusammenhang ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010, das den Berechnungsmodus des Regelsatzes wegen seiner Intransparenz kritisiert. Es sieht jedoch so aus, als ob sich nichts grundsätzlich ändert: Das Statistikmodell bleibt in Kraft, nach dem sich die Grundsicherung an den Lebensverhältnissen desjenigen Fünftels der deutschen Haushalte orientiert, die das geringste Einkommen haben. Die Verfassungsrichter haben die Angemessenheit der Zusammensetzung dieses "untersten Quintils" in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes bestätigt, den Gesetzgeber jedoch ermahnt, weiterhin Grundsicherungsbezieher und Haushalte unter der Sozialhilfegrenze statistisch aus dieser Referenzgruppe auszuschließen. Ob dies in der Vergangenheit immer konsistent passiert ist, ist umstritten.
Ebensowenig ändert sich an der ungelösten politischen Spannung zwischen der Deckung des Existenzminimums und der Aufrechterhaltung eines Anreizes zur Arbeitsaufnahme durch das Lohnabstandsgebot, auch wenn dessen Wirkung mittlerweile auch in den Wirtschaftswissenschaften umstritten ist
... und allmählicher Wandel
Bei aller Konstanz in den Grundzügen unterliegt die deutsche Sozialpolitik jedoch auch vielfältigen Veränderungsprozessen - schon lange vor den Hartz-Reformen. Der Bedeutungsverlust direkter, interpersonaler bzw. klassenübergreifender Schutzverhältnisse (Patriziat, Klientelismus, Patronage) wie der betrieblichen Sozialpolitik, aber auch das erfolgreiche Vordringen des Grundrechtsgedankens in die Armutsbekämpfung, sind bekannt. Auch die Rolle der Mildtätigkeit hat sich geändert. Es gibt sie nach wie vor, sie hat nur eine Abstraktionsbewegung durchlaufen. Man spendet meist (im Abendland) nicht mehr dem persönlich bekannten Armen, sondern Organisationen, die sich, teils ehrenamtlich, teils professionell, um Armut kümmern oder andere wohltätige Aufgaben versehen.
Hundert Jahre wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung in Deutschland zeigen überdies eine deutliche Tendenz zur Vereinheitlichung der öffentlichen Armutsbekämpfung. Dies bedeutete einen Rückbau vor allem statusbezogener Differenzierungen. So unterschied etwa die Fürsorgereform von 1924, wie ihre Vorgänger, noch zwischen Erwerbslosenfürsorge, Armenfürsorge sowie Fürsorge für Kriegsbeschädigte, Sozial- und Kleinrentner, Schwerbeschädigte, Wöchnerinnen und Wanderer. Und sie wies einigen von ihnen die "gehobene Fürsorge" zu, bei der die "früheren Lebensverhältnisse" auch in Art und Umfang der Unterstützungsleistungen zu berücksichtigen waren. Ähnliche gruppen- bzw. statusbezogene Differenzierungen wurden noch in den 1950er Jahren diskutiert und teilweise praktiziert, doch Zug um Zug abgebaut - sieht man von den nach wie vor getrennten Regelkreisen für nicht erwerbsfähige Menschen ab.
Der vorläufig letzte Schritt dieser Vereinheitlichung der staatlichen Unterstützung, der erst mit dem SGB II vollzogen wurde, ist der Wegfall der Arbeitslosenhilfe. Sie war anteilsmäßig am vormaligen Arbeitsentgelt (53 bzw. 57 Prozent) orientiert, nicht jedoch, wie mitunter angenommen, an der Aufrechterhaltung des vormaligen Lebensstandards. Damit gibt es nun kein an der vorangegangenen Erwerbsbiografie orientiertes Unterstützungssystem für erwerbsfähige Hilfebedürftige mehr. Dies ist ein Problem für vormals langjährig Erwerbstätige mit anschließendem Leistungsbezug, nicht nur aufgrund der zum Teil unterschiedlichen Höhe der Transferzahlungen von Arbeitslosenhilfe und Hartz IV, sondern auch, weil die soziale Anerkennung der erwerbsbiografischen Leistung wegfällt.
Für vormalige Sozialhilfeempfänger stellt sich das Problem der Entdifferenzierung etwas anders dar. Sie erhalten mit dem Arbeitslosengeld II nun zwar teilweise einen höheren monatlichen Betrag. Die früheren, an besonderen Bedarfen orientierten Einmalzahlungen der Sozialhilfe sind aber im SGB II rechnerisch in den Pauschalbetrag eingeschlossen; Einmalbedarfe müssten nach diesem Prinzip zunächst "erspart" werden. Das kommt nach Meinung vieler Experten einem faktischen Wegfall gleich: "Wenn eine Familie mit kleinen Kindern in Hartz IV eine neue Waschmaschine braucht, können wir heute nur noch eine Spende vermitteln", beschreibt eine verantwortliche Sozialamtsmitarbeiterin die Situation.
Jenseits der Härte des Schicksals, die dies im Einzelfall bedeutet, lässt sich Hartz IV als Meilenstein einer fortschreitenden Entdifferenzierung oder Egalisierung der Armutsbekämpfung verstehen, die keine Unterscheidungen innerhalb der Hilfebedürftigen vornimmt, zumindest sofern sie erwerbsfähig sind. Die "Versorgungsklasse"
Widersprüche und Defizite in der Grundsicherung
In der längerfristigen historischen Perspektive war der versorgende Wohlfahrtsstaat meist auch aktivierend,
Doch es bleiben Widersprüche und Defizite. Der Durchsetzung dieses Grundrechts stehen die Entbiografisierung und Entdifferenzierung der Hilfe gegenüber, gewissermaßen die Entkleidung der Betroffenen von statusbezogenen und biografischen Ansprüchen. Das hat einen Konflikt zweier Gerechtigkeitskonzepte zur Folge: Der Logik der biografisch erworbenen Ansprüche auf Versorgung und Anerkennung als vollwertiger Arbeitsbürger, wie sie der Arbeitslosenhilfe zugrunde lag, steht die Logik der "letzten sozialen Solidarität" gegenüber. Hierbei muss der Hilfebedürftige erst alle biografischen und statusbezogenen Ansprüche (vom Restvermögen bis zum Anspruch auf Sozialversicherungsleistungen) ausgeschöpft haben, um in den Genuss der Grundsicherung zu kommen, wie wir sie aus der Sozialhilfe kennen. Diese widerstreitenden Gerechtigkeitslogiken prägten einen Gutteil der bisherigen politischen Auseinandersetzungen um Hartz IV.
Mit der Entdifferenzierung korrespondiert zudem ein gewandeltes Bild vom erwerbsfähigen Hilfeempfänger. Nicht mehr der Fürsorgeempfänger der Armutsbekämpfung vor 1960, nicht mehr der Mensch, der darin unterstützt werden soll, in Würde zu leben und seine Eigenständigkeit wieder zu erlangen, wie er weite Teile des Menschenbildes im BSHG 1961 kennzeichnete, steht im Zentrum der Bemühungen, sondern der vollständig dem Erwerbsparadigma unterworfene Arbeitsbürger des SGB II, von dem nunmehr der Verhaltenskanon des "normalen", eigenverantwortlich und rational handelnden, nachindustriellen bürgerlichen Arbeitnehmers erwartet wird.
Menschenbild vom marktgerechten Arbeitsbürger
Um es zuzuspitzen: Die volle Unterstützung des SGB II wird vor allem denjenigen zuerkannt, die für willens und in der Lage erachtet werden, sich in marktwirtschaftliche Verwertungszusammenhänge oder - bei deren Fehlen - in kompensatorische Einrichtungen einzufügen. Sie sind somit auch Objekt in einem organisierten Kontext. Die Zwangsmaßnahmen des alten Fürsorgerechts (Arbeitszwang, Zwangseinweisung von "Auffälligen" oder "Arbeitsscheuen") sind in diesem Modell zwar glücklicherweise vom Tisch. Gleichzeitig wird aber von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen im SGB II erwartet, dass sie über ein hohes Maß an Selbstkontrolle und Selbststeuerung (Zeitstrukturen im Alltag, Selbstpräsentationsfähigkeit und Kommunikationskompetenz bei Behörden und Arbeitgebern), Flexibilität (Zumutbarkeitskriterien bei Jobangeboten), rationaler Lebensführung (z.B. Umgang mit pauschalierten geldförmigen Hilfeleistungen) und Konformität verfügen. Kurz: Das Menschenbild des SGB II ist der marktgerechte Arbeitsbürger. Wo Hilfebedürftige diesem Bild zumindest dem Anschein nach nicht entsprechen, setzen im günstigen Fall professionelle sozialarbeiterische Betreuung und Fallmanagement ein, im schlechten Fall drohen Sanktionen verschiedener Art - von der ungünstigen Auslegung der Vorschriften bis zu Kürzungen der Unterstützungsleistungen.
Bei vielen, allem Anschein nach den meisten erwerbsfähigen Hilfebedürftigen kann eine weitgehende Entsprechung zu diesem Subjektbild vorausgesetzt werden. Doch das neue Paradigma vom aktivierbaren, weil rationalen und normalen marktgerechten Arbeitsbürger stößt erkennbar an Grenzen. Dies zeigt sich nicht nur bei Hilfeempfängern mit Krankheit und Suchtproblemen, sondern bereits bei der Frage, ob jemand, der gesundheitlich bedingt nur drei Stunden täglich arbeiten kann, auch tatsächlich eine Existenz sichernde Arbeit finden wird. Gleiches gilt bei physischen oder habituellen Abweichungen, abweichenden Handlungs- und Erwerbskompetenzen und schlechten - möglicherweise auch nur im wirtschaftlichen Wandel obsolet gewordenen - Bildungsvoraussetzungen.
Normalitätsvorstellungen sind durchaus "normal" für menschliche Gesellschaften und ihre Institutionen, und für marktwirtschaftliche Arbeitsgesellschaften ist dies wohl der marktgerechte Arbeitsbürger. Doch ebenso gehört es zum Grundbestand moderner, an den Menschenrechten orientierter Sozialstaatlichkeit, dass nicht alle hilfebedürftigen Gesellschaftsmitglieder diesem Bild entsprechen und trotzdem in den Schutz des Sozialstaatsgebots fallen müssen. Diese Tatsache sollte auch der deutschen Aktivierungspolitik mit ihren veränderten normativen Anforderungen an die Hilfebedürftigen bewusst bleiben, wenn sie sich nicht einen stillschweigenden Fortbestand armenpolizeilicher Traditionen, einen Rückfall in den "punitiven Paternalismus", wie Stephan Lessenich und Claus Offe schreiben, oder, so Ralf Dahrendorf, die Rückgewinnung von sozialer Kontrolle durch Arbeit vorwerfen lassen will.
Die Debatte des Jahres 2010 um die Ermittlung des Regelsatzes lenkt das Augenmerk auf ein weiteres Problem. Eine "objektive" Ermittlung der Grundbedürfnisse kann es nicht geben, da Leben in Würde mit gesellschaftlich akzeptierten und als angemessen erachteten Formen von Lebenspraxis zusammenhängt. Dies umfasst die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln ebenso wie Wohnen, Kleidung, Sicherheit, die Teilhabe an Gesundheitsversorgung, Bildung, sozialem, kulturellem und politischen Leben. Einen für alle gleichen objektiven, quasi-naturwissenschaftlich ermittelbaren Bedarf gibt es nicht, die Menschenwürde ist eine kulturell-soziale und damit politische Tatsache - und dies gilt auch für Größen, die aus ihr abgeleitet sind, wie den Regelsatz.
Auch gibt es kein Gremium, das über einzigartige Einsichten verfügt, um zu bestimmen, was zu einem Leben in Würde erforderlich ist. Wie alle sozialen Tatsachen muss auch der Regelsatz der Grundsicherung gesellschaftlich definiert und ausgehandelt werden. Dieser Aushandlungsprozess muss wie alle Prozesse in einer Demokratie diskursethischen Standards genügen,
Fazit
Zunächst ist das SGB II, wie seine Vorgänger, schlichtweg ein wohlfahrtsstaatliches Regelwerk zum Abbau von Armut, die auf gesellschaftliche, wirtschaftliche oder individuelle Ursachen zurückgeht. Den Geboten und Traditionen des Sozialstaats zufolge greift die Gesellschaft ein, wenn einzelne Mitglieder in Not geraten und sich nicht eigenverantwortlich oder durch Hilfe aus ihrem Umfeld daraus befreien können. Die Hartz-IV-Reform bildet einen wichtigen Eckpunkt in einem längerfristigen Entwicklungsprozess hin zu einer den Ansprüchen an ein Grundrecht auf soziale Unterstützung genügenden Grundsicherung.
Die Kehrseite hiervon ist das normative Leitbild des rationalen, funktionierenden Arbeitsbürgers mit entsprechenden Problemen für diejenigen, die diesem Bild nicht entsprechen. Fortbestehende Spannungsfelder sind die Festlegung des Regelsatzes zwischen Grundbedürfnissen und Lohnabstandsgebot, bedürfnis- und einzelfallgerechte versus standardisierte Betreuung und Versorgung sowie die Entkleidung der Betroffenen von statusbezogenen und biografischen Ansprüchen. Zusammen mit einem Defizit an Partizipation für die Betroffenen werden diese Spannungen auch künftig dafür sorgen, dass die Grundsicherung in Deutschland weiteren Reformprozessen und Überarbeitungen entgegengeht.