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Nordirlands Bildungspolitik und die politische Lage

Brigitte Schumann

/ 12 Minuten zu lesen

Der Beitrag beleuchtet die Rolle der Bildungspolitik für die Lösung der Konflikte in Nordirland, die sich aus dem Lagerdenken der republikanischen Katholiken und unionistischen Protestanten ergeben.

Einleitung

Nordirland zieht anscheinend immer dann das Interesse der Medien auf sich, wenn von Unruhen berichtet werden kann. Daraus zu schließen, es habe sich dort seit dem Belfast Agreement (Karfreitags-Abkommen oder Good Friday Agreement) von 1998 nichts zum Besseren geändert, ist falsch. Ebenso falsch wäre es aber auch, zu leugnen, dass es nach wie vor ungelöste gesellschaftliche Konflikte gibt, die den beschlossenen Frieden fragil erscheinen lassen. Von besonderer Bedeutung für den Prozess der Aussöhnung in Gesellschaften mit einer konfliktreichen Vergangenheit ist zweifellos die Rolle der Bildungspolitik. Deshalb soll sie hier im Kontext der politischen Verhältnisse auf ihre gesellschaftliche Funktion hin besonders beleuchtet werden.

Die politischen Parteien in Nordirland sind sich darin einig, dass es kein Zurück hinter den Friedensvertrag gibt, mit dem die bürgerkriegsartigen Troubles 1998 beendet wurden. Mehr als 3000 Menschen wurden in einem Zeitraum von 30 Jahren zu Opfern von Terror und Gegenterror der katholisch-republikanischen IRA und bewaffneter protestantisch-unionistischer Gruppen. Zwar haben Splittergruppen wie die Real IRA oder die Continuity IRA den paramilitärischen Kampf noch nicht aufgegeben, wie gelegentliche Terroranschläge beweisen, aber diese werden unmittelbar und einmütig über alle politischen Lager hinweg verurteilt. Dies entspricht dem Wunsch der Bevölkerung nach friedlichen Verhältnissen, unabhängig davon, ob es sich um pro-britische Protestanten oder pro-republikanische Katholiken handelt.

Die Tatsache, dass die beiden ursprünglich sich unversöhnlich gegenüberstehenden Parteien, Sinn Fein als politischer Flügel der IRA und die ultrarechte Democratic Union Party (DUP) von Ian Paisley, seit 2007 gemeinsam Regierungsverantwortung übernommen haben, dokumentiert den Willen und die Entschlossenheit, Konflikte fortan ausschließlich politisch lösen zu wollen. Darauf basiert sowohl die Rückgabe der politischen Selbstverwaltung (Devolution) an die nordirische Provinz als auch der vollständige Abzug britischer Truppen, die zum Schutz der Bevölkerung 1969 dort stationiert worden waren.

Mit der im April 2010 erfolgten Übergabe der Zuständigkeit für Polizei und Justiz von der britischen Zentrale in Westminster an die Exekutive in Belfast ist ein bedeutsames politisches Signal gesetzt worden. Bis zuletzt hatte man sich in diesem sensiblen Bereich zwischen den beiden Regierungsparteien nicht über eine Polizei- und Justizreform einig werden können. Zu groß war das gegenseitige Misstrauen aus der belasteten Vergangenheit. Mit David Ford hat man sich auf einen Justizminister verständigt, der keiner der beiden Parteien angehört, sondern Mitglied der liberalen, nicht-konfessionellen Alliance Party of Northern Ireland ist.

Bei der diesjährigen Wahl zum britischen Unterhaus wurden die beiden Regierungsparteien bestätigt. Die nordirische Wählerschaft kann nicht unmittelbar die britischen Parteien wählen, sondern entscheidet darüber, wie viele Sitze welche Vertreter ihrer Regionalparteien im Unterhaus bekommen. Da DUP und Sinn Fein als Gewinner aus den Wahlen hervorgegangen sind, gilt dieses Wahlergebnis als sichere Prognose für den Ausgang der nordirischen Parlamentswahl im kommenden Jahr.

Dennoch: Die relativ stabile politische Lage kann nicht die konfliktträchtige Spaltung der Gesellschaft in die beiden großen politisch-religiösen Lager, in irisch-republikanische Katholiken und britisch orientierte Protestanten verdecken. Von einem Ende politisch motivierter Gewalt, von der Beseitigung politisch-religiöser Vorurteile und der Furcht vor der jeweils anderen Seite kann noch keine Rede sein. Dies wurde im Zusammenhang mit dem Saville Report deutlich, der im Juni 2010 veröffentlicht wurde: 38 Jahre lang hatten Angehörige der Opfer des Bloody Friday und die katholische Community in Derry (offiziell Londonderry) um die Wahrheit gekämpft. Am 30. Januar 1972 waren 14 unbewaffnete katholische Zivilisten von britischen Spezialeinheiten während eines Bürgerrechtsmarschs erschossen worden. Die offizielle britische Erklärung, es habe sich bei den Toten um "Terroristen" gehandelt, und die damit verbundene Rechtfertigung des brutalen Militäreinsatzes trugen wesentlich zur Eskalation des Konfliktes bei. In der Folge wurden britische Soldaten von nordirischen Katholiken als feindliche Besatzungsmacht angesehen, und der Terror auf beiden Seiten wuchs. Im Friedensabkommen war eine erneute Untersuchung der Umstände, die zum Tod der 14 Menschen geführt hatten, vereinbart worden.

Zwölf Jahre lang wurde unter der Leitung von Lord Mark Saville recherchiert. Am Ausmaß der Erleichterung über die vollständige Rehabilitation der Ermordeten mag man ermessen, dass es große Befürchtungen gab, das Untersuchungsergebnis könne Ursache und Anlass für neue gewalttätige Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten sein. Die protestantische Seite reagierte prompt mit der Forderung, auch die Rolle des Vize-Premiers und ehemaligen IRA-Kämpfers Martin McGuiness in dem damaligen Geschehen müsse genau untersucht werden. Kritiker der nordirischen Entwicklung vermissen wirksame politische Impulse für eine demokratische Gesellschaftsordnung, die geeignet sind, die politisch-religiöse Lagermentalität endlich aufzubrechen und zu überwinden. Sie bedauern, dass das Belfast Agreement die bipolaren Traditionen ausdrücklich stärke und wesentlich dazu beitrage, dass zum Abbau der politisch-religiösen Spaltung viel zu wenig geschieht. Ob eine solche Entwicklung unter den Bedingungen der massiven Haushaltskürzungen, welche die neue britische Regierung beschlossen hat, gelingen kann, bleibt abzuwarten. Viele Nordiren befürchten als Konsequenz der Cuts eine wirtschaftliche Rezession, die dazu beitragen könnte, dass sich die Konfliktlage zwischen der protestantischen und katholischen Unterschicht wieder verschärft.

Dekonstruktion der Segregation

Segregation in Nordirland bedeutet, dass sich auch heute noch Katholiken und Protestanten räumlich kaum mischen. Besonders gut untersucht ist die sozialräumliche Segregation mit ihren Auswirkungen für Belfast. Hohe Segregation korreliert mit sozialer Deprivation und Exklusion. Orte, die hoch segregiert und sozial depriviert sind, sind meist auch Interface-Wohngebiete: Sie werden von der jeweils "anderen Seite" durch Trennwände, Interfaces oder auch Peacelines genannt, abgeschirmt. Nach 1998 wurden bestehende Trennwände nicht nur aufrechterhalten, sondern auch einige neue hinzugefügt. Im Mai 2007 wurde eine acht Meter hohe Trennwand in Nord-Belfast errichtet, um die Bewohner von Old Throne Park vor Angriffen zu schützen. Diese Wand verläuft ausgerechnet über den Spielplatz der Hazelwood Integrated School. Das ist irritierend, ja beschämend zugleich, wenn man bedenkt, dass sich Integrated Schools für ein friedliches Miteinander einsetzen.

Peter Shirlow und Brendan Murtagh haben im Jahr 2007 festgestellt, dass mehr als zwei Drittel der Katholiken und Protestanten in Wohngebieten leben, die mindestens zu 80 Prozent entweder katholisch oder protestantisch sind. Gerade einmal zehn Prozent der Katholiken und sieben Prozent der Protestanten leben in Gegenden, die als gemischt gelten können. Shirlow und Murtagh konstatieren zudem eine tendenzielle Zunahme der räumlichen Segregation. In der Erhebung wurden 1073 Menschen nach ihrer Meinung zu diesen Abtrennungen gefragt. 76 Prozent waren wegen ihres Sicherheitsbedürfnisses gegen einen sofortigen Abriss; gleichzeitig gab eine Mehrheit der Befragten an, dass die Politik mehr tun müsse, um Bedingungen für ein Leben ohne Mauern zu schaffen. Andere Befragungen in Belfast haben nachgewiesen, dass Menschen in Interface-Wohngebieten enormem Stress ausgesetzt sind. Die ehemals begründete Furcht vor Bombenattentaten ist der Furcht vor niederschwelligen Formen der Gewalt gewichen. 25 Prozent der Männer und 27 Prozent der Frauen fühlen sich in ihrem eigenen Wohngebiet nicht sicher, wenn es dunkel ist. Nur 15 Prozent würden ein Arbeitsangebot annehmen, wenn der Arbeitsplatz im Wohngebiet der anderen Gruppe liegt. Dies hat erhebliche Einschränkungen für das Mobilitätsverhalten der Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt zur Folge.

Segregation bestimmt nicht nur das Verhältnis zwischen den beiden politisch-religiösen Gruppen. Sie wirkt auch nach innen und nimmt Einfluss auf das Zusammenleben innerhalb der Eigengruppe. Wie Interviews mit Belfaster Anwohnern in Interface-Wohngebieten erbracht haben, verletzt man den Verhaltenskodex der eigenen Gruppe, wenn man seine Einkäufe in Geschäften tätigt, die dem Gegner zugeordnet werden. Ein Ehepaar erzählt, dass es zwar seine Konsumgewohnheiten nicht daran orientiert, aber sehr wohl die Einkaufstüten nach dem Einkauf austauscht, damit die Nachbarschaft nicht mitbekommt, dass man von der Regel abgewichen ist. Sonst könne es durchaus passieren, dass die Fensterscheiben von aufgebrachten Nachbarn eingeschlagen werden.

Demgegenüber lebt die nordirische Mittelschicht relativ stressfrei. Sozialräumlich mischen sich Katholiken und Protestanten eher, aber eine Dekonstruktion der Segregation hat auch in ihren Köpfen noch nicht stattgefunden. Gelebt wird gewaltfreie Koexistenz auf der Basis von Gleichstellung. Die Gleichstellungsbemühungen, ausgelöst durch den Northern Ireland Act (1998), haben vor allem dafür gesorgt, dass Katholiken der Zugang zum Öffentlichen Dienst erleichtert wird und Aufstiegsaspirationen belohnt werden. Protestanten erleben sich tendenziell als Verlierer, weil ehemals bestehende Privilegien aufgegeben werden müssen. Aber auch sie teilen mit der katholischen Mittelschicht aus Gründen des eigenen Wohlergehens das Interesse an politischer Stabilität.

Während Katholiken als Angehörige der Mittelschicht nicht mehr zu den Benachteiligten zählen und sich auch die Zahl der katholischen Studierenden derjenigen der protestantischen angepasst hat, lässt sich an der höheren Erwerbslosigkeit von Katholiken der Unterschicht die strukturelle Benachteiligung gegenüber der protestantischen Unterschicht weiterhin ablesen. Für die gesellschaftliche Entwicklung Nordirlands betonen Soziologen die Notwendigkeit von neutralen Räumen, in denen die althergebrachten Gruppenidentitäten keine Rolle mehr spielen. Um sich von dem ständig kontrollierenden Einfluss des eigenen Kollektivs und dem Zwang zur Konformität zu befreien, braucht es Schulen, die den Kindern die Chance geben, sich als Subjekte mit eigenen Bedürfnissen zu erleben und zu entwickeln.

Segregation versus Integration im Bildungssystem

Tatsächlich wird auch heute noch fast allen Kindern gemeinsames schulisches Lernen vorenthalten. 95 Prozent der Schüler und Schülerinnen in Nordirland lernen entweder in einer protestantischen oder katholischen Schule mit Kindern und Jugendlichen, die fast ausschließlich der gleichen Konfession angehören. Während die protestantischen Schulen gleichzeitig auch staatliche Schulen sind, befinden sich die katholischen Schulen in der Trägerschaft der Kirche, werden aber ebenfalls vollständig staatlich finanziert. Mit der leistungsbezogenen Aufteilung der Elfjährigen auf Secondary Schools und Grammar Schools am Ende der Grundschulzeit wird der politisch-religiösen Spaltung die soziale Segregation hinzugefügt.

Gegen diese unheilvolle Trennung wurde 1981 noch während des Bürgerkriegs Lagan College als erste integrierte Schule für das gemeinsame Lernen von der Elternbewegung All Children Together gegründet. Inzwischen gibt es seit 1989 mit der Education Reform Order die gesetzliche Verpflichtung des Staates, die Entwicklung von Integrated Schools zu erleichtern und zu unterstützen. Es gibt klare Regelungen, wie eine integrierte Schule zu gründen oder eine bestehende in eine solche umzuwandeln ist. Angesichts des inzwischen auch in Nordirland spürbaren Schülerrückgangs und enger Finanzen ist die Chance für Umwandlungen größer als für die Genehmigung von Neugründungen. Die Genehmigung für eine Umwandlung ist unter anderem an die Auflage des Schulministeriums gebunden, in der Zusammensetzung der Schülerschaft mindestens ein prozentuales Verhältnis von 70:30 zwischen den Schülern und Schülerinnen beider Konfessionen herzustellen. Tatsächlich haben die bestehenden integrierten Schulen ein sehr viel ausgewogeneres, fast hälftiges Verhältnis erreicht.

Im gesamten Verfahren werden die Initiativen begleitet und unterstützt vom Northern Ireland Council for Integrated Education (NICIE). Seit 1987 gibt es diese gemeinnützige, vom Ministerium anerkannte politische Interessenvertretung für integrierte Schulen. NICIE sorgt auch für die Vernetzung der integrierten Schulen, bietet Lehrer- und Elternfortbildungen an und macht sich unter anderem für die Entwicklung von Peer Mediation stark, damit Kinder und Jugendliche partizipativ als Streitschlichter in den Lernprozess des Miteinanderlebens eingebunden sind.

Integrated Schools und das Versagen der Politik

Die positiven Wirkungen der Integrated Schools für Toleranz, Frieden und Aussöhnung zwischen Kindern und Jugendlichen aus den beiden ehemals verfeindeten Bürgerkriegsparteien sind unbestritten. Sie sind in zahlreichen Studien der Queen's University und der University of Ulster in Belfast erforscht worden. Claire McGlynn hat insbesondere die Effekte auf ihre Nachhaltigkeit hin überprüft: Sie kann belegen, dass auch nach dem Verlassen der Schule interkonfessionelle Freundschaften und positive Einstellungen für ein tolerantes Zusammenleben Bestand haben und es ehemaligen Schülern und Schülerinnen von integrierten Schulen gelingt, sich vom Zwang zur Konformität in ihrer jeweiligen politisch-religiösen Herkunftsgruppe zu lösen.

Wenn auch von ihrer Entstehung die Integrated Schools zunächst dem Gedanken der Aussöhnung zwischen den Konfessionen und politischen Lagern in Nordirland verpflichtet waren, so haben sie sich doch weit darüber hinaus zu inklusiven Schulen entwickelt. Als solche sehen sie sich für das gesamte heterogene Spektrum ihrer Schülerschaft verantwortlich und beweisen in ihrer pädagogischen Arbeit, dass sowohl Schüler und Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf als auch solche mit dem Fähigkeitspotential für Grammar Schools willkommen sind. Sie sind attraktiv geworden für Eltern aus allen Schichten. In aktuellen Umfragen haben mehr als die Hälfte der Befragten ihre Präferenz für konfessionsübergreifende Schulen zum Ausdruck gebracht.

Die Zahl von derzeit 61 integrierten Schulen ist ein äußerst enttäuschendes und mageres Ergebnis. Gemessen an dem Potential, das diese Schulen für die gesellschaftliche Entwicklung entfalten können, muss sich die nordirische Regierung fragen lassen, warum sie trotz aller Rhetorik untätig bleibt. A Shared Future heißt zwar das von allen Politikern propagierte Gesellschaftsmodell, das Gleichstellung und gesellschaftlichen Zusammenhalt verspricht. Faktisch jedoch fehlt es an bildungspolitischer Unterstützung für Integrated Schools. Vermehrt wird in jüngster Zeit festgestellt, dass Umwandlungswünsche und Anträge von Schulen und Eltern vom Schulministerium mit dem Hinweis abgelehnt werden, dass dadurch andere Schulen in ihrem Bestand gefährdet würden.

Nicht nur NICIE, sondern auch der Northern Ireland Commissioner for Children and Young People (NICCY) kritisiert die konfessionelle Trennung im Schulsystem und das fehlende politische Interesse an integrierten Schulen. Als besonders besorgniserregend hebt der Bericht über Kinderrechte in Nordirland (2004) hervor, dass sich Kinder schon im frühen Alter aufgrund der Trennungen als katholisch oder protestantisch definieren. In den Wohngebieten, in denen es Spannungen und Konflikte zwischen den beiden politisch-religiösen Lagern gibt, entwickeln sie eine verhärtete Einstellung gegenüber der jeweils anderen Gruppe. Der Bericht macht auch aufmerksam auf Gewalt, der Kinder und Jugendliche wegen ihrer religiösen Identität auf den Schulwegen ausgesetzt sind. Einige Schulen müssen ihren Schülern und Schülerinnen den Zugang zu benachbarten Freizeitanlagen verbieten, um sie vor gewalttätigen Angriffen zu schützen.

Vor diesem Hintergrund hat Katarina Tomasevski, die Vorgängerin von Vernor Munoz im Amt der UN-Sonderberichterstatterin für das Menschenrecht auf Bildung, in ihrem Bericht über das nordirische Bildungssystem (2003) die Segregationseffekte kritisiert und den Mangel an Vision zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung beklagt. Ganz aktuell hat die Stiftung Integrated Education Fund (IEF) zur diesjährigen Northern Ireland Economic Conference einen Bericht veröffentlicht, der die Notwendigkeit gemeinsamer Bildung untermauert: 15 Prozent der bestehenden Schulen sind angesichts rückläufiger Schülerzahlen nicht ausgelastet. Die dramatischen Auswirkungen der angekündigten Kürzungen im Bildungssektor könnten zum Teil aufgefangen werden, wenn die Einsparpotentiale genutzt würden, die im Abbau von unsinnigen konfessionellen Doppelangeboten liegen. Auch der neue, konservative britische Minister für Nordirland, Owen Paterson, kritisierte auf dem Tory-Parteitag jüngst die nordirische Segregation und bezeichnete sie sogar als eine "kriminelle Vergeudung".

Kampf um die Grammar School

Schüler und Schülerinnen, welche die Grammar School besuchen wollen, mussten sich bis 2008 in der Abschlussklasse der Grundschule einem zentralen Test unterziehen und sich mit dem Ergebnis dieses Tests, der auch als 11-plus bezeichnet wird, als Elfjährige bei der Grammar School ihrer Wahl bewerben. Bildungsministerin Caitriona Ruane (Sinn Fein) hatte bei ihrem Amtsantritt 2007 angekündigt, dass diese Prozedur zur Aufteilung der Schüler und Schülerinnen auf Grammar Schools und Secondary Schools auslaufen soll. Sie konnte sich für ihre Reformpläne auf Empfehlungen von Gutachterkommissionen sowie des nordirischen Beauftragen für Kinderrechte berufen.

Auch die Schulleistungsergebnisse für Nordirland in den PISA-Untersuchungen legen einen Verzicht auf diese akademische Selektion nahe. Wie in Deutschland gibt es eine große Streuung der Schülerleistungen und eine hohe Quote an Bildungsverlierern, die hier wie dort eine Folge der frühen Leistungsaufteilung ist. Bereits die damalige UN-Sonderberichterstatterin Tomasevski hatte in ihrem Bericht über das nordirische Schulsystem an den 11-plus transfer tests erheblichen Anstoß genommen.

Die Ankündigung von Ruane löste heftige Reaktionen aus. Widerstand formierte sich im Regierungslager bei der DUP, bei den Grammar Schools und dem überwiegenden Teil der elterlichen Mittelschicht, sowohl im katholischen als auch protestantischen Lager. Da die Ministerin bis heute keine politische Mehrheit im Parlament für ihre Pläne hinter sich bringen konnte, haben ihre neuen Vorschriften, die akademische Tests als Aufnahmekriterium für Grammar Schools untersagen, keinen bindenden gesetzlichen Charakter. Die Grammar Schools unterlaufen die ministeriellen Regelungen, indem sie eigene Tests anstelle der abgeschafften zentralen Tests eingeführt haben.

Im März 2010 haben die katholischen Bischöfe in einer gemeinsamen Erklärung den sensationellen Beschluss verkündet, dass es an den katholischen Grammar Schools keine akademische Selektion mehr geben solle. Auch die protestantische Kirche verweigert sich nicht - aber die protestantischen Politiker umso mehr. Und diese haben mehr Einfluss als die Kirche, da sich die protestantischen Schulen in staatlicher Trägerschaft befinden. Dass die Ministerin die vollständige Abschaffung der akademischen Selektion gesetzlich durchsetzen kann, wird inzwischen kaum mehr für möglich gehalten. Die DUP als der stärkere Regierungspartner hat unmissverständlich erklärt, dass diese Pläne nur mit parlamentarischer Zustimmung der Legislative realisiert werden können, und ihre Ablehnung der ministeriellen Absichten deutlich zum Ausdruck gebracht.

Dabei müsste die Überwindung der bestehenden doppelten Segregation nach sozialen wie nach politisch-religiösen Kriterien das vorrangige Ziel der nordirischen Bildungspolitik werden. Für die demokratische Entwicklung Nordirlands kann es nichts Wichtigeres geben, als das Miteinanderleben zu lernen, um eine gemeinsame Zukunft zu haben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Peter Shirlow/Brendan Murtagh, Belfast: Segregation, Violence and the City, London-Dublin 2006, S. 59f.

  2. Vgl. Neil Jarman, Security and Segregation: Interface Barriers in Belfast, in: Shared Space: A research journal on peace, conflict and community relations in Northern Ireland, (2007), S. 30.

  3. Vgl. P. Shirlow/B. Murtagh (Anm. 1), S. 94.

  4. Vgl. ebd., S. 91.

  5. Vgl. ebd., S. 98f.

  6. Vgl. ebd., S. 104ff.

  7. Vgl. Claire McGlynn, Education for Peace in Integrated Schools: A Priority for Northern Ireland?, in: Child Care in Practice, 10 (2004) 2, S. 85-94.

  8. Vgl. Lesley Abbot, The Potential for Integrated Schools in Northern Ireland to Provide a Model of Inclusive Practice, in: Research Report for the British Educational Research Association (BERA), (2007), S. 1-10.

  9. Vgl. The Northern Ireland Commissioner for Children and Young People, Children's Rights in Northern Ireland, Belfast 2004.

Dr. phil., geb. 1946; ehemalige Lehrerin und Landtagsabgeordnete; Wissenschaftlerin und Bildungsjournalistin, Essen. E-Mail Link: ifenici@aol.com