Am 13. Oktober 2010 beging Margaret Hilda Thatcher ihren 85. Geburtstag. Applaus und Abscheu hielten sich in Großbritannien die Waage, wie stets, wenn es um die "Eiserne Lady" geht: Die Jahre von 1979 bis 1990, in denen sie als Premierministerin amtierte, stecken dem Land noch immer in den Kleidern. Lediglich in einem sind sich Claqueure und Kritiker einig, nämlich darin, dass Margaret Thatcher sicherlich die bedeutendste britische Politikerin nach dem Zweiten Weltkrieg war. Das Erbe ihrer Amtszeit ist bis heute allgegenwärtig, nicht zuletzt, weil "New" Labour in der Regierungszeit der Premiers Tony Blair und Gordon Brown nur wenige und allenfalls halbherzige Versuche gemacht hat, dieses Erbe zu konterkarieren - mit dem Resultat, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt heute weitestgehend aufgehoben zu sein scheint.
Kein anderes der führenden Industrieländer Europas ist so sehr gekennzeichnet von den Unterschieden der Herkunft, von Klasse und Rasse.
Thatchers Weltsicht, die für das politische Handeln ihrer Amtszeit und das Gesicht Großbritanniens bestimmend war, ist am besten zusammengefasst in einer Aussage, die bis heute zu ihren am häufigsten zitierten zählt: "(W)ho is society? There is no such thing! There are individual men and women and there are families and no government can do anything except through people and people look to themselves first. It is our duty to look after ourselves and then also to help look after our neighbour and life is a reciprocal business and people have got the entitlements too much in mind without the obligations (...)."
Diese Aussage formuliert den Kern neoliberalen Denkens: Das Verhalten des Einzelnen ist grundsätzlich nicht durch gesellschaftliche Umstände bestimmt; jeder Mensch ist für sein Verhalten selbst verantwortlich, Ungleichheiten gehen auf individuelle Entscheidungen zurück, die Auswirkungen von Herkunft oder sozialer Lage spielen keine Rolle. Diese Weltsicht bot die Rechtfertigung für das große Projekt der Thatcher-Jahre: die Aufgabe des politischen Konsenses, wonach Politik und Wirtschaft dem allgemeinen Wohlergehen zu dienen hatten. Dieser Konsens hatte Großbritannien über die Parteigrenzen hinweg seit dem Zweiten Weltkrieg geprägt. Umfassende Sozialfürsorge gehörte dazu, ebenso die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und eine überaus starke Stellung der Gewerkschaften. Die Wettbewerbsfähigkeit der britischen Industrie war dabei auf der Strecke geblieben; spätestens seit der Ölkrise zu Beginn der 1970er Jahre war das Modell offensichtlich nicht mehr tragfähig; keine der beiden großen politischen Parteien schien zur Reform fähig.
Thatcher zog nach ihrer Wahl im Jahr 1979 mit Gewalt die Reißleine. An die Stelle des Primats, dass die Wirtschaft dem Allgemeinwohl zu dienen hat, trat die Überzeugung, wonach die Wirtschaft zunächst einmal sich selbst zu dienen habe. Niemand bezweifelte, dass es für die Sicherung der Zukunft Großbritanniens dringend geboten war, die überbordende Bürokratie abzubauen und Ungleichgewichte im wirtschaftlichen Handeln, das immer stärker von den Gewerkschaften bestimmt wurde, zurecht zu rücken. Der Sinn der bis dato üblichen Preisfestsetzungen von Amts wegen, selbst für Bagatelldienstleistungen wie etwa einen Haarschnitt, erschließt sich aus heutiger Sicht genauso wenig wie das "Closed-Shop"-System in der Wirtschaft, das Arbeitsplätze zwingend an die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft koppelte.
Der Abriss überkommener industrieller Strukturen in den 1980er Jahren, von der Stahlindustrie bis zum Kohlebergbau, diente der Entlastung des Fiskus von teuren und wirtschaftlich wenig sinnvollen Subventionen. Gleichzeitig wurde jedoch versäumt, frei werdende Mittel in den Aufbau zukunftsweisender Industriestrukturen zu investieren, um so einen sozialen Ausgleich zu schaffen für die von katastrophaler Massenarbeitslosigkeit betroffenen Regionen. Ähnliches gilt für die Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur von der Telekommunikation über die Wasserversorgung und den sozialen Wohnungsbau bis hin zum Betrieb von Gefängnissen und Eisenbahnen: Alles wirkte vordergründig entlastend für die öffentliche Hand und motivierend für private Investoren. Im Ergebnis zahlten die Bürgerinnen und Bürger, und sie zahlen bis heute die Rechnung für diese Politik: durch extrem hohe Gebühren, Mieten und Fahrpreise bei miserablem Service. Gleichzeitig ist beispielsweise der Zuschuss, der aus dem Staatssäckel an das privatisierte Eisenbahnsystem gezahlt wird, heute viermal so hoch wie zu Zeiten der staatlichen British Rail.
Was zunächst als Rückkehr der Vernunft daherkam, bewirkte in sehr kurzer Zeit vor allem ein Auseinanderreißen der Gesellschaft und zementierte die sozialen Unterschiede über die Grenzen von Regionen oder der Rassenzugehörigkeit hinweg. Was tun mit den Arbeitslosen? Ganz einfach, so 1981 Arbeitsminister Norman Tebbit: "Als mein Vater in den 1930er Jahren arbeitslos war, hat er nicht rebelliert. Er hat sich auf sein Fahrrad gesetzt und solange Arbeit gesucht bis er sie gefunden hat." Die Parole "Get on Your Bikes!" wurde für die nächsten Jahre zur Standardantwort, wenn es darum ging, mit Arbeitslosigkeit und ihren Folgen umzugehen. Tatsächlich nahmen sich viele Menschen die Aufforderung zu Herzen: Die vom Abbau der Industrie verwüsteten alten Wirtschaftszentren im Norden Englands und in Schottland, wie etwa Glasgow, Manchester, Liverpool oder Newcastle, verzeichneten dramatische Abwanderungen; die Zuwanderung in die Wirtschaftsmetropole London sowie in den Südosten Englands nahm ebenso dramatische Züge an. Dank fehlender öffentlicher Investitionen in preiswerte Wohnungen explodierten die Preise für Miet- und Eigentumswohnungen - sehr zur Freude derjenigen, die Anfang der 1980er Jahre bei der Privatisierung der öffentlichen Wohnungsbestände zugegriffen hatten.
Als 1997 "New" Labour nach fast 18 Jahren in der Opposition das Regierungsruder übernahm, stellte sich nach wenigen Wochen der Euphorie heraus, dass eine grundlegende Abkehr von Thatchers Ordnungsprinzipien nicht beabsichtigt war. Sozialleistungen wurden weiterhin munter gekürzt, und verhaltensauffällige Jugendliche sollten durch die Einführung von ASBOs (Anti-Social Behaviour Orders) zur Räson gebracht werden - was die Komödiantin Linda Smith angesichts des unterfinanzierten Schul- und Fürsorgesystems zu dem treffenden Schluss kommen ließ: "(Y)ou have to bear in mind they are the only qualification some of these kids are going to get."
Dem Primat ausgeglichener Haushaltsführung trug Labour Rechnung durch die exzessive Verwendung von Public Private Partnerships (PPP) im Rahmen der Private Finance Initiative (PFI) für die Renovierung und den Unterhalt öffentlicher Infrastruktur: Die privaten Investitionen, beispielsweise in den Bau von Krankenhäusern und Schulen, werden über Jahrzehnte durch dauerhaften Mietzins beglichen, wodurch die Anfangsinvestitionen aus den öffentlichen Haushalten verschwanden. Zwar rechnete sich der Fiskus damit kurzzeitig aus den Schulden heraus - allerdings um den Preis eines gigantischen Schattenhaushalts, der das Land auf Jahrzehnte hinaus finanziell handlungsunfähig zu machen droht.
Auch die Schattenarithmetik des Schatzkanzlers und späteren Premierministers Gordon Brown schützte Großbritannien nicht vor den Folgen der Immobilien-Finanzkrise, die ab 2008 mit voller Wucht über das Land hereinbrach und hier weit schwerwiegendere Folgen hatte als etwa in Deutschland. Denn zum einen ist Großbritannien in viel größerem Maße als andere Länder in der Europäischen Union auf seinen Finanzsektor angewiesen, weshalb gleich zu Beginn der Finanzkrise eine ganze Reihe von notleidenden Geldinstituten unter staatliche Kuratel gestellt wurde. Zum anderen hängt das persönliche finanzielle Wohlergehen der Briten in ungeheurem Maße von der Werthaltigkeit ihrer Immobilien ab. Mehr als 70 Prozent der Immobilien in Großbritannien sind Eigentum ihrer Bewohner - in Deutschland liegt diese Rate bei unter 40 Prozent. Jede auch noch so kleine Verwerfung in diesem Sektor bringt die gesamte Wirtschaft in höchste Gefahr: Wer Aufgrund negativer Entwicklung der Immobilienpreise plötzlich überschuldet ist, läuft Gefahr, seinen Kredit zu verlieren, und hat dementsprechend wenig Optionen für den privaten Konsum. Dass die hohe Eigentumsquote bei Immobilien volkswirtschaftlich nicht unbedingt sinnvoll ist, wissen die wechselnden Regierungen Großbritanniens spätestens seit der Immobilienkrise der späten 1980er Jahre. Allerdings bringt ob der immobilienbesitzverliebten Bürger keine Regierung den Mumm auf, dieser Entwicklung entgegenzusteuern.
Für die Koalitionsregierung aus Konservativen und Liberaldemokraten, die im Mai 2010 die Amtsgeschäfte übernahm, stellt die Finanzkrise Bürde wie Chance zugleich dar: Bürde, weil die Spielräume für Regierungshandeln empfindlich beschnitten sind; Chance, weil sich hier die Ausrede bietet für weitere empfindliche Einschnitte in das Sozialsystem und den weiteren Rückzug des Staates aus seinen Fürsorgepflichten. Immerhin konzedieren heute auch die härtesten Thatcher-Adepten in der Tory-Partei, dass nicht alle Menschen aus eigener Kraft ihr Wohlergehen sichern können. Deshalb wird unter dem Slogan "Big Society" eifrig für Solidarität aus privater Initiative getrommelt. Im Programm der Regierung heißt es, das Ziel sei "to create a climate that empowers local people and communities, building a big society that will 'take power away from politicians and give it to people'".
Um dieses Ziel zu erreichen, sollen eine "Big Society Bank" gegründet und ein nationaler Bürgerdienst eingeführt werden.
Wie die Umsetzung dieser Idee aussehen könnte, manifestierte sich im ersten Budget der Koalitionsregierung: Die Folgen der Wirtschaftskrise boten das Alibi für Haushaltskürzungen in Höhe von rund 81 Milliarden Pfund, das sind die drastischsten Streichungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Betroffen davon sind vor allem soziale Dienstleistungen. Mietzuschüsse werden gedeckelt, was Bedürftigen den Verbleib in den Ballungszentren des Südostens erschweren dürfte. Singles unter 35 Jahren wird der Anspruch auf eine abgeschlossene eigene Wohnung aberkannt: Ein WG-Zimmer muss reichen. Der Rentenbeginn wird auf 66 Jahre angehoben. Arbeitslose müssen jeden angebotenen Job annehmen, andernfalls drohen Zuwendungssperren von bis zu drei Jahren. Kinder aus finanziell schlechter gestellten Familien bekommen ab dem 16. Lebensjahr keine Ausbildungsunterstützung mehr; gleichzeitig sollen die Studiengebühren sukzessive auf mehr als das Doppelte angehoben werden. Rund eine halbe Million Stellen im ffentlichen Sektor fallen weg, was wohl besonders in den alten Industrieregionen in Nordengland zu Massenarbeitslosigkeit führen dürfte.
Die Situation ist bereits jetzt dramatisch: Die Auswirkungen der Finanzkrise haben die positiven Effekte des Wirtschaftswachstums des vergangenen Jahrzehnts hinweggefegt. Jetzt will sich der Staat noch weiter zurückziehen aus der Fürsorge für die Menschen - die sollen sich, ganz im Sinne des alten Thatcher-Diktums, zunächst einmal um sich selbst und dann um ihre unmittelbaren Nachbarn kümmern. Was als Idee einer emanzipierten und offenen Bürgergesellschaft daherkommt, offenbart sich bei näherem Hinsehen als autoritäres, krämerseliges Sparprogramm.
Nicht einmal treue Parteigänger der Konservativen glauben dieser Rhetorik: Im Blog des "Daily Telegraph", dank seines Selbstverständnisses als medialer Fackelträger der Tories einer sozialismusfreundlichen Haltung unverdächtig, stand zu lesen, die Idee der "Big Society" sei von vornherein zum Scheitern verdammt, weil ein großer Teil der Briten dem Staat die Fürsorgepflicht als Kernaufgabe zuschreibe und selbst nicht sozial tätig sein wolle. Im gleichen Blatt hieß es auch, mit diesem Konzept sei Großbritannien endgültig in einer Gesellschaft angekommen, in der das Prinzip des "Friss oder Stirb" gelte. "Big Society", das bedeute: "Gnade den Armen, Gebrechlichen, Alten, Kranken und denjenigen, die auf Hilfe angewiesen sind."