Einleitung
Die jüngsten Wachstumsprognosen bestätigen, dass Deutschland wirtschaftlich gestärkt aus der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre hervorgegangen ist. Der Export boomt wieder, und die Arbeitslosenzahlen sind unter die Drei-Millionen-Grenze gesunken. Zugleich wird über zunehmende Armut diskutiert und das Entstehen einer "Unterschicht" heraufbeschworen.
Unter dem Stichwort Corporate Social Responsibility (CSR) weisen Unternehmen auf ihre soziale Verantwortung hin, und eine vermeintlich neue Form gesellschaftlichen Engagements gerät ins öffentliche und politische Bewusstsein. Das Interesse hieran ist in den vergangenen fünf Jahren erheblich gestiegen.
Eine Analyse beider Trends - der Anstieg der Armut im Kontext einer steigenden gesellschaftlichen Polarisierung auf der einen Seite und das aufkommende Interesse an unternehmerischer Verantwortung auf der anderen - wirft die Frage auf, welche Rolle Armut in Deutschland in den CSR-Aktivitäten einnimmt. In welchen Bereichen kann CSR einen gesamtgesellschaftlich sinnvollen Weg zur Armutsbekämpfung darstellen?
Armut in Deutschland
Das Ausmaß an Armut variiert, je nachdem welche Definition gewählt wird. Im Kontext der Europäischen Union (EU) hat sich eine "relative" Bestimmung durchgesetzt, die alle diejenigen Menschen als armutsgefährdet bezeichnet, denen weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen "Nettoäquivalenzeinkommens" des jeweiligen Landes zur Verfügung steht. In Deutschland lag dieser Wert im Jahr 2009 für eine alleinstehende Person bei 11151 Euro Jahreseinkommen (23418 Euro bei zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren). In den Jahren von 2005 bis 2009 ist die Armutsgefährdungsquote in der EU laut Eurostat von 12,2 auf 15,5 Prozent gestiegen. Im Vergleich lag Deutschland 2008 etwas unterhalb des EU-Durchschnitts (16,5 Prozent). Länder wie Estland, Griechenland, Lettland oder das Vereinigte Königreich sind mit höheren Armutsraten konfrontiert. Deutlich niedrigere Armutszahlen weisen Dänemark, die Niederlande und die Tschechische Republik auf.
Auffällig ist, dass diejenigen, die in Armut leben, mit immer weniger auskommen müssen. Betrachtet man das Verhältnis des Gesamteinkommens des Bevölkerungsfünftels mit den höchsten Einkommen zum Gesamteinkommen des Bevölkerungsfünftels mit den niedrigsten Einkommen, so verfügten im Jahr 2005 die reichsten 20 Prozent über das 3,8-Fache. Drei Jahre später betrug ihr Einkommen schon das 4,8-Fache (2008).
Das Risiko, unter die Armutsgefährdungsschwelle zu rutschen, ist nicht gleich verteilt: Arbeitslose, Menschen mit niedrigem Bildungsstand und Menschen mit Migrationshintergrund sind besonders betroffen bzw. gefährdet, ebenso Alleinerziehende.
Armut trotz Erwerbstätigkeit
Der beste Schutz gegen Armut, so eine weit verbreitete Annahme, ist ein Arbeitsplatz. In der Tat hatten im Jahr 2008 von den Erwerbstätigen in Deutschland nur 7,1 Prozent ein Einkommen unterhalb der EU-Armutsgrenze (EU-Durchschnitt: 8,5 Prozent). Von den Arbeitslosen dagegen fielen mehr als die Hälfte, nämlich 56,8 Prozent, unter diese Schwelle (EU-Durchschnitt: 44,6 Prozent). Allerdings schützt längst nicht mehr jede Beschäftigung vor Armut. Sowohl bei Teilzeit- als auch bei Vollzeitstellen ist der Anteil gestiegen: auf fünf Prozent bei den Teilzeit- bzw. zehn Prozent bei den Vollzeitbeschäftigten.
Zwar gehören nicht alle Bezieher eines Niedriglohns zur Gruppe der working poor, aber sie sind einem deutlich größeren Armutsrisiko ausgesetzt als "Normalverdiener". Seit 1995 ist es zu einem beträchtlichen Anstieg der Beschäftigung im Niedriglohnsektor gekommen, gleichzeitig sind die Löhne drastisch gesunken. 2008 arbeiteten rund 20 Prozent der Beschäftigen (6,55 Millionen Menschen) für einen Lohn unterhalb der Niedriglohnschwelle,
In der aktuellen politischen Diskussion wird oft darauf verwiesen, dass nur ein Vollzeitarbeitsplatz eine Garantie bieten könne, ein Einkommen oberhalb der Armutsgrenze zu erzielen. Während die Zahl der "Normalarbeitsverhältnisse" (unbefristete Vollzeitstellen) auf dem Arbeitsmarkt auf ca. zwei Drittel gesunken ist, sind die sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnisse mittlerweile zu einem festen und immer größeren Bestandteil geworden. In der Mehrzahl handelt es sich um Teilzeitstellen, auf denen überwiegend Frauen beschäftigt sind. Hinzu kommen geringfügig Beschäftigte und Zeitarbeiter. Die Zahl der Beschäftigten in Zeitarbeit ist zwischen 1993 und 2010 von knapp 140000 auf rund 900000 gestiegen.
Neben einschneidenden gesetzlichen Reformen im Arbeitssektor und der bisher hohen Arbeitslosigkeit ist eine gesunkene Tarifbindung in einheimischen Unternehmen für die Entwicklung im Niedriglohnsektor mitverantwortlich. Waren 1996 noch 70 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Westdeutschland und 56 Prozent in Ostdeutschland in Unternehmen mit Branchentarifvertrag angestellt, sank der Anteil bis 2009 auf 56 Prozent (West) und 38 Prozent (Ost).
Seit den "Hartz-Reformen" (ab 2003) ist der Sozialleistungsbezug trotz Erwerbsarbeit bei allen Arbeitsformen (Vollzeit, Teilzeit, Ausbildung, geringfügig Beschäftigte) angestiegen. Ende 2008 erhielten 1,1 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer staatliche Transferleistungen. Hierunter befanden sich fast 300000 Vollzeiterwerbstätige.
Die Fluktuation in der Gruppe der Beschäftigten mit gleichzeitigem Sozialleistungsbezug zeigt zwar, dass das Phänomen für den Einzelnen von kurzer Dauer sein kann, aber insgesamt ist eine immer größer werdende Gruppe von Menschen im Verlauf ihres Arbeitslebens betroffen. Und längst nicht alle schaffen den Ausstieg aus den staatlichen Transferleistungen. In den vergangenen Jahren hat sich eine Tendenz zur Verlängerung des Leistungsbezugs gezeigt.
Die deutsche Lohn- und Gehaltsentwicklung im vergangenen Jahrzehnt war also gekennzeichnet durch eine Lohnspreizung zwischen den niedrigen und höheren Einkommen sowie eine Umverteilung zu Lasten der abhängig Beschäftigten insgesamt. Die Zahl der Haushalte mit einem niedrigen Einkommen ist dabei nicht nur anteilig gestiegen, sondern im Vergleich auch immer ärmer geworden. Auf der anderen Seite ist das Vermögen der Wohlhabenden weiter gewachsen.
Lohnentwicklung und europäischer Kontext
Auf den internationalen Aspekt dieser Entwicklung verweist der Osnabrücker Politikwissenschaftler Klaus Busch.
Auf diese Weise habe sich Deutschland international einen Wettbewerbsvorteil verschaffen können. Den Überschüssen in der deutschen Leistungsbilanz stünden die Defizite anderer EU-Staaten gegenüber. Eine Lohnentwicklung, wie sie sich im Niedriglohnsektor in Deutschland eingestellt habe, werde zum Beispiel in Frankreich durch einen gesetzlichen Mindestlohn verhindert. Durch diese Politik, so folgert Busch, exportiere Deutschland Arbeitslosigkeit in die anderen EU-Länder, während die Beschäftigung in Deutschland gestärkt werde. Die aktuellen Zahlen scheinen diese These zu bestätigen.
Unternehmerische soziale Verantwortung?
Hinter Corporate Social Responsibility steht die Idee, dass Unternehmen durch und zusätzlich zu ihrem wirtschaftlichen Handeln Verantwortung für gesellschaftliche Prozesse übernehmen (sollten). Eine so verstandene Unternehmenspolitik richtet sich nicht ausschließlich an den Interessen der Anteilseigner aus, sondern bezieht das gesamte Umfeld des unternehmerischen Handelns mit ein. Als sogenannte stakeholder (Anspruchs- bzw. Interessengruppen) zählen zu diesem Umfeld unter anderem Arbeitnehmer, Kunden, Auftraggeber, Lieferanten, Anwohner, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Investoren, politische Akteure, Medien, Wissenschaft, Forschung und Bildung bis hin zu supranationalen Organisationen, die an der Entwicklung von Leitlinien zur Wahrnehmung unternehmerischer Verantwortung zu beteiligen sind. CSR bezeichnet dabei die Maßnahmen, die von Unternehmen eingesetzt werden, um gesellschaftliche Prozesse positiv zu beeinflussen.
Laut Bundesregierung ist CSR Teil einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft. Es handele sich dabei um "ein integriertes Unternehmenskonzept, das alle sozialen, ökologischen und ökonomischen Beiträge eines Unternehmens zur freiwilligen Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung beinhaltet, die über die Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen hinausgehen (...)".
Zentrales und wichtigstes Element des CSR-Konzepts ist die Freiwilligkeit. Als Grundlage dienen den Unternehmen allgemeingültige Prinzipien, die vor allem in der dreigliedrigen Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO),
Das auf soziale, gesellschaftliche und ökologische Verantwortung gegenüber den Beschäftigten gerichtete Handlungsfeld innerhalb der CSR-Strategie ist in Deutschland weitgehend durch einen rechtlich abgesteckten Rahmen verbindlich geregelt.
CSR hingegen hat seinen Ursprung in angelsächsischen, liberal geprägten Wohlfahrtsstaaten. Allerdings verlief auch hier die Debatte um CSR-Ansätze kontrovers. Der liberale US-amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman (1912-2006) etwa argumentierte, dass es nicht in der Verantwortung eines Unternehmers liege, durch freiwillige Maßnahmen Armut zu reduzieren. Vielmehr liege die Verantwortung dafür bei der Politik. Denn diese definiere den gesetzlichen Rahmen, der von den Unternehmen in der Umsetzung ihrer unternehmerischen Ziele eingehalten werden müsse.
Was das internationale Engagement angeht, spielt Armutsbekämpfung in den CSR-Konzepten deutscher Unternehmen eine zentrale Rolle.
In der nationalen Ausrichtung liegt der Schwerpunkt der CSR-Konzepte jedoch auf anderen Themen wie zum Beispiel lebenslanges Lernen, demografische Entwicklung sowie Förderung von Kindern und Familien. Ziel der Unternehmen ist es, eine Situation zu schaffen, die sowohl den Unternehmen selbst als auch den Arbeitnehmern nützt (Win-win-Situation). So stellt beispielsweise die Ergänzung des Kinderbetreuungsangebots durch betriebliche Initiativen eine Unterstützung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dar, die letztlich auch den Unternehmen durch die verlässliche Präsenz ihrer Angestellten zugute kommt.
Konkrete CSR-Maßnahmen der Armutsbekämpfung sind in Deutschland bisher vergleichsweise selten. Erste Ansätze liegen aber vor allem im Bereich der Kinderarmutsbekämpfung vor.
CSR zur Wahrung sozialer Standards
Die Frage ist nun, ob das Potenzial damit bereits ausgereizt ist: Könnte die verstärkte Nutzung von CSR-Strategien in Deutschland dazu beitragen, die mit steigender Armut und Polarisierung einhergehenden Probleme zu bewältigen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass das hohe Maß an sozialrechtlichen Bestimmungen und Gesetzen - auf welche auch die Bundesregierung immer wieder verweist - einen darüber hinausgehenden CSR-Ansatz zur Armutsbekämpfung überflüssig macht?
"Vieles, was in anderen Ländern als CSR-Aktivität gilt, ist für deutsche Unternehmen rechtlich verbindlich und stellt damit schon per definitionem kein CSR dar", führt die Bundesregierung in ihrer CSR-Strategie ins Feld.
Trotz der immer wieder betonten hohen Sozialstandards gibt es einen Bereich, in dem Deutschland zumindest im EU-Vergleich hinter viele andere Mitgliedstaaten zurückfällt. 20 der 27 EU-Staaten haben einen gesetzlich gesicherten Mindestlohn, durch den das Absinken der Löhne und Gehälter nach unten und somit dem Anstieg von Armut Einhalt geboten werden soll. Gerade in Bezug auf die Lohnentwicklung nach unten hat bisher noch keine Bundesregierung einen branchenübergreifenden, verbindlichen und armutsvermeidenden Rahmen schaffen können. Ansätze zur Vereinbarung eines Mindestlohns bestehen lediglich in wenigen Branchen oder im Rahmen von Tarifverträgen. Dem Lohndumping sind daher kaum staatliche Grenzen gesetzt.
In Bezug auf das CSR-Engagement von Unternehmen in außereuropäischen Ländern heißt es im Aktionsplan der Bundesregierung: "Die Relevanz von CSR in vielen dieser Länder steigt dann noch, wenn die nationale Gesetzgebung und Rechtsdurchsetzung zur Umsetzung internationaler Konventionen und Standards nicht in ausreichendem Maße gegeben ist."
Schluss
Bleibt die Frage, ob freiwilliges Engagement der Unternehmen allein einen sinnvollen Weg zur Lösung der oben beschriebenen Probleme darstellen kann. Oder anders ausgedrückt: Kann es sich ein Land wie Deutschland leisten, einen im Fokus der Armutsproblematik stehenden Bereich wie den der Lohnpolitik unterer Einkommen dauerhaft von einer allgemeinen, rechtlich verbindlichen Absicherung auszuschließen?
Es bedarf einer gesellschaftlichen Diskussion darüber, ob wir in der Armutsprävention auf einen Paradigmenwechsel hin zu mehr freiwilligem Verantwortungsbewusstsein setzen sollten, das gegebenenfalls dort greift, wo das bestehende System der Lohnfindung durch die Tarifparteien zu schwach ist, um einen gesellschaftlichen Missstand zu beheben. Aber handelt es sich hierbei möglicherweise nicht - analog zu fehlenden gesetzlichen Sozialstandards im Ausland - um eine Schwäche der Politik? Diese zeigt sich in dem hier diskutierten Kontext in einem Staat, der nicht nur eine starke Tradition darin aufweist, soziale Absicherung gesetzlich zu verankern und damit einen verbindlichen Rechtsrahmen für alle zu schaffen, strukturelle Machtverhältnisse auszugleichen und eben nicht dem goodwill der Stärkeren zu überlassen, sondern der zudem noch in Bezug auf seine Außenwahrnehmung immer wieder auf diese Tradition verweist.