Einleitung
Am Thema Armut scheiden sich die Geister, aber nicht erst seit heute. Spätestens seit dem Aufkommen des Bürgertums sahen die Kassenwarte und jene, die Tüchtigkeit und Leistung für sich in Anspruch nahmen, Armut anders als die Armen selbst und kirchliche, später auch sozialstaatliche Instanzen. Insofern ist ein kontroverser Armutsdiskurs nichts Neues. Manches spricht aber dafür, dass sich die Debatte in den vergangenen Jahren polarisiert hat und extreme Meinungen zunehmen. Sowohl in privaten Stellungnahmen als auch in der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung werden die Töne schärfer. In diesem Essay sollen diese kontroversen Meinungsäußerungen zur Armut in Deutschland dargestellt, eingeordnet und, soweit wissenschaftlich begründbar, vorsichtig beurteilt werden. Es geht hier also weniger um die Meinung des Verfassers als um die Inhalte des aktuellen Meinungskonflikts.
Gibt es überhaupt Armut?
Einigkeit besteht darin, dass Armut in modernen Gesellschaften nur noch selten "absolute" Armut ist. Menschen laufen hier und heute nur noch selten Gefahr, infolge schlechter Lebensumstände zu verhungern, zu erfrieren oder unmittelbar krank zu werden. Kaum jemand bestreitet auch, dass Armut in diesem absoluten Sinne (moralisch) nicht zu rechtfertigen und (instrumentell) nachteilig selbst für die nicht Armen ist.
Als typische Armut in modernen Gesellschaften gilt die "relative" Armut. "Relativ" heißt sie deshalb, weil sie sich am Lebensstandard und an den Maßstäben der jeweiligen Gesellschaft bemisst. Über deren abstrakte Definition wird wenig gestritten. Weithin akzeptiert ist eine Interpretation der Europäischen Union (EU) aus den 1980er Jahren: Hiernach wird als arm angesehen, wer so wenig zur Verfügung hat, dass er von der Lebensweise ausgeschlossen ist, die im jeweiligen Land als Minimum annehmbar gilt. Unter diesem Minimum wird immer weniger ein bestimmter Lebensstandard, sondern die Teilhabe an wesentlichen gesellschaftlichen Bereichen verstanden.
Die Kontroversen beginnen dann aber schon bei der Frage, inwieweit diese relative Armut existiert und wie gravierend sie gegebenenfalls ist. Üblicherweise gelten in der Bevölkerung und im öffentlichen Diskurs mindestens diejenigen als arm, die so wenig Einkommen haben, dass sie berechtigt sind, öffentliche Leistungen zur Armutsbekämpfung (also etwa "Hartz IV") in Anspruch zu nehmen. Dieser Einschätzung stimmen auch die meisten Sozialwissenschaftler zu, weil für sie, wie schon Georg Simmel festhielt, Hilfsbedürftigkeit den Kern der Armut darstellt. Vielen Finanz- und Sozialpolitikern leuchtet es jedoch nicht ein, Empfänger von Sozialleistungen als arm anzusehen. Denn deren Armut wird ja bekämpft, und zwar mit vielen Steuergeldern. Insbesondere wird bekämpfte Armut dann nicht als Armut angesehen, wenn Leistungserhöhungen, die Gerichte oder Sozialminister den Finanzministern abtrotzen, dazu führen, dass mehr Niedrigverdiener anspruchsberechtigt sind und so ausgerechnet Armutsbekämpfung dazu führt, dass Armut statistisch zunimmt.
Die öffentlich diskutierten Armutszahlen beruhen jedoch meist nicht auf der "Sozialhilfegrenze". Vielmehr gelten alle Menschen als arm, deren "bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Haushaltseinkommen" weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens beträgt.
Gegen die üblicherweise publizierten Armutszahlen wird auch tiefer gehende Kritik laut: Wer eine bestimmte Einkommensgrenze als Armutsgrenze für alle heranzieht, einerlei, ob er die "Sozialhilfegrenze" oder eine "Prozentgrenze" verwendet, der unterstellt im Grunde, dass alle Menschen gleich (gut) mit Geld umgehen. Sonst wäre nicht zu rechtfertigen, dass unterhalb eines für alle gleichen Einkommens die Armut beginnt. In der Realität gibt es jedoch Menschen, die rational und sparsam wirtschaften, und Menschen, die sich unwirtschaftlich verhalten. Die konkreten Lebensumstände der Einkommensschwachen, die zum Beispiel viel Geld in Alkohol oder elektronisches Spielzeug umsetzen, sind selbstredend schlechter als die Lage der Sparsamen. Jede fixe Armutsgrenze, so der Einwand, gibt daher wenig Auskunft über die konkrete Lebenslage. Überlegungen wie diese veranlassten denn auch die EU und die (seinerzeit noch schwarz-rote) Bundesregierung, einkommensschwache Menschen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdienen, in ihrem Armutsbericht 2008 nicht als "arm", sondern als "armutsgefährdet" zu bezeichnen.
In ähnlicher Weise wird gegen feste Armutsgrenzen eingewendet, dass die "Ausgabezwänge" in der Stadt und auf dem Land, als isolierter Single und innerhalb eines Netzwerkes etc. sehr ungleich sind. Auch hier stimmt die Armutsgrenze mit der konkreten Lebenslage nicht überein.
Sind die zuletzt genannten Kontroversen eher akademischer Natur, so wird in der Bevölkerung oft viel elementarer darüber gestritten, wie "schlimm" relative Armut überhaupt sei. Die einen verweisen darauf, wie viel besser doch die relativ Armen im reichen Europa als die absolut Armen in Afrika lebten. Sie machen darauf aufmerksam, dass heute viele übergewichtige Arme in beheizten Wohnungen vor dem Fernsehapparat sitzen, während Arme noch in der Nachkriegszeit hierzulande (ver)hungerten, (er)froren und (sich zu Tode) schufteten.
Andere vertreten genau die gegenteilige Meinung: Relative Armut in reichen Gesellschaften sei schlimmer als absolute Armut in armen Gesellschaften, vor allem deshalb, weil Armut dort "normal" sei und niemanden ausschließe. Die reiche Gesellschaft jedoch zeige den Armen, wie vielfältig ihre Möglichkeiten sein könnten und wie anders ihre Existenz aussehen könnte. In reichen Gesellschaften werde die Verteilung von Geld und anderen knappen begehrten Gütern mit dem Satz legitimiert: "Jeder ist seines Glückes Schmied." Armut gehe daher mit Verachtung und geringer Selbstachtung einher. Armut schäme sich und ziehe sich zurück, während Reichtum selbstbewusst auftrete und die Normen setze, an denen sich die Armut zu messen habe. Es sei somit der Reichtum, der die Armut schaffe. Deshalb sei Armut gerade in reichen Ländern besonders fühlbar.
Eine andere Facette des laufenden Armutsdiskurses betrifft die Entwicklungstendenz: Die einen - hauptsächlich Ökonomen und Liberale - sagen, hier werde stark dramatisiert.
Damit kommen wir zur Frage, inwieweit sich eine arme Unterschicht herausbildet. Hier wurden manche Töne im Armutsdiskurs schrill, lauter jedenfalls, als es parteipolitische Positionierung und Instrumentalisierung allein erklären können. Denn es ging um die finanziellen und kulturellen Konsequenzen, nicht zuletzt für die nicht armen Bevölkerungskreise.
Gibt es eine Unterschicht?
Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck machte vor einiger Zeit mit der Behauptung Schlagzeilen, in Deutschland habe sich eine "Unterschicht" entwickelt, in der Aufstiegsbestrebungen und entsprechende Bemühungen kaum noch zu finden seien.
Die Meinungen gehen stark auseinander, inwieweit Arme in Deutschland eine eigene Schicht darstellen. Im Armutsdiskurs lassen sich hierzu vier Stufen wachsender Radikalität feststellen. Da finden sich erstens Meinungen, von einer Unterschicht sei bislang kaum etwas zu entdecken. Schon allein deshalb sei der diskriminierende Begriff zu vermeiden.
Dann findet sich zweitens die gemäßigte Auffassung von einer armen Unterschicht, wie sie auch Kurt Beck vertrat. Sie beschränkt sich darauf zu behaupten, es herrsche heute in der armen Bevölkerung Resignation vor. Insbesondere Aufstiegsbestrebungen seien immer seltener zu finden. Diese These lässt offen, ob (länger andauernde) Armut den Ursprung der geringen Aufstiegsbemühungen bildet oder ob umgekehrt Resignation und geringe Aufstiegsbemühungen die Quelle der Einkommensarmut darstellen. Beck empfahl bekanntlich einem Arbeitslosen, der sich über sein Schicksal beklagte, sich zu waschen und zu rasieren, dann habe er in drei Wochen eine Stelle.
Drittens meint eine viel weiter gehende Auffassung von "Unterschicht", dass sich innerhalb der armen Bevölkerung, ausgehend von längerfristig erfahrener Armut, eine ganze Kultur mit einem geschlossenen Syndrom von Denk- und Verhaltensweisen entwickelt habe, die in vielerlei Hinsicht problematisch sind, nicht nur im Hinblick auf sozialen Aufstieg. Da wird von perfektionierten Fertigkeiten gesprochen, Sozialhilfe zu nutzen und auszunutzen. Der Empfang von Sozialleistungen werde einer Erwerbstätigkeit vorgezogen, weil der Lohnabstand zu gering sei, weil Schulden und fällige Unterhaltszahlungen vom Lohn abgezogen würden etc. Da werden Dauerfernsehen auch tagsüber, Vernachlässigung der Kinder, ungesunde Ernährung, Überschuldung und ein Mangel an Vorbildern diagnostiziert.
Diese Sichtweise der "Unterschicht" erachtet die Einstellungen und Verhaltensweisen ihrer Mitglieder nicht nur als problematisch für sie selbst, sondern auch als schädlich für andere. Meist wird unterstellt, dass es die üblen Lebensumstände sind, die Menschen in ihr Verhalten drängen, dass also (frei nach Karl Marx) "das Sein das Bewusstsein" prägt. Das sei vor allem dann zu erwarten, wenn Menschen schlechten Lebensbedingungen relativ lange ausgesetzt sind. Diese Auffassung läuft also meist nicht auf die Behauptung hinaus, die Menschen seien selbst schuld an ihrer Misere. Brisant ist die Auffassung dennoch, und zwar was ihre Konsequenzen betrifft: Wer die Unterschicht kulturell verfestigt und deren "Vererbung" im Gange sieht, ist skeptisch, was die Wirkung und die weitere Erhöhung von direkten Finanzhilfen betrifft. Sie scheinen die Menschen eher noch weiter in ihre problematische Unterschichtkultur hineinzutreiben. Es sind dagegen Familienhilfen, Schuldnerberatungen und Sozialarbeit, die Abhilfe versprechen. Diese Schlussfolgerung ist sehr unbeliebt bei jenen, die den Sozialstaat zu allererst an seinen direkten Finanzleistungen messen und optimistischerweise annehmen, dass sich mit erhöhten regelmäßigen Geldzuwendungen auch eingeschliffene problematische Verhaltensweisen ändern werden.
Der Historiker Paul Nolte prangerte 2003 mit einer ebenso bekannt gewordenen wie viel kritisierten Formulierung die "fürsorgliche Vernachlässigung" der Unterschicht an.
Der Übergang von dieser Perspektive zu einer vierten Sicht der Unterschicht ist fließend. Hiernach haben deren Mitglieder sehr wohl die Entscheidungsfreiheit, weniger kalorienreich zu essen, ihren Kindern ein Frühstück mit in die Schule zu geben, die Hausaufgaben der Kinder zu kontrollieren und sich um Erwerbsarbeit zu bemühen, statt sich auf die "Stütze" zu verlassen. Wer problematisches Verhalten in der Unterschicht so sieht, diagnostiziert einen Mangel an (Selbst-)Disziplin. Diese moralische Verurteilung der Unterschicht ist keineswegs nur an Stammtischen zu hören. Sie wurde und wird in zahlreichen Zeitschriften- und Fernsehbeiträgen vertreten. So war etwa 2004 im "Stern" zu lesen: "Armut macht also nicht krank. Der schlechte Gesundheitszustand der Unterschicht ist keine Folge des Geldmangels, sondern des Mangels an Disziplin. Disziplinlosigkeit ist eines der Merkmale der neuen Unterschichtkultur." Und weiter: "Die Unterschicht verliert die Kontrolle, beim Geld, beim Essen, beim Rauchen, in den Partnerschaften, bei der Erziehung, in der gesamten Lebensführung."
Diese abwertenden Diagnosen von Defiziten sind aus soziologischer Sicht weit überzogen. Zum einen halten sich die beschriebenen Phänomene schon rein quantitativ in Grenzen. Sie lassen sich keinesfalls für große Teile oder gar für alle der rund zehn Millionen Einkommensarmen Deutschlands insgesamt beobachten. Zum anderen ist der Grad der Freiwilligkeit bzw. der Wählbarkeit von Verhaltensweisen gerade in beengten Lebensverhältnissen geringer, als viele der moralischen Verdikte unterstellen. Schon mancher aus bürgerlichen Mittelschichten musste selbst erfahren, wie schnell er in Impulskäufe oder andere "Disziplinlosigkeiten" geriet, wenn es finanziell eng wurde.
Schließlich werden die Folgen bei weitem zu negativ gesehen, so zum Beispiel vom Soziologen Heinz Bude: Die Mitglieder der Unterschicht stellen ihm zufolge "eine Gefahr für alle dar: Sie verzehren die Grundlagen des Wohlfahrtsstaats, bilden eine unerreichbare Parallelwelt und fungieren als unberechenbarer Resonanzboden für populistische Bestrebungen."
Die Maßnahmen, die aus der Sicht derer getroffen werden sollten, welche die Unterschicht moralisch verurteilen, liegen auf der Hand: Nicht hilfreich erscheinen regelmäßige unkonditionierte Geldzuwendungen oder Hilfen, die auf Freiwilligkeit bauen. Dagegen empfehlen sich Kontrollen, Strafen, zweckgebundene Gutscheine, pflichtgemäße Unterweisungen.
Diese Sichtweise wird oft schon aus Prinzip abgelehnt, weil man die Menschen eher als Opfer ihrer schlechten materiellen Verhältnisse denn als Schuldige sieht. Und in diesem Zusammenhang fallen nicht nur dogmatische Glaubenssätze, sondern auch Argumente, die nicht so leicht vom Tisch zu wischen sind: Wenn ein zu großzügiger Sozialstaat für die Entstehung einer nicht-autonomen wohlfahrtsabhängigen Unterschicht verantwortlich sei, dann müsste die Unterschicht nicht hauptsächlich in den USA und in Großbritannien, sondern in Schweden beheimatet sein.
Aber richtig scharf wird die Kritik an der "Kulturalisierung" und der moralischen Verurteilung der Unterschicht, wenn der Verdacht aufkommt, diese Sichtweise sei strategisch motiviert, um wohlfahrtsstaatliche Leistungen zurückzustutzen und die Kassen der Begüterten zu schonen. Damit wird angesprochen, wer nach Meinung vieler im gegenwärtigen Armutsdiskurs der wahre Adressat von Verurteilungen der Unterschicht ist: die Mittelschicht.
Bevor ich im letzten Abschnitt hierauf näher eingehen werde, soll aber noch eine, wenngleich kleine Nische des Armutsdiskurses ausgeleuchtet werden. Vielleicht als Antwort auf übertriebene Abwertungen der Unterschicht sind - in erster Linie innerhalb der Sozialwissenschaften, aber auch im Bereich der Mode und der Medien - in letzter Zeit nicht minder fragwürdige Aufwertungen entstanden. Trash-Kultur und Adipositas gelten auf einmal als kulturelle Kennzeichen der Unterschicht mit Eigenwert. Schulversagen infolge sprachlicher Mängel und Schulschwänzens werden als "institutionelle Diskriminierung" durch die Schule interpretiert, die bürgerliche Standards mit Macht durchsetze. Wer auf die geringe Weitergabe "kulturellen Kapitals" (Pierre Bourdieu) durch Eltern bildungsferner Milieus verweist, wird beschuldigt, die Unterschicht zu diffamieren und die Schule von Schuld entlasten zu wollen.
Im Grunde wird so die Jahrzehnte alte, in den 1960er Jahren in der Soziolinguistik (Basil Bernstein) bekannt gewordene Kontroverse zwischen der Defizit- und der Differenzhypothese wieder aufgegriffen. Letztere besagt, dass die Kultur der Unterschicht gleichwertig und nur anders als die der Mittelschicht sei. Die Defizithypothese dagegen charakterisiert Sprache und Kultur der Unterschicht als minderwertig. Doch schon in den 1970er Jahren war klar geworden, dass weder die reine Defizithypothese haltbar ist, noch die reine Differenzhypothese zutrifft. Heute aber werden beide Sichtweisen, die Wahrnehmung einer minderwertigen und die einer gleichwertigen Unterschicht, wieder in aller Reinheit und Unkenntnis verfochten. Es gibt auch diskursive Rückschritte.
Debatte um die Mittelschicht und ihre Folgen
Viele Teilnehmer des Armutsdiskurses konnten den Eindruck gewinnen, dass zumindest die moralischen Verurteilungen der Unterschicht latent an die Mittelschicht gerichtet sind. Es geht dabei nicht nur um Legitimationen von Leistungskürzungen. Vielmehr soll zum einen die Mittelschicht die Möglichkeit erhalten, sich nach unten abzugrenzen und sich moralisch als die "bessere" Schicht zu empfinden. Zum anderen soll auf diese Weise ein Feindbild erhalten und so die Statuskonkurrenz gesellschaftlicher Gruppen forciert werden. Schließlich soll die in der Mittelschicht latent immer schon vorhandene Angst vor dem Abstieg zur Disziplinierung genutzt werden.
Diese durchaus intendierten, aber kaum je artikulierten Zielsetzungen sind nicht neu. Dergleichen Absichten werden in Armutsdiskursen seit Jahrhunderten verfolgt. Freilich haben sich in letzter Zeit viele Gegebenheiten in der Mittelschicht verändert. Damit erzeugt der Armutsdiskurs jetzt dort teilweise andere Wirkungen als erwartet. Um die Lage der Mittelschicht ist deshalb eine eigene Debatte entstanden. Sie beeinflusst mittlerweile umgekehrt auch den Armutsdiskurs.
Man kann es messen, wie man will: Die Mittelschicht wächst nicht mehr. Je nach Definition stagniert oder schrumpft sie deutlich, sogar im Kern der modernen Wissensgesellschaft,
Um auf die Effekte des Armutsdiskurses zurückzukommen: In dieser Situation tut es den Angehörigen der Mittelschicht gut zu wissen, dass auch im Falle eines Abstiegs eine Grenze der moralischen Respektabilität nach unten hin zur "Unterschicht" bleibt. Die wachsenden Ängste in der Mittelschicht stellen auch eine gute Grundlage dar, um das Feindbild einer disziplin- und verantwortungslosen Unterschicht zu entwickeln und so die eigene Disziplin zu stärken.
Diesbezügliche Befunde haben in den vergangenen Jahren eine eigene Debatte um die Situation der Mittelschicht entfacht. Wer um das Schicksal der Armen besorgt ist, weist entdramatisierend darauf hin, dass sich Armutsrisiken allenfalls an schmalen Rändern der Mittelschicht zeigen, die Ängste dort somit weithin keine reale Grundlage haben und sich das Schrumpfen der Mittelschicht in Grenzen hält, vor allem, wenn die Facharbeiterschaft nicht zur Mittelschicht gezählt wird und die laufenden De-Industrialisierungsprozesse damit außen vor bleiben.
Wem das Schicksal der Mittelschicht am Herzen liegt, der betont dagegen, dass deren Abstiegsängste sehr wohl ihre Berechtigung haben, nicht nur in Zeiten der Finanzmarktkrise. Teile der Mittelschicht fühlen sich zudem ungerecht besteuert und halten ihre Arbeitsbedingungen und -zeiten für familienfeindlich. Auch wird darauf hingewiesen, dass aus Ängsten von potenziellen Modernisierungsverlierern mittlerweile relativ stabile Milieus mit einer politischen Aggressivität geworden seien (beispielsweise gegen "integrationsunwillige" Zuwanderer), die man in der Mittelschicht nie vermutet hätte. Die hohe Zustimmung zu den umstrittenen Integrationsthesen Thilo Sarrazins komme nicht zuletzt aus der Mittelschicht. Schließlich wird gewarnt, dass Mittelschichten, die sich in der "Zwickmühle" fühlen, seit jeher zu politisch erratischem Verhalten neigten. Aus ihrer Pufferfunktion könne sehr leicht politische Instabilität werden.
Auch wenn daran vieles richtig ist: Die Debatte über die schrumpfende und verängstigte Mittelschicht lässt sie an Glanz verlieren und macht sie als Aufstiegsziel unattraktiv. Haben es Arbeiter ohnehin schwer, in die Mittelschicht vorzustoßen, so kommt nun noch der Eindruck hinzu, die Mühe lohne sich immer weniger. Dies verstärkt in den unteren Schichten ohnehin vorhandene Gefühle der Resignation und der Ungerechtigkeit. Zum Zusammenhalt und zur Produktivität unserer Gesellschaft trägt das nicht bei.