Einleitung
Im Jahr 1958 wurde Angelo Giuseppe Roncalli, der 77-jährige Patriarch von Venedig, zum Bischof von Rom und damit zum Papst der katholischen Kirche gewählt. Der ebenso füllige wie freundliche Mann galt den Kardinälen als Übergangskandidat; das Konklave wollte mit seiner Wahl offensichtlich Zeit gewinnen. Doch der Sohn eines armen Landarbeiters aus der Nähe von Bergamo brach noch im Moment seiner Wahl mit der Tradition: Er setzte sich von der Mehrzahl seiner unmittelbaren Vorgänger bewusst ab, indem er den Namen Johannes annahm. Die Botschaft war eindeutig: Johannes XXIII. würde die Politik der letzten Päpste nicht fortsetzen.
"Papa Giovanni" galt als Mann aus dem Volke, der es bis zum Stellvertreter Christi gebracht hatte. In wenigen Tagen und Wochen schien sich im Vatikan nun manches zu wandeln. Das nicht einmal fünf Jahre andauernde Pontifikat Johannes' XXIII. zeitigte imposante und ungeahnte Wirkungen innerhalb und außerhalb der Kirche. Seit dem Tag seiner Wahl hatte sich Johannes XXIII. wie keiner seiner Vorgänger in das kommunikative Gedächtnis seiner Zeitgenossen eingeschrieben. Nicht nur für die Katholiken, die nach Erneuerung strebten, sondern für die ganze Welt vermochte die sympathische Vaterfigur auf dem Stuhle Petri mit einem Schlag das Charisma seines Amtes mit dem seiner Persönlichkeit aufzuladen: Person und Politik gingen ineinander auf. Johannes gelang es, sinnfällig und glaubwürdig "Bewegung" und "Reform" als Paradigmen seines Pontifikats zu postulieren. Er vermochte es, Veränderungen zu initiieren und durchzusetzen, allen Obstruktionen der Kurie zum Trotz. Und er verstand es, diese in der öffentlichen Inszenierung seiner selbst und seines Amtes überzeugend darzustellen.
Sein größtes Werk war die Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils, das grundlegende Reformen im Selbst- und im Weltverständnis der Kirche in Gang brachte.
Johannes XXIII. verdichtete das Leitmotiv seines Pontifikats und des Konzils in der italienischen Vokabel aggiornamento. Das "Auf-den-Tag-Bringen" der Kirche wurde zum Imperativ und zeichnete sich durch drei Strukturelemente aus:
Geschichtlichkeit: Mit dem Kirchenhistoriker Roncalli wurde ein Verständnis von Geschichtlichkeit anerkannt, das bereits seit der Jahrhundertwende in theologischen Diskursen zum Durchbruch gelangt war. Die Historizität der Kirche, vor allem die Zeitgebundenheit der Verkündigung des depositum fidei, des Glaubensschatzes, waren für diesen Papst selbstverständlich. Die Form der Verkündigung sollte den jeweiligen Zeitumständen angepasst werden, während der Inhalt für ihn unwandelbare Substanz darstellte. Mit diesem Verständnis der kirchlichen Heilsbotschaft war Johannes XXIII. ein entschiedener Reformer der Modalitäten - er blieb jedoch zugleich ein konservativer Geist, der durch die Theologie der Neuscholastik geprägt worden war.
Selbstreflexion: Der Papst wollte am Beginn der 1960er Jahre "das Fenster zur Welt öffnen". Die Kirche akzeptierte nun den Grundsatz der Pluralität - sowohl im Verhältnis zu anderen christlichen Kirchen und Gemeinschaften wie auch mit Blick auf den modernen liberalen Verfassungsstaat. Diese spektakuläre Wendung der Kirche zur Welt, ihre historische wie kulturelle Neupositionierung, machte einen zuweilen schmerzhaften Prozess der Selbstreflexion notwendig. Das Selbstbild der Mehrheit der Konzilsväter war daher nicht mehr die von der Welt abgewandte "triumphierende Kirche", sondern eine unaufhörlich zu beobachtende und zu reformierende Gemeinschaft - die ecclesia semper reformanda.
Pastoral und Kommunikation: Johannes XXIII. beendete die Sakralisierung und Überhöhung des Papsttums ins Übermenschliche, die unter seinem Vorgänger Pius XII. noch kennzeichnend gewesen war. Der Papst wollte "Mensch unter Menschen" sein. Er sah sich nicht als Dogmatiker, sondern als Pastor des Globus, als "Seelsorger der Welt". Die Idee des dialogischen Gottes machte auch seinen Stellvertreter auf Erden zu einem Mann des Dialogs.
Diese neue pastorale Kultur ging mit einer neuen politischen Kultur einher: Johannes XXIII., der ehemalige Diplomat des Vatikans im orthodoxen Bulgarien, in der muslimischen Türkei und im laizistischen Frankreich, veränderte folgerichtig auch die hundertjährige, unversöhnliche Frontstellung gegen Sozialismus und Kommunismus. "Ein neues Klima ist im Kommen, und ein Klima ist eben nicht aufzuhalten",
Die Theologie der Öffnung befruchtete nicht nur Pastoral und Liturgie. Das neue Selbst- und Weltverständnis bestimmte fortan auch den Stil der Außenpolitik des Vatikans inmitten der bipolaren Welt des Kalten Krieges. Die überkommene Kultur des Dogmas und der Belehrung wurde durch eine Kultur der Kommunikation und des Dialogs abgelöst.
"Aggiornamento" in der Außenpolitik
Mehr als 51 Millionen Katholiken lebten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in kommunistischen Staaten und damit im Machtbereich der Sowjetunion. Dies stellte eine grundlegende Herausforderung für die Führung der katholischen Kirche dar. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war die Politik kommunistischer Regierungen gegenüber den so genannten Ostkirchen und dem Vatikan von massiven Anfeindungen und sogar von einem deutlich erkennbaren Willen zur Zerstörung geprägt. Die mit Rom unierte Griechisch-Katholische Kirche der Ukraine zum Beispiel wurde seit 1944/45 von den Sowjetbehörden unterdrückt, verfolgt und schließlich mit der Russisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats zwangsvereinigt; ebenso erging es der katholischen Kirche in Rumänien, die in die dortige autokephale (selbstbestimmte), orthodoxe Kirche eingegliedert wurde.
Bis in die frühen 1950er Jahre hinein ließen die scharfen und existenziellen Konfrontationen nicht nach. Seelsorge war auf ein Minimum beschränkt oder gar unmöglich. Doch damit nicht genug. Sogar in West- und Südeuropa mehrten sich Anzeichen für kommunistische Machtübernahmen. In Frankreich rollte eine Welle politischer Gewalt durchs Land, die ganz offensichtlich von Moskau gelenkt wurde. Im unmittelbaren Umfeld des Petersdoms, in Italien, stellten die Kommunisten nach dem Krieg die dritte politische Kraft. 1947/48 kam es hier zu einer Kraftprobe der sich herausbildenden politischen Lager - nicht militärisch, sondern in einem legendären Wahlkampf, in dem das katholische Italien mit Unterstützung aus den USA gegen die Kommunisten Partei bezog. In beiden Ländern befürchtete man einen Bürgerkrieg. Auf diese Bedrohungen reagierte der Vatikan unter Papst Pius XII. mit Härte. Das Heilige Offizium dekretierte 1949, dass Katholiken, die sich mit kommunistischen Organisationen einließen, mit der schlimmsten Kirchenstrafe, der Exkommunikation, zu rechnen hätten.
Nach dem Tod Stalins 1953 und mit Beginn eines langsam einsetzenden Tauwetters war es innerhalb der kommunistischen Staatenwelt nicht nur zu Aufständen gekommen, sondern auch zu Ereignissen, die im Vatikan und bei den Christen vor Ort ein gewisses Maß an Hoffnung verbreiteten.
Im Januar 1958 erklärte der sowjetische Außenminister Andrej Gromyko, dass Moskau mit dem Heiligen Stuhl durchaus im Einverständnis sei, wenn es darum gehe, den Frieden zu wahren und einen atomaren Krieg zu ächten.
Einer der bedeutendsten Protagonisten dieses Paradigmenwechsels, der Wiener Erzbischof Franz Kardinal König, erinnert sich: "Die Wende (...) kam mit Papst Johannes XXIII. Nicht, dass er vielleicht etwas, was früher gesagt wurde, aufhob. (...) Er war eine Persönlichkeit von besonderer Ausstrahlung in der persönlichen Begegnung. Er hat in diese menschliche Begegnung auch die Kommunisten mit einbezogen."
Während der dramatischen Zuspitzung der Kubakrise im Oktober 1962 bestand das "Aggiornamento" päpstlicher Außenpolitik seine erste Bewährungsprobe. Auf dem Höhepunkt der Konfrontation griff Johannes XXIII. mit einem Friedensappell in das Geschehen ein und ermöglichte Wege zu einem Kompromiss ohne Gesichtsverlust für beide Seiten. Durch die aktive Rolle des Vatikans eröffnete sich ein Gesprächskanal für die Supermächte, indem sie auf Einlassungen eines Dritten reagierten. Auf diese Weise wurde ein vom Vatikan vermittelter Dialog möglich. Die italienische Vokabel mediazione bezeichnet diese vermittelnden diplomatischen Interaktionen. Die Mediation von gegensätzlichen Interessen und Parteien wird von der vatikanischen Diplomatie bis heute in Krisensituationen angewandt: Gemeint ist die aktive Vermittlung seitens des Heiligen Stuhls, die im Idealfall zu einem Ausgleich der Gegensätze führt.
Am Beispiel der Kubakrise offenbart sich die Bedeutung des Paradigmenwechsels in der vatikanischen Außenpolitik für die politische Kultur des Kalten Kriegs. Das beiderseits gepflegte, simple Freund-Feind-Schema jener Jahre enthielt nicht nur ein ebenso einfaches politisches Handlungsmuster, sondern auch ein dichotomes Wahrnehmungsmuster von der Welt. Dieses gab überdies einen festgezurrten Rahmen für Kommunikation vor, den selbst die Vormächte der beiden Lager nur mit großem Aufwand und unter zeitraubenden Umwegen überwinden konnten. In diese Situation brachte sich der Heilige Stuhl als aktiver (Über-)Mittler ein. Das System und die Sprachlosigkeiten des Kalten Kriegs eröffneten einer intermediären vatikanischen Diplomatie Freiräume zwischen den Blöcken. Nach dem Kuba-Schock wurden solche Blockaden wenigstens technisch abgebaut; es kam zu Entspannungsbemühungen und 1963 zur Einrichtung des berühmten "Roten Telefons", einer direkten Fernschreibverbindung zwischen Washington und Moskau.
Epochenjahr 1963
Das Jahr 1963 machte die Wende in der Vatikanischen Ostpolitik offenbar. Anfang März empfing der Papst erstmalig einen Repräsentanten aus der Sowjetunion im Vatikan in Privataudienz: Alexej Adschubej, Chefredakteur der Regierungszeitung "Iswestija". Adschubej war auf Geheiß seines Schwiegervaters Nikita Chruschtschow in den Vatikan gekommen. Im Verlauf dieser Unterredung wurde ein geradezu dramatischer Wandel deutlich. Adschubej bot dem Papst die Neuordnung der Kontakte und damit diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion an. Johannes XXIII. äußerte sich auf diese Avance nicht ablehnend, bremste aber. Der Papst wollte die Konservativen auf beiden Seiten nicht verprellen. Der Pontifex riet vielmehr, im Interesse beider Seiten "in Etappen" vorzugehen. Damit war der Weg für einen neuen Anfang geebnet.
Im April jenes Jahres lancierte Papst Johannes XXIII. sein wohl wirkmächtigstes Rundschreiben. Mit Bedacht und ganz im Sinne der neuen pastoralen wie politischen Kultur richtete er seine Friedensenzyklika "Pacem in Terris" nicht mehr nur an die katholischen Bischöfe, sondern an alle Menschen auf der Erde. Der Papst forderte Respekt und Achtung vor der Schöpfung Gottes, die es angesichts einer potentiellen globalen Vernichtung zu schützen gelte. Er sprach sich ferner dafür aus, zwischen der Bewegung des Sozialismus und deren ideologischem Überbau, mithin zwischen "dem Irrtum" und "den Irrenden", zu unterscheiden. Die politischen Bewegungen für soziale Gerechtigkeit hätten ihren Daseinssinn. Das sei die Rehabilitierung des Sozialismus, kritisierten aufgebrachte Konservative; der Papst solle die Beschwichtigungspolitik gegenüber dem linken politischen Spektrum unterlassen. Doch in den Machtzentralen der Ostblockstaaten setzte man sich nun erstmals fundiert mit diesem Papst und seinem Ansinnen auseinander. "Pacem in Terris" erreichte Adressaten, die gewöhnlich keine Verlautbarungen des Vatikans lasen. Die Enzyklika avancierte in der Folgezeit zu einem gerne zitierten und tragenden Fundament für Gespräche zwischen dem Vatikan und Staaten des Moskauer Glacis.
Es war Agostino Casaroli, der die Strukturen vatikanischer Politik im Kalten Krieg entwickelte und diese im Sinne der Päpste ins Werk setzte. Er war seit Anfang der 1940er Jahre im päpstlichen Staatssekretariat tätig und schon früh mit den Gepflogenheiten dieser Schaltstelle vatikanischer Macht vertraut. Kurz nach Erscheinen der Enzyklika war Casaroli von einer Reise nach Ungarn und in die Tschechoslowakei in den Vatikan zurückgekehrt. Er bekleidete zu diesem Zeitpunkt die Position des Untersekretärs im Rat für die außerordentlichen Aufgaben der Kirche, der Funktion eines stellvertretenden Außenministers vergleichbar. Mit dieser Reise hatte sich erstmals ein ranghoher vatikanischer Diplomat offiziell hinter den Eisernen Vorhang begeben. Im Auftrag des Papstes hatte er dort über das Schicksal der beiden bekanntesten repressierten katholischen Kirchenfürsten verhandelt: Josef Beran, der Erzbischof von Prag, kam 1963 aus der Gefangenschaft frei, aber József Kardinal Mindszenty, der Primas der ungarischen Kirche, verblieb noch bis 1971 in seinem Asyl in der Budapester Botschaft der USA.
Das dialogische Prinzip wurde nicht nur als Agens der vatikanischen Außenpolitik zu Grunde gelegt, sondern sogar in der römischen Kurie institutionalisiert. Ebenfalls seit 1963 diskutierten Kardinal König und der deutsche Augustin Kardinal Bea, der Präsident des "Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen", über die Aufgaben eines "Sekretariats für die Nichtglaubenden". Dieses neue Beratungsgremium wurde 1965 tatsächlich gegründet; es sollte die Beziehungen zu atheistischen Regimes im globalen Maßstab begleiten.
Mediation als Mission
Johannes XXIII. starb am Pfingstmontag des Jahres 1963. Die Politik des Gesprächs wurde von seinem Nachfolger, Paul VI., fortgesetzt. Der aus Brescia stammende Erzbischof von Mailand und kurienerfahrene Giovanni Battista Montini setzte auch das Konzil fort. Im Rahmen der Vatikanischen Ostpolitik stimmte Paul VI. unter gewissen Voraussetzungen sogar einer Audienz für Nikita Chruschtschow zu, die allerdings durch die Entmachtung des KPdSU-Chefs im Jahr 1964 nicht mehr zustande kam.
Den Beziehungen zur Sowjetunion, der Führungsmacht des sozialistischen Lagers, wurde von den vatikanischen Verantwortlichen mit Recht eine herausragende Bedeutung beigemessen. Die Kontakte mit der sowjetischen Führung entwickelten sich weiter und wurden regelmäßig von beiden Seiten gepflegt. Zuweilen wurden sie auch auf hoher politischer Ebene geführt. Ende Januar 1967 kam es erstmals zu einem Treffen der beiden formalen Staatsoberhäupter im Vatikan. Nicht der Generalsekretär, aber immerhin der Vorsitzende des Obersten Sowjet, Nikolai Podgorny, wurde von Paul VI. in Privataudienz empfangen.
Zwar wurden die Kontakte zwischen der Sowjetunion und dem Vatikan zu keinem Zeitpunkt institutionalisiert, dennoch rissen sie nie ab. Anfang der 1970er Jahre besuchte Erzbischof Casaroli, seit 1967 faktisch "Außenminister" des Vatikans, Moskau. Anlass war die Unterschrift des Vatikans unter den Atomwaffensperrvertrag. In einer Unterredung mit dem Präsidenten des Rats für religiöse Angelegenheiten Wladimir Kudojerow stellte der vatikanische Chefdiplomat einen Konnex zwischen der Lösung religiöser Fragen und psychologischer Entspannung weltweit her.
Spätestens Anfang der 1970er Jahre konnte der Vatikan als moralische Instanz einen bemerkenswerten Zuwachs an Bedeutung in der internationalen Politik verzeichnen. Diese Entwicklung wurde im Kreml auf der einen Seite kritisch gesehen, schließlich trat Leonid Breschnew die Bürger- und Menschenrechte im eigenen Lande mit Füßen: Gerichtsprozesse gegen Andersdenkende und langjährige Haftstrafen und Psychiatrisierungen waren an der Tagesordnung. Auf der anderen Seite konnten Kontakte nach Rom aus Moskauer Perspektive auch nützlich sein.
Das Konzept vatikanischer Ostpolitik wurde durch die Rolle Roms bereits im Vorfeld der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) bestätigt. Dort fungierte der Vatikan seit Mitte der 1960er Jahre in der Diskussion um das Zustandekommen einer internationalen Sicherheitskonferenz wiederum als ein von beiden Machtblöcken gefragter Mediator. Die Teilnahme des Vatikans am KSZE-Prozess stellte ein entscheidendes Ereignis in der Geschichte des Vatikans dar: Seit mehr als 150 Jahren nahm der Kirchenstaat wieder mit Stimmrecht an einem internationalen Gipfeltreffen teil.
Das wirft nicht nur ein Licht auf den Erfolg, sondern auch auf ein Dilemma vatikanischer Politik. Einerseits wollten die Gesandten des Papstes Mediatoren sein, ausgestattet mit einer besonderen moralischen Aura. Andererseits aber waren sie in den internationalen Auseinandersetzungen unweigerlich auch Partei. Sie standen auf der Seite des Westens und seiner Werte. Der apostolische Pronuntius in Helsinki und Delegationsleiter des Vatikans bei den Vorbereitungstreffen zur KSZE diskutierte in einem Bericht an das römische Staatssekretariat Ende 1972 diesen wesentlichen Punkt. Er mahnte Rom, es sei dringend geboten, den Anschein zu vermeiden, dass die Politik des Heiligen Stuhls von der Politik der westlichen Staatengemeinschaft abhänge: "Es wäre gefährlich, den Eindruck zu erwecken, es gäbe irgendwelche Verbindungen zwischen dem Los der Katholiken in den kommunistischen Ländern und den Entscheidungen" des Westens.
Der Imperativ des "Aggiornamento" hatte sich endgültig nicht nur als Reformimpetus der Kirche, sondern auch als Konzept der vatikanischen Diplomatie durchgesetzt. Diese dynamische Veränderung der politischen Kultur der katholischen Kirche basierte auf dem Wandel ihrer pastoralen Kultur: Sie bewertete Gesellschaft neu und betrachtete sie als zu gestaltendes Lebensumfeld der Menschen - als zu gestaltende Umwelt der "Geschöpfe Gottes". Indem der Vatikan Berührungsängste gegenüber kommunistischen Regimes öffentlich sichtbar ablegte, beglaubigte er die Bereitschaft zu einem "neuen Dialog" auf einem gemeinsamen kulturellen Fundament.
Dieser war nicht nur darauf ausgerichtet, eigene Interessen durchzusetzen, sondern im Rahmen der Möglichkeiten als Partner im Entspannungsprozess der späten 1960er und der ersten Hälfte der 1970er Jahre wahrgenommen zu werden. Die besondere Stellung in der internationalen Arena, die der Vatikan nicht aus seinem völkerrechtlich anerkannten Status als Staat herleitete, sondern aus der Gesamtverantwortung für alle "Geschöpfe Gottes", machte seine Einlassungen und Interventionen zu moralisch beglaubigten Stellungnahmen, über die keine Regierung in Europa hinwegsehen konnte. Dem Vatikan war es gelungen, sich als nicht blockgebundene moralische Großmacht im internationalen Gefüge zu etablieren.
Der Grundsatz "Mediation als Mission im Kalten Krieg" blieb auch über den Tod Pauls VI. hinaus wirksam. Johannes Paul II. stützte sich auf diese Grundlagen und intensivierte die vatikanische Ostpolitik mit dem Fokus auf sein Heimatland, der Volksrepublik Polen. Im Juni 1988 weilte Erzbischof Casaroli erneut in Moskau, nunmehr als Kardinalstaatssekretär. Dort kam es dazu, dass der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion der "Nummer Zwei" im Vatikan im Vertrauen eingestand, dass sowohl er selbst, Michail Gorbatschow, als auch der amtierende Außenminister Eduard Schewardnadse getauft seien. Darauf antwortete ihm der Legat des Papstes ebenso erfreut wie listig: "Dann haben wir ja wohl den fünfzigsten Jahrestag der Taufe des Generalsekretärs zu feiern und nicht das Millennium der Taufe der Kiewer Rus!"