Einleitung
Bis in die 1990er Jahre hinein lebte es sich in der Bundesrepublik ganz gut mit der Vorstellung vom "sauberen Deutschland". Korruption galt als ein Problem moralisch verdorbener Kulturen transalpiner oder orientaler, auf jeden Fall aber weit entfernter, unterentwickelter und in ihren Traditionen befangener Gesellschaften. Diese Sichtweise wurde unterstützt durch die Politikwissenschaft der 1960er Jahre, die Korruption zum Übergangsphänomen sich modernisierender Gesellschaften erklärte.
Zivilgesellschaftliches Engagement setzte eine Moralisierung der Politik und der Wirtschaft in Gang - mit der Folge, dass Anti-Korruption zum Grundsatz wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturpolitik in einer sich globalisierenden Welt erhoben wurde. So fungierte Anti-Korruption zunehmend auch als wesentlicher Mittler neoliberaler Politik.
Das internationale Projekt "Crime and Culture" unternimmt daher erste Schritte, im Rahmen eines europäischen Kulturvergleichs empirische Daten für die Rekonstruktion der "Gesinnung" (im zeitgenössischen Soziologenjargon: Habitus) zu erheben.
Untersuchungsgegenstand "Korruptionskultur"
Korruption ist nicht die Manifestation einer durch "kriminelle Energie" geprägten Persönlichkeit oder eines milieuspezifischen Typus sozialer Beziehung, sondern schlicht die Bewertung eines sozialen Handelns hinsichtlich kultureller Grundwerte einer modernen Gesellschaft. Die Blickrichtung verschiebt sich damit von den objektiven Ursachen und Wirkungen des Phänomens zu den subjektiven Wahrnehmungsweisen des Phänomens, den kulturellen Bedingungen ("Gesinnung"), die Korruption als soziales Problem erst möglich machen. Im Sinne einer Ethnographie der eigenen Kultur ist deshalb im Rahmen des Projekts danach gefragt worden, was die Menschen als Korruption ansehen und wie sie das Phänomen bewerten. Gesucht wurden empirische Definitionen von Korruption im gesellschaftlichen Alltag von Menschen.
Diese Unvereinbarkeit von privaten und öffentlichen Angelegenheiten ist eine normative Festlegung, deren gesellschaftliche Geltung durchgesetzt werden muss. Dies geschah und geschieht immer wieder in kritischen historischen Situationen. So etwa Ende des 19. Jahrhunderts, als der bis dahin im englischen Parlament übliche Ämter- und Stimmenkauf, also die selbstverständliche Haltung, ein öffentliches Amt als Königsweg zur persönlichen Bereicherung anzusehen, in Misskredit geriet und schließlich per Gesetz verboten wurde. Erst danach galt die Vermischung von privaten und öffentlichen Interessen als moralisch und rechtlich verwerflich. Was wir seit den 1990er Jahren mit dem Auftreten des Antikorruptionsdiskurses erleben, ist ebenfalls eine Neujustierung des Verhältnisses von privaten und öffentlichen Angelegenheiten. Plötzlich wurde politisches und wirtschaftliches Handeln neuen moralischen Ansprüchen unterworfen und das Rechtssystem gezwungen, sich diesen neuen Herausforderungen anzupassen. Die politischen und wirtschaftlichen Akteure, so zeigen die aktuellen Skandale, scheinen sich der neuen Situation nicht bewusst zu sein - zumindest haben sie ihr Handeln noch nicht an den neuen Standards ausgerichtet.
In unserer Gesellschaft weiß jede beziehungsweise jeder, was Korruption ist und was nicht. Aber nicht die allgemeine Definition von Korruption ist handlungsleitend, sondern die konkrete Wahrnehmung und die Praxis der Grenzziehung in den entscheidenden Situationen. Mit anderen Worten: Nicht die Korruption als solche ist das soziologische Problem, sondern die Veränderungen der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Korruption und die Gründe dafür sind es. Die Herangehensweise unseres Forschungsprojektes ist aber alles andere als rein akademisch. Gesucht wird eine Antwort auf ein unmittelbar praktisches Problem von historischer Relevanz, nämlich die Unzufriedenheit der EU-Kommission mit der gängigen Praxis der Korruptionsprävention der Europäischen Union. Bislang funktioniert dieses nach dem top down-Prinzip: Auf der oberen Ebene denkt sich jemand etwas aus, das auf den unteren Ebenen in die Praxis umgesetzt werden soll. Der geringe Erfolg, der solchen Programmen bisher beschieden ist, dürfte unter anderem daraus resultieren, dass das Alltagsverständnis und die spezifischen soziokulturellen Gegebenheiten bislang außer Acht geblieben sind. Bevor solche Programme aber gestartet werden, ist es zunächst einmal unabdingbar, herauzufinden, was in den einzelnen Ländern überhaupt unter Korruption verstanden wird beziehungsweise wie Korruption wahrgenommen wird.
Eine solche zu untersuchende "Korruptionskultur" umfasst nicht nur die Praxis korrupten Verhaltens im engeren Sinne, sondern alles auf Korruption bezogene Denken und Handeln in den einzelnen Handlungsbereichen einer Gesellschaft. Die Wahrnehmung von Korruption von Wirtschaftsführern unterscheidet sich ebenso deutlich von der eines Polizisten, Staatsanwalts oder Richters wie die eines NGO-Vertreters von der eines Politikers oder Journalisten. Es gibt also eine Pluralität von Kulturen der Korruption nicht nur in unterschiedlichen Ländern, sondern auch innerhalb einer Gesellschaft. In diesem Beitrag beschränken wir uns darauf, die Grundmuster der Korruptionswahrnehmung in Deutschland zu skizzieren.
Empirische Befunde und Versuch einer Deutung
Einen ersten Hinweis auf die allgemeine gesellschaftliche, insofern "typisch" deutsche Korruptionswahrnehmung lieferte ein von uns interviewter Polizeibeamter.
Worauf der Polizeibeamte hinweisen wollte, ist die doppelte Moral, die in Deutschland im Hinblick auf unterschiedliche Formen der Korruption herrscht. Zum einen bestätigte der Fachmann die von Laien geteilte Erfahrung, dass es im Alltagsleben der Deutschen Gelegenheitskorruption (so gut wie gar) nicht gibt. Dafür sei die strukturelle Korruption als eine Form organisierter Kriminalität eine weit verbreitete und allgemein bekannte gesellschaftliche Praxis, etwa in der Bauwirtschaft, im Gesundheitswesen und bei den Automobilzulieferern. Warum dann die Beteuerung, das gesamte deutsche Volk sei gänzlich frei von Korruption? Gilt Gelegenheitskorruption, im Englischen petty corruption, also Kleinkriminalität, als verabscheuungswürdiger Normenverstoß, so wird dagegen grand corruption als Kavaliersdelikt angesehen und als eine unter bestimmten Bedingungen (zum Beispiel: die Tat wurde im Ausland begangen) bis vor Kurzem sogar steuerlich absetzbare legitime unternehmerische Maßnahme. Beide Formen der Korruption korrelieren mit der Wahrnehmung beziehungsweise Nichtwahrnehmung - und das heißt Intoleranz beziehungsweise Toleranz gegenüber korruptem Verhalten. Dieser Zusammenhang bildet das Grundmuster der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Korruption in Deutschland.
Der Effekt ist der Folgende: Die verpönte alltägliche Gelegenheitskorruption ist eine "virtuelle", die es in Wirklichkeit nach allgemeiner Auffassung nicht zu geben scheint, weil die "kleinen Leute", die sich ihrer bedienen könnten, sich brav und bieder an die Regeln halten. Im Bewusstsein aber wird Korruption mit Gelegenheitskorruption gleichgesetzt und verabscheut. Sie wird als typisches Verhalten von "Ausländern" angesehen. Das Tabu der schäbigen Gelegenheitskorruption wirkt aber als Verschleierung der insgeheim von allen akzeptierten, viel eleganteren grand corruption, die von der vornehmen Elite geschäftsmäßig betrieben wird - und zwar nicht nur im "Ausland" und keinesfalls "genötigt" durch die dort angeblich geltenden Sitten und Bräuche.
Unterschiedliche Wahrnehmungen
Unter Politikern würde man Unterschiede in der Wahrnehmung von Korruption abhängig von ihren politischen Überzeugungen und Ideologien erwarten. Politikerinnen und Politiker aller im sogenannten "Kohl-Ausschuss" vertretenen Parteien gaben aber einmütig zu Protokoll, Korruption sei in Deutschland kein strukturelles Problem. Ein linker Politiker erklärte unumwunden, dass es für alle Themen in der Politik, so auch für Korruption, Konjunkturen gebe. Auffällig war auch die übereinstimmende Ablehnung einer radikalen Offenlegung der Einkünfte aus Nebenbeschäftigungen, die bekanntlich auch eine Quelle politischer Korruption sein können. Diese Beobachtungen lassen sich so deuten, dass Politiker sich in ihren öffentlichen Reden vor ihren Wählern von politischen Ideologien leiten lassen. Ansonsten folgen sie der "Logik" politischen Handelns, das heißt der strategischen Ausrichtung auf die Eroberung und Sicherung der Macht. Aus dieser Perspektive kann politische Korruption gar nicht als strukturelles Problem in den Blick geraten, sondern nur ein Mittel zum Zweck sein. Politisch relevant ist nur, was auf der Agenda steht und als Objekt der Profilierung der Partei und des Politikers funktionalisiert werden kann. Was innerhalb des politischen Feldes als rationale Befolgung der geltenden Regeln angesehen werden kann und dem entspricht, was die Bürgerinnen und Bürger von den Politikern erwarten, nämlich den von ihnen vertretenen Ideen und Interessen Macht zu verleihen, kann diesen Bürgerinnen und Bürgern als außenstehende Laien zugleich als opportunistisch erscheinen und das in Deutschland weit verbreitete Vorurteil von der "schmutzigen Politik" bestätigen.
Ist die Politik (einschließlich der öffentlichen Verwaltung) als Sachwalter des Allgemeininteresses das bevorzugte Ziel der Korruption, so liegt deren Quelle und Kraftzentrum in der Wirtschaft als dem Hort der Privatinteressen. Daher ist es gleichzeitig überraschend und bezeichnend, dass sowohl Repräsentanten der Wirtschaft als auch die Politiker Korruption nicht als strukturelles Problem ansehen. Allerdings sind die Gründe und Motive für diese Sicht hier andere. Aus der Sicht der Wirtschaft ist Korruption kein ökonomisches, sondern ein individuelles, rein psychologisches Problem. Marktwirtschaft kann nur gedeihen, so die innere Überzeugung der Wirtschaftsführer, wo ehrliche Kaufleute agieren, was nicht ausschließt, dass es schwarze Schafe gibt, die ihrem schwachen Charakter erliegen und sich nicht ökonomisch rational verhalten. Unternehmer suchen nach Gelegenheiten erfolgreichen unternehmerischen Handelns und lehnen jede (Über-)Regulierung ab, die sie in ihrer unternehmerischen Freiheit blockiert. Als Mittel der Korruptionsprävention ziehen sie es vor, die Moral des Einzelnen zu stärken, beziehungsweise an diese zu applieren, anstatt eine strenge institutionelle Kontrolle zuzulassen. Entsprechend beschränken sich die einschlägigen Maßnahmen in der Wirtschaft auf die Formulierung ethischer Grundsätze und die Berufung innerbetrieblicher Sittenwächter, neudeutsch: compliance officers.
Auch in den Gewerkschaften wird das Thema eher stiefmütterlich behandelt, nicht zuletzt wegen der Verstrickung einiger von ihnen in die Skandale der vergangenen Jahre. Immerhin fühlen sie sich zu Schutzmaßnahmen gegenüber ihren Mitgliedern verpflichtet, die als whistleblower über dubiose Vorgänge im eigenen Betrieb informieren und sich damit der Gefahr aussetzen, entlassen und als Spitzel oder Verräter denunziert zu werden. Gewerkschaftsfunktionäre, die sich aktiv gegen Korruption einsetzen, sind in der Minderheit und meist dem linken Flügel zuzuordnen. Diese sehen Korruption wiederum ausschließlich als ein Elitenproblem - die Skandale hätten letztlich zur Stärkung von Moral und Solidarität unter den "kleinen Leuten" beigetragen.
Richter, Staatsanwälte und Polizisten (Kriminalbeamte) lassen im Hinblick auf ihre berufliche Handlungsorientierung und auch bei Antikorruptionsmaßnahmen nicht nur eine legalistische Grundeinstellung, sondern ebenfalls eine stark ethische Ausrichtung erkennen. Sie halten sich nicht nur für die Wächter des Gesetzes, sondern auch für eine moralische Instanz der Gesellschaft. In Deutschland, klagen sie, sei das Bewusstsein für das Ausmaß und die Folgen von Korruption nicht ausgeprägt. Sie sehen in der Korruption eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, weil durch sie die Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen verletzt würden, was letztlich auch das allgemeine Rechtsempfinden unterminiere. Zu einer Verbesserung der Lage (also zu einer veränderten Einstellung der Bürgerinnen und Bürger), so ihre Einschätzung, könnten erfolgreiche Ermittlungen und Strafverfahren beitragen. Allerdings zeige die Praxis der Korruptionsbekämpfung, dass Polizei und Justiz stark angewiesen seien auf die Unterstützung durch die Politik, die Zivilgesellschaft und die Medien, ohne die sie gegen die massiven Pressionen seitens politischer und wirtschaftlicher Interessengruppen ihre Aufgaben nicht erfüllen könnten.
Von zentraler Bedeutung für die aktuelle Veränderung der Korruptionswahrnehmung und -bekämpfung ist Transparency International als zivilgesellschaftlicher Initiator des Antikorruptionsdiskurses der vergangenen Jahre. Zivilgesellschaftliche Akteure und Repräsentanten von Nichtregierungsorganisationen sind per definitionem Mitglieder einer Moralinstitution und daher bestrebt, den legalen Rahmen für soziales Engagement zu stärken. Sie begreifen sich als Erfinder neuer common goods (Gemeingüter), neuer Werte wie Umweltschutz, Menschenrechte und Anti-Korruption, die sie in die Öffentlichkeit tragen und auf die politische Agenda zu setzen versuchen. Korruption ist für diese zivilgesellschaftlichen Aktivisten das wirtschaftliche und politische Grundübel unserer Zeit, Anti-Korruption eine Mission, die aber nicht gegen die "Mächtigen" aus Politik und Wirtschaft, sondern nur als breites Bündnis und neuer Gesellschaftsvertrag zwischen allen Mitgliedern der Weltzivilgesellschaft durchgesetzt werden kann.
Neben diesen zivilgesellschaftlichen Akteuren nehmen vor allem die Medien Einfluss auf das Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger und deren Einstellung zur Korruption. Die nach dem politischen links-rechts-Schema für die Analyse ausgewählten (Print-) Medien, die "Süddeutsche Zeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", zeigen zum Beispiel deutlich unterschiedliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster. Die Beiträge in der konservativen "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" lassen eine funktionalistische Erklärung von Korruption als Störung oder Irritation erkennen, welche die Selbstheilungskräfte des Systems mobilisiert, wodurch es zu einer Erneuerung und Verstärkung der politischen und sozialen Ordnung kommt. Korruption erscheint hier als eine Form abweichenden Verhaltens, das - gemäß des konservativen Menschenbildes -, seine Wurzeln in den konstitutionellen menschlichen Schwächen habe. In der progressiven ("linksliberalen") "Süddeutschen Zeitung" wird Korruption dagegen als Verletzung grundlegender sozialer Normen ("Gerechtigkeit") und Ursache von Politikverdrossenheit betrachtet, die zu einer Delegitimierung der politischen Ordnung und damit zur politischen Strukturkrise führen kann. Gefordert werden daher Reformen zur Stärkung der Institutionen.
Fazit
Vergleicht man die verschiedenen Ansichten zur Korruption in Deutschland aus den sechs Handlungsbereichen, zeigt sich ein klarer Gegensatz. Vertreter aus Politik und Wirtschaft stimmen darin überein, dass Korruption kein strukturelles Problem in Deutschland sei. Genau dieses aber glauben Polizisten, Richter, Staatsanwälte und zivilgesellschaftliche Akteure und halten Korruption für ein ernsthaftes und weit verbreitetes Delikt, das die Gesellschaft bedroht. Wie Justiz und Polizei sehen auch die zivilgesellschaftlichen Akteure im "Allgemeininteresse" oder "Gemeinwohl" den höchsten Wert. Dies scheint für Politiker und Wirtschaftssubjekte nur mittelbar der Fall zu sein. Unternehmer, Manager und Politiker sind strategisch Handelnde mit einer strengen Erfolgsorientierung. Sie bewerten alle Mittel relativ zum politischen oder ökonomischen Erfolg und erfüllen - laut liberaler Doktrin - das Allgemeininteresse oder Gemeinwohl als mehr oder weniger nichtintendierte (Neben-)Folge ihres Handelns.
Jenseits dieser "klaren Fälle" treten im Bereich der Medien konkurrierende Wahrnehmungsmuster auf. Eine Erklärung könnte sein, dass Staatsbeamte und zivilgesellschaftliche Akteure sich an liberalen Vorstellungen orientieren, ökonomische und politische Akteure eine wertkonservative Legitimationsstrategie bevorzugen und die Vertreter der Medien relativ zu deren politischer Tendenz entweder einem auf liberale ("Süddeutsche Zeitung") oder konservative ("Frankfurter Allgemeine Zeitung") Werte ausgerichteten Weltbild verpflichtet sind. Das Wahrnehmungs- und Deutungsschema der Beiträge in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" verdient besondere Aufmerksamkeit, denn es reproduziert die Ansicht der wirtschaftlichen und politischen Elite - allerdings in einer elaborierteren Form. Der festgestellte Widerspruch zwischen der Behauptung, Korruption sei kein strukturelles Problem, und den anderslautenden Tatsachen wird aufgehoben in der Erklärung von Korruption als eine die Selbstheilungskräfte des Systems mobilisierende Störung - oder, mit Mephisto, als eine Manifestation der Macht, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.