Einleitung
Das Jahr 2008 wird vielen Menschen als "Krisenjahr" - Nahrungsmittelkrise, Ölkrise, Finanzkrise - in Erinnerung bleiben. Dabei ist die Nahrungsmittelkrise eng mit der Ölkrise (Düngemittelpreise) und der Finanzkrise (Spekulation) verknüpft. Die sprunghaft steigenden Preise für Nahrungsmittel hatten von der Karibik über Afrika und Asien zu gewaltsamen Protesten geführt. Seit Mitte 2005 sind die Preise für Nahrungsmittel gemäß der Weltbank um mehr als 80 % gestiegen. Der World Food Price Index der Weltbank erreichte mit 292 Punkten im Juni 2008 seinen Höchststand. Nahrungsmittel wurden für viele Menschen unbezahlbar. Die Folge: Die Anzahl der Hungernden stieg um 75 Millionen. Somit gehen heute knapp eine Milliarde Männer, Frauen und Kinder Abend für Abend hungrig schlafen. Ihr fundamentales Menschenrecht auf Nahrung wird verletzt.
Hunger hat ein ländliches Gesicht. Gemäß den Angaben der UN sind 50 % der Hungernden Kleinbauern, 22 % Landlose und 8 % Menschen, die von der Fischerei-, Wald- und Weidewirtschaft leben.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon erklärte beim Welternährungsgipfel im Juni 2008 in Rom: "Nichts ist so entwürdigend wie Hunger, besonders wenn er von Menschenhand verursacht ist."
Charakteristika des Weltagrarmarktes
Jahrzehntelang gab es ein Überangebot an Agrarprodukten, das die Preise auf dem Weltmarkt drückte.
In den vergangenen zehn Jahren blieb die Weltgetreideproduktion bis auf die Jahre 2004/05 hinter dem Verbrauch zurück. Dabei werden 36 % des produzierten Weltgetreides für Futtermittel aufgewendet. In der EU beträgt der Anteil der Futtermittel am Weizenverbrauch sogar 45 %.
Genauso beispiellos wie der Anstieg der Preise war auch ihr Fall. So sind seit März 2008 die Weizenpreise um 50 % und seit Mai 2008 die Maispreise um 40 % gefallen.
Für die Analyse der Nahrungsmittelkrise ist es wichtig, die Angebotsseite auf dem Weltagrarmarkt näher zu betrachten: Denn nur wenige Länder produzieren in großem Umfang für den Weltmarkt. 2007/08 werden 88 % des Weltmaismarktes von den drei Exporteuren USA (63 %), Argentinien und Brasilien abgedeckt. Ähnliches gilt für Reis. Dort entfallen 83 % des Weltreismarktes auf die fünf Exportländer Thailand (29 %), Vietnam, USA, Pakistan und Indien. Beim Weizen werden 74 % des Weltmarktangebotes von den USA (30 %), Kanada, den EU-27, Russland und Argentinien bestritten.
Den wenigen Exportländern und Konzernen steht eine große Anzahl von Ländern gegenüber, die von Nahrungsmittelimporten abhängig sind - Tendenz steigend. Viele waren zuvor Netto-Nahrungsmittelexporteure. Die Liberalisierung und Deregulierung der Landwirtschaft hat viele Entwicklungsländer von Nahrungsmittelimporten abhängig gemacht. Während die LDCs (Least Developed Countries) Ende der 1970er Jahre noch einen Netto-Überschuss bei den Agrarexporten von ein bis zwei Mrd. US-Dollar erwirtschafteten, beträgt ihr Nettodefizit im Jahr 1999 4,4 Mrd. US-Dollar. Das gleiche Bild ergibt sich bei den NFIDCs (Net Food Importing Developing Countries) mit 2 - 3 Mrd. US-Dollar an Überschüssen Ende der 1970er Jahre und 4 Mrd. US-Dollar an Defiziten Ende der 1990er Jahre.
Seit den 1980er Jahren haben sich die Weizen- und Reisimporte der LDCs verdoppelt. Diese Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten wird in Zukunft weiter steigen.
Der Weg in die Krise I: Liberalisierung à la IWF und Weltbank
Vor dem Hintergrund der ersten internationalen Schuldenkrise in den 1980er Jahren konnten die Bretton-Woods-Institutionen - Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank - ihren politischen Einfluss über die Strukturanpassungsprogramme auf die Handels-, (Land-)Wirtschafts- und Finanzpolitik von Entwicklungsländern erheblich ausweiten. IWF und Weltbank verordneten ein Standardreformpaket, das auf den Abbau staatlicher Interventionen in Wirtschaftskreisläufe, die Öffnung der Märkte für die öffentliche Konkurrenz (Handels- und Kapitalmarktliberalisierung) sowie die Herstellung makroökonomischer Stabilität ausgerichtet war. In den 1990er Jahren entwickelte sich der "Washington Konsens" zum Synonym des marktradikalen "one-size-fits-all"-Ansatzes der beiden Finanzinstitutionen. Bilaterale und multilaterale Geldgeber machten ihre Finanzhilfe häufig von der Präsenz eines IWF-Programms abhängig.
So ist es auch kein Zufall, dass Haiti, Mexiko und die Philippinen - Länder, die ihre Märkte sehr weitgehend liberalisiert haben - mit Protesten gegen hohe Nahrungsmittelpreise konfrontiert waren. Beispiel Haiti: Die haitianische Regierung des Premierministers Jacques Edouard Alexis musste Anfang April 2008 wegen der Nahrungsmittelkrise zurücktreten. Die Reispreise hatten sich im Land aufgrund der Preisexplosion auf dem Weltmarkt mehr als verdoppelt. Dabei konnte sich das Land vor weniger als 20 Jahren noch selbst mit Reis versorgen. Erst als IWF und Weltbank im Jahr 1995 Haiti zwangen, den Reiszoll von 50 % auf 3 % zu senken und subventionierter Reis aus den USA das Land überschwemmte, brach die einheimische Reisproduktion zusammen. Heute muss Haiti 80 % seines Reisbedarfs importieren, und 80 % der Menschen auf dem Land leben unterhalb der Armutsgrenze.
Trotz massiver Kritik und veränderter Rhetorik - "Development Policy Lending" anstelle von Strukturanpassungsprogrammen - machen IWF und Weltbank die Bereitstellung von Krediten weiterhin von wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen in den Empfängerländern abhängig. Ein Weltbank-Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2006 eine von vier Weltbank-Konditionalitäten immer noch wirtschaftliche Reformen betreffen. Auch eine Weltbank-Befragung von Regierungsbeamten in armen Ländern ergab, dass die Weltbank bei der Hälfte noch Punkte einführte, die nicht Teil der eigenen Länderprogramme waren. Eine norwegische Studie untermauert gleiches für den IWF. In 26 von 40 untersuchten Ländern wurden immer noch die Privatisierung und Liberalisierung zur Auflage für die Kreditvergabe gemacht.
Der Weg in die Krise II: Liberalisierung über Freihandelsabkommen
Seit Anfang der 1990er Jahre nimmt die Anzahl der regionalen Handelsabkommen exponentiell zu. Daran haben auch die multilateralen Verhandlungen in der Welthandelsorganisation (WTO) seit Ende 2001 nichts geändert.
Beispiel Mexiko: Die Erfahrungen mit der Liberalisierung in Mexiko stehen beispielhaft für entwicklungsfeindliche und Hunger befördernde Freihandelsabkommen, die von der EU und den USA verfolgt werden. Mexiko ist das Land, das mit seiner "Tortilla-Krise" Anfang 2007 zum Vorboten der Nahrungsmittelkrise wurde.
Auch hier nahm alles seinen Anfang in den Strukturanpassungsprogrammen von IWF und Weltbank Ende der 1980er Jahre. Das Standardreformpaket sah den Abbau des staatlichen Unterstützungssystems vor, bestehend aus subventionierten Inputs, Krediten, Beratung, Garantiepreisen für Bauern, regulierten Importen und subventionierten Tortillas. Die Abschaffung der staatlichen Vermarktungsausschüsse und einer nationalen Behörde zur Verteilung von Lebensmitteln in abgelegenen Gebieten machten den Weg frei für einige wenige Agrarkonzerne. Heute kontrollieren Cargill, Maseca, ADM, Minsa, Arancia Corn Products und Agroinsa 70 % der Maisimporte und -exporte.
Einen weiteren Rückschlag erlitt die Landwirtschaft mit der Unterzeichnung des NAFTA-Abkommens im Jahr 1994, in dem Mexiko der Liberalisierung seines Maissektors zustimmte. Subventionierter Mais aus den USA überschwemmte daraufhin den mexikanischen Markt. Der Maispreis fiel um mehr als 70 %. Tausende von Kleinbauern wurden vom Markt verdrängt, die Maisproduktion ging zurück. Mexiko wurde nach mehreren Jahrhunderten erstmals zum Netto-Importeur von Mais. Es ist aber nicht nur die Öffnung der Agrarmärkte, welche die Ernährungssituation verschlechtert. Auch die forcierte Liberalisierung des Investitionsregimes und der öffentlichen Auftragsvergabe sowie der Dienstleistungen schaden der Entwicklung der Landwirtschaft und den Kleinbauern.
Der Weg in die Krise III: Agrartreibstoffe
Innerhalb von 14 Monaten - von Januar 2007 bis April 2008 - ist der Preis für Mais in Uganda um 65 % gestiegen, im Senegal schnellte der Weizenpreis um 100 % in die Höhe. Eine Studie der Weltbank kommt zu dem Schluss, dass die Explosion der Nahrungsmittelpreise zu 65 % auf das Konto der Agrartreibstoffe geht. Das International Food Policy & Research Institute (IFPRI) und der IWF schätzen den Anteil auf 30 %.
In Indonesien sollen bis 2020 20 Millionen Hektar (ha) - eine Fläche fast sechs Mal so groß wie die Niederlande - für den Ausbau der Palmölproduktion eingesetzt werden. Millionen von Menschen sind dadurch gefährdet: Allein in der Provinz West Kalimantan würden nach Angaben der UN fünf Millionen Indigene ihr Land wegen der Agrartreibstoffproduktion verlieren.
In Brasilien wird Soja für die Gewinnung von Biodiesel und als Futtermittel (EU) eingesetzt. Der derzeitige Sojabedarf der deutschen Tierproduktion beträgt umgerechnet rund 2,8 Mio. ha Anbaufläche.
Der Weg in die Krise IV: Hungerlöhne und miserable Arbeitsbedingungen
Das Wohlergehen armer Arbeiterinnen und Arbeiter hängt sehr stark vom Einkommen und von den Preisen ab. Heute gibt es 550 Millionen Menschen auf der Welt, die arbeiten, aber trotzdem mit weniger als einem US-Dollar am Tag auskommen müssen. Diese "working poor" (arm trotz Arbeit) machen einen Anteil von 20 % an der Gesamtbeschäftigung weltweit aus.
Wege aus der chronischen Welternährungskrise
Die Rahmenbedingungen im Welthandel haben strukturell eine große Bedeutung, wenn es um die Frage nach den Ursachen des Hungers in der Welt und der Nahrungsmittelkrise geht. Letztere hat noch einmal die dramatischen Folgen einer sehr starken Weltmarktabhängigkeit deutlich gemacht. Denn es waren insbesondere jene Länder, die im hohen Maße von Nahrungsmittelimporten abhängig sind, die von der Krise betroffen waren. Die zweite wichtige Erkenntnis ist, dass diejenigen Länder, die in die kleinbäuerliche Landwirtschaft investiert, soziale Sicherungssysteme eingeführt oder die Löhne für Arbeiterinnen und Arbeiter angehoben haben, weniger von der Krise betroffen waren. Gleiches gilt für Länder, die ihre Programme und Maßnahmen auf hungergefährdete und marginalisierte Gruppen ausgerichtet haben.
Was muss sich ändern, damit die Menschen in den armen Ländern nicht mehr unter Hunger und Preisexplosionen auf dem Weltmarkt leiden müssen? Erstens: Der lokalen Nahrungsmittelproduktion muss in den Netto-Nahrungsmittelimportländern absolute Priorität eingeräumt werden. Es gilt die Investition in eine ökologische, nachhaltige, kleinbäuerliche Landwirtschaft signifikant zu erhöhen. Dabei ist eine angepasste, die Bodenfruchtbarkeit verbessernde Landbewirtschaftung in Zeiten des Klimawandels drängender denn je. Der Weltagrarbericht