Einleitung
Angesichts der fundamentalen Unsicherheiten, welche Wissenschaft und Technologie mit sich bringen, brauchen wir, so die Wissenschaftsforscherin Sheila Jasanoff, ein neues Verhältnis zwischen ExpertInnen, BürgerInnen und Politik sowie neue Formen der Legitimierung der Wissenschaft gegenüber der Öffentlichkeit. Diese sollten über Technologien der Kontrolle und Vorhersage, wie z.B. Risikoabschätzung, hinausgehen. Letztere hätten sich für die Thematisierung von Nicht-Wissen, moralischer und wissenschaftlicher Unsicherheit oder Ambivalenz als ungeeignet erwiesen. Stattdessen geht es, so Jasanoff, um "Technologien der Bescheidenheit", welche mögliche unvorhergesehenen Folgen sichtbar und den impliziten normativen Gehalt des vorgeblich rein Technischen explizit machen sowie die Notwendigkeit verschiedener Sichtweisen und kollektiven Lernens anerkennen.
Erfüllt das gouvernementale Ethikregime Jasanoffs Kriterien der "Technologien der Bescheidenheit"? Wenn ja, in welchem Sinne und um welchen Preis? Unsere Einschätzung lautet: Ja, aber. Ja: Tatsächlich stellt das Ethikregime ein Set von Technologien des Denkens und Sprechens über die Wissenschafts- und Technologieentwicklung bereit, das in vielerlei Hinsicht über traditionelle Technologien der Vorhersage und Kontrolle, wie z.B. Technikfolgen- oder Risikoabschätzung, hinausgeht. Das Ethikregime entspricht nicht mehr dem alten, expertokratischen Modell der Wissenschaftspolitik, das von der sozialwissenschaftlichen Wissenschafts- und Technikforschung vielfach als elitistisch und technikzentriert kritisiert worden ist. Etwas Neues hat sich herausgebildet. Aber: Dieses neue Modell hat seine eigenen Probleme und Ambiguitäten, die wir im Folgenden aufzeigen werden. Hierbei dient uns das expertokratische Modell der Wissenschafts- und Technologiepolitik als Kontrastfolie.
Das alte Modell trägt folgende Kennzeichen:
Kein Wahrheitsanspruch, kein Monopol der Wissenschaft
"Ethik", so haben unsere InterviewpartnerInnen betont, sei nicht gleichbedeutend mit Wahrheitsproduktion. Eine Angehörige des Comité Consultatif National d'Éthique (CCNE), des französischen Nationalen Ethikkomitees, erklärte: "(M)an muss sagen, dass wir unsere Stellungnahmen nicht als Wahrheit ansehen. Wenn Sie so wollen, sind unsere Stellungnahmen prekär, weil wir zu einem bestimmten Zeitpunkt den Stand des Wissens diskutieren, das evolutionär ist, und zu einem Moment der sozialen Akzeptabilität, die auch evolutionär ist. Also, unsere Stellungnahmen sind prekär und reversibel." Mit dem Anspruch auf Wahrheit wird auch der Anspruch zurückgewiesen, Handlungsanweisungen zu geben. Ein Mitglied des deutschen Nationalen Ethikrats (NER) betonte: "Wir haben uns von Anfang an als eine Instanz [verstanden; d. Verf.], die Diskussionen anregt, die die Diskussionen unter Umständen auslöst, aber keineswegs den Anspruch erhebt, definitive Antworten zu geben." Ähnlich erklärte ein Mitglied des englischen Nuffield Council in Bezug auf dessen Empfehlungen: "(T)his is not prescriptive, this is just telling you what issues you have to address when you're setting up research, you've got to think about them."
Wir sehen hier das paradoxe Selbstverständnis, Prinzipien aufzuzeigen, die dem Handeln im Bereich von Wissenschafts- und Technologieentwicklung nötigenfalls Grenzen setzen können, ohne sich jedoch darauf festzulegen, welche Prinzipien dies sein sollen und warum sie richtig sind. Diese paradoxe Aufgabe hatte bereits in den 1980er Jahren Lady Warnock, die Vorsitzende der einflussreichen Warnock-Commission in Großbritannien, so formuliert: "What is common (...) is that people generally want some principles or other to govern the development and use of the new techniques."
Das Ergebnis ist eine eingebaute Verzeitlichung der Grenzen, wenn sie denn überhaupt gesetzt werden; sie sind vorläufig und wandelbar und gelten nur so lange, bis neue (vorübergehende) Grenzen festgesetzt werden - eben "evolutionär, reversibel und prekär". Was die ExpertInnen der Ethikkommissionen der Politik anzubieten haben, ist dem eigenen Selbstverständnis nach nicht, wie im klassischen technokratischen Modell, die objektive Repräsentation der Wirklichkeit, welche die Politik nur um den Preis falscher Entscheidungen ignorieren kann.
Auch in Bezug auf die Zusammensetzung der Kommissionen und Verfahren unterscheidet sich das Ethikregime vom klassischen technokratischen Modell der Politikberatung. Zwar ist in fast allen diesen Kommissionen, Räten und Verfahren dafür gesorgt, dass ein Teil der Mitglieder aus Medizin und Wissenschaft stammt, und es ist das Privileg der Wissenschaft, für das Verfassen von Informationsmaterialien zuständig zu sein, die als Diskussionsgrundlage fungieren. Damit wird bis zu einem gewissen Grad an der Idee festgehalten, dass die Wissenschaft das objektive und notwendige Wissen zur Verfügung stellen muss, auf dessen Basis normative Urteilsbildung sinnvoll stattfinden kann. Allerdings wird dem Gewicht von Medizin und Wissenschaft fast immer ein "Ausgleich" gegenüberstellt: Nahezu alle Institutionen schreiben die Beteiligung von nichtnaturwissenschaftlichen oder nichtmedizinischen Mitgliedern vor.
Dieses Gegengewicht ist in den drei untersuchten Ländern unterschiedlich konstruiert. Die Satzungen der britischen Gremien (Human Fertilization and Embryology Authority/HFEA, Human Genetics Commission/HGC, Nuffield Council) schreiben eine mindestens 50-prozentige Beteiligung von Laien vor, die sich dadurch auszeichnen, dass sie Nicht-MedizinerInnen, Nicht-BiowissenschaftlerInnen und nicht im Bereich der Biotechnologie oder Biomedizin tätig sind.
Modellhafte Mäßigung
Aufgrund welcher Kompetenzen werden Mitglieder von Ethikinstitutionen rekrutiert, die gerade nicht BiowissenschaftlerInnen oder MedizinerInnen sein sollen? Sie werden formell weder als InteressenvertreterInnen berufen noch als VertreterInnen einer politischen Position - wenngleich dies informell durchaus geschehen mag. Sie werden also nicht als politische AkteurInnen rekrutiert und sollen nicht als solche handeln. Als politische AkteurInnen würden sie für die eigene Position bzw. die eigenen Interessen kämpfen, versuchen, diese gegen andere durchzusetzen und damit einen Wahrheitsanspruch erheben, eine Haltung, die im Rahmen des Ethikregimes nicht erwünscht ist. Allerdings werden die nichtwissenschaftlichen Mitglieder auch nicht auf Grund ihrer ethischen Fachkompetenz ernannt. Ausgebildete EthikerInnen sind im Gegenteil eher selten. Die maßgebliche Kompetenz ist nach Auskunft unserer InterviewpartnerInnen eine Befähigung zur moderaten Kommunikation. So kann der CCNE primär als nationales "Vorreflexions-Komitee" verstanden werden, das der Öffentlichkeit ein Modell für eine vernünftige, moderate Konfliktlösung und Verständigung demonstriert. Auch der NER fordert eine gemäßigte Debatte: "Der Nationale Ethikrat sieht die erste und wichtigste Voraussetzung für eine politische Lösung des [Stammzell-]Konflikts in einer Kultur wechselseitiger Achtung, in deren Geist abweichende Meinungen respektiert und vorgetragene Argumente sachlich geprüft werden. Jeder Seite muss zugestanden werden, dass sie sich ernsthaft um die Begründung ihrer Position bemüht."
Für diesen Modus der Verständigung ist eine moderate Haltung wichtig, die keinen Anspruch auf Wahrheit erhebt.
Denjenigen, die eine moralisch rigorose Haltung einnehmen, fehlt die entscheidende Schlüsselkompetenz, die ein "gutes" Mitglied des Ethikregimes mitbringen muss: die Bereitschaft, alle Positionen als prinzipiell diskutabel zu betrachten. Ein "gutes" Mitglied kann auch kontroverse Auffassungen so vertreten, dass sich niemand vor den Kopf gestoßen fühlt, es ist offen, umgänglich und trägt auch unter Bedingungen des Dissenses zur rationalen Verständigung bei. Es ist im Falle nichtwissenschaftlicher Mitglieder weniger Fachkompetenz, durch welche sie sich als Mitglied einer Ethikinstitution qualifizieren, als eine bestimmte Haltung. Die geforderte Offenheit ist jedoch zugleich ein Mechanismus der Schließung: Wer in bestimmten Fragen nicht kompromissbereit ist, bestimmte Praktiken für nicht diskutabel hält und an der unveränderlichen Geltung fundamentaler Normen festhält, erfüllt diese Qualifikation nicht und kann, wie im Falle von LebensschützerInnen bei der HFEA, von der Teilnahme ausgeschlossen werden.
Öffentlichkeitsbezug
Der britische Wissenschaftsforscher Alan Irwin hat die Wendung zu einer neuen Politik im Umgang mit gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technikkontroversen konstatiert, die er politics of talk nennt.
Der Anspruch auf Einbeziehung der Öffentlichkeit ist in allen drei Ländern vorzufinden, in Großbritannien allerdings sehr viel ausgeprägter als in Deutschland und Frankreich. In Großbritannien hat die HFEA, zum Teil gemeinsam mit der HGC, zwischen 1994 und 2007 siebzehn öffentliche Konsultationen zu biomedizinischen und -technologischen Themen durchgeführt. Diese Konsultationen enthalten in der Regel die Aufforderung an die Öffentlichkeit, ein von der Kommission erstelltes Positionspapier zu kommentieren. Die HGC hat zudem Techniken entwickelt, um einen Input von der Öffentlichkeit zu erhalten, z.B. öffentliche Versammlungen, Fokusgruppen, persönliche Interviews mit BürgerInnen, eine Jugendkonferenz mit SchülerInnen und ein consultative panel, bestehend aus Personen, die persönlich von bestimmten, so genannten genetischen Defekten betroffen sind.
Der Zweck solcher Öffentlichkeitsbeteiligung ist nicht mehr nur die einseitige Wissenschaftsvermittlung, d.h. die Vermittlung wissenschaftlichen Wissens von der Wissenschaft an die BürgerInnen. Die Ansprache der Öffentlichkeit ist vielmehr Vehikel dafür, die aktive persönliche Auseinandersetzung eines jeden und einer jeden Einzelnen mit den Möglichkeiten der Biomedizin anzuregen. Das Ziel des öffentlichen Dialogs beschreibt der NER so: "Jeder muss sich ein Bild von den Chancen und Risiken der neuen Techniken machen können, um sich auf dieser Grundlage ein eigenes Urteil zu den damit verbundenen ethischen Problemen bilden zu können. Zu diesem Zweck wird sich der Ethikrat darum bemühen, aktuelle Probleme in ihren Voraussetzungen und Folgen verständlich zu machen."
In Frankreich ist die Einbeziehung der Öffentlichkeit vor allem in den jährlich stattfindenden Journées annuelles d'éthique institutionalisiert. Hier werden Stellungnahmen des CCNE vorgestellt und diskutiert. Eine besondere Zielgruppe sind SchülerInnen. Sie werden eingeladen, sich in die ethische Diskussion einzubringen: "Auf diese Art werden naive Fragen, Laienfragen gestellt, die die Reflexion des Ethikrates hervorrufen können. Es ist für den CCNE ein Gewinn, diese Journées zu haben (...)." Die Jugendlichen sollen als BürgerInnen die "bioethische" Reflexion üben, wie uns ein Interviewpartner erklärte. Als erfolgreich gilt dieser Einübungsprozess dann, wenn sie verstehen, dass man in der Ethik nie zu endgültigen Lösungen kommt.
Hier zeigt sich ein Modell, das in ähnlicher Weise auch in Deutschland und Großbritannien zu finden ist. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass den ExpertInnen weniger eine Wissensproduktions- oder Wissensvermittlungsfunktion als eine Moderations- und Stimulationsfunktion zukommt. Sie sollen primär die Diskussion stimulieren, anleiten und moderieren, aber keine Inhalte oder Antworten vorgeben. Zudem handelt es sich nicht um eine One-way-Kommunikation, vielmehr nehmen auch die ExpertInnen etwas aus der Öffentlichkeit auf. Dabei ist es wichtig, die Teilnehmenden selbst zum Sprechen zu bringen und aktiv einzubeziehen, weil die ExpertInnen Ideen für die weitere Gestaltung des Diskurses erhalten können. Zudem ist das Sprechen ein notwendiger Bestandteil des Prozesses, in welchem die Teilnehmenden die richtige Art der ethischen Reflexion lernen. Das Attribut "richtig" bezieht sich dabei nicht auf den Inhalt von normativen Urteilen, sondern auf die Art und Weise des Nachdenkens und Sprechens; das "richtige Sprechen" ist moderat und perpetuell, es vermeidet antagonistische Konstellationen und inhaltliche Festlegungen. Der Sinn der Öffentlichkeitsbeteiligung liegt darin, das "richtige Sprechen", das zunächst im begrenzten Kreis der Ethikinstitutionen praktiziert und der Öffentlichkeit modellhaft vorgeführt wurde, in die Bevölkerung zu tragen.
Die Idee, gezielt MultiplikatorInnen einzubinden, um das "richtige Sprechen" zu verbreiten, ist auch in die Förderpraxis des Bundesforschungsministeriums (BMBF) eingegangen. Es veröffentlichte im Mai 2006 einen Aufruf, Diskursprojekte "zu ethischen, rechtlichen und sozialen Fragen in den modernen Lebenswissenschaften" einzureichen.
Das Programm richtet sich an DiskursexpertInnen. Deren Produkte sind nicht inhaltliche Empfehlungen, sondern Verfahrensinnovationen. Es geht um "innovative Projektformen, die einen besonderen methodischen Akzent auf die Verbesserung von Diskursverfahren legen". Obwohl keine inhaltlichen Lernziele, weder wissenschaftlicher noch normativer Art, benannt werden, gibt es dennoch einen inhaltlichen Rahmen, in dem sich die Projekte bewegen müssen: "Die Fortschritte in den modernen Lebenswissenschaften (...) eröffnen neue, vielversprechende Ansatzmöglichkeiten in medizinischer Diagnostik und Therapie." Das betrifft "die bereits erzielten und noch zu erwartenden Forschungsfortschritte (...)." Dass der biowissenschaftliche Fortschritt voranschreiten wird und notwendig ist, wird vorausgesetzt. Diese Prämisse zu akzeptieren gehört zu den Geschäftsbedingungen für die Teilnahme.
"Reflexive Government"
Seit Aufkommen der technik- und wissenschaftsskeptischen Bewegungen in den 1970er Jahren steht die Wissenschafts- und Technologiepolitik vor einem Dilemma, das man mit Michel Foucault als klassisches Dilemma liberalen Regierens verstehen kann:
Das gouvernementale Ethikregime kann als Antwort auf dieses Dilemma verstanden werden; es soll die Bedenken der Öffentlichkeit ansprechen und gleichzeitig eine dynamische Entwicklung von Wissenschaft und Technologie ermöglichen. Es stellt ein Set von politischen Technologien bereit, die dem Management gesellschaftlicher Konflikte dienen. Diese Technologien tragen typisch neoliberale Züge und lassen sich mit den Begriffen des governing at a distance (Rose/Miller) oder des reflexive government (Dean) verstehen:
Auch das Ethikregime sagt uns nicht, was wir tun sollen, es gibt keine Handlungsanweisungen an Wissenschaft, BürgerInnen oder Politik, sondern es strukturiert die Art und Weise, in der über die Entwicklungen in Medizin, Wissenschaft und Technologie gesprochen werden kann. Von reflexive government kann man insofern sprechen, als die Formen und Verfahren des Ethikregimes beständig überdacht, diskutiert und modifiziert werden, auch und gerade im Diskurs mit den BürgerInnen, deren Beiträge als Inspiration für die weitere Entwicklung des Diskurses dienen: Diskursstimulation zur Diskursinnovation und Diskursinnovation zur Diskursstimulation, ein Perpetuum Mobile.
Im Vergleich zwischen dem Ethikregime und dem technokratischen Modell ergeben sich folgende Unterschiede: Das Ethikregime erhebt keinen Anspruch auf Wahrheit oder Objektivität. Es ist nicht allein den Werten von Rationalität und Effizienz verpflichtet, sondern thematisiert auch Werte wie Menschenwürde, Autonomie oder Kindeswohl. Die Gremien sind nicht nur mit wissenschaftlichen ExpertInnen besetzt, und die Öffentlichkeit wird nicht ausgeschlossen, sondern einbezogen. Es geht nicht nur um Fakten, messbare Phänomene, Vorhersage und Kontrolle. Die Pluralität möglicher Sichtweisen wird enthusiastisch bekräftigt, und die Weiterentwicklung der Diskursverfahren könnte man als Beleg kollektiven Lernens deuten. Insofern wären die zentralen Anforderungen Sheila Jasanoffs an die zu entwickelnden "Technologien der Bescheidenheit" erfüllt.
Allerdings hat diese Pluralität und Offenheit ihren Preis - den des "richtigen Sprechens". Es ist verpflichtet auf Zulässigkeit aller möglichen Themen und Positionen und auf die Vorläufigkeit aller möglichen Ergebnisse, ferner darauf, dass es mit Wissenschaft und Ethik immer weitergeht. Diese Offenheit und Beweglichkeit hat Ausschlussmechanismen: Wer stabile Grenzen fordert, die Notwendigkeit weitergehender Forschung und technologischer Innovation bestreitet, "ethischen" DialogpartnerInnen Eigeninteresse unterstellt, wer bestimmte Positionen oder Praktiken für "falsch" erklärt und zu bekämpfen gedenkt, wer potentiell Machbares für undenkbar hält, fällt aus dem Rahmen des "richtigen ethischen Sprechens" heraus. Alles muss in diesem Rahmen möglich sein, nur eines nicht: Nein zu sagen.