Einleitung
Wäre das "Leseland" ohne die Buchmesse in Leipzig möglich gewesen? Hier trafen sich Büchersuchende und Büchermachende - Leserinnen und Leser, Verlage, Autorinnen und Autoren. Die hauptamtlichen Funktionäre nutzen die Messe, um die Republik und ihre Politik zu inszenieren, die Verlage, um Bücher zu verkaufen, die es noch gar nicht gab, die Buchhändler, um Bücher zu bestellen, die sie nie erhalten würden - zumindest nicht in der gewünschten Menge, und die Leser, um Bücher zu sehen, die sie nur auf Umwegen bekamen.
Die Buchmesse fachte den Lesehunger der DDR-Bürger an - allerdings auch den Hunger auf Unerwünschtes und Verbotenes, auf Unerreichbares. In gewisser Weise konterkarierte die Schau die von oben betriebene Konstruktion eines "Leselandes". Entgegen den politischen Absichten beförderte sie die Mündigkeit des Lesers, eröffnete neue geistige Horizonte und Rezeptionsprozesse.
Entwicklung der Buchmesse
In Leipzig fanden im Frühjahr und Herbst Universalmessen statt, auf denen immer mehrere Branchen ausstellten, darunter auch Verlage.
Erst im Frühjahr 1949 fand sich für die Verlagserzeugnisse ein eigenes Messehaus in der Innenstadt, das Hansahaus. Obwohl sich dieser verwinkelte Bau zur wirkungsvollen Präsentation des Verlagsschaffens der neu gegründeten DDR wenig eignete, diente er doch 14 Jahre lang als Domizil. Bücher legte man dort meist nur nebeneinander auf Tische, spärliche Regalbauten ähnelten einer Wohnzimmereinrichtung, und die Verwaltung Volkseigener Verlage riet: "Freundliche Standgestaltung durch Blumen trägt wesentlich zur Hebung der Kauffreudigkeit bei."
Der in den Abkommen zum Interzonenhandel festgeschriebene geringe Austausch von Büchern wirkte sich auch auf die Messeteilnahme aus. Westdeutsche Literatur war Anfang der 1950er Jahre nur durch Interzonenhandelsfirmen präsent, die mehrere Verlage an wenigen Gemeinschaftsständen vertraten. Dagegen wuchs die Zahl der Aussteller aus den sozialistischen Ländern. Einen ersten Internationalisierungsschub aus westlicher Richtung erlebte die Buchmesse 1952: Seitdem zählten neben Österreich auch Verlage aus Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz zu den Ausstellern. Um die geschäftlichen Kontakte zu diesen zu verbessern und den Export von Büchern zu steigern, wurde Ende 1953 ein Außenhandelsunternehmen gegründet: Die Deutsche Buch-Export und -Import GmbH besaß fortan das Monopol für diesbezügliche Verträge. Außerdem übernahm sie einen Teil der Messeorganisation, die von Anfang an in den Händen mehrerer Institutionen lag: Neben dem Buch-Export besorgte das Leipziger Messeamt die Veranstaltungslogistik, wie Standverteilung, Mobiliar und Messeausweise; dem Börsenverein der Deutschen Buchhändler kamen repräsentative Aufgaben zu, wie die Organisation von Feierlichkeiten; bei der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel (HV) des Ministeriums für Kultur bzw. deren Vorgängereinrichtungen liefen alle Fäden zusammen.
Nachdem die Ausstellerzahlen der westdeutschen Verlage Mitte der 1950er Jahre wieder zu wachsen begonnen hatten, löste der Mauerbau auch für die Buchmesse eine Krise aus. Zum Herbst 1961 sagten fast alle Verlage aus der Bundesrepublik ihre Teilnahme ab, was durch ein "Empfehlungsschreiben" des Frankfurter Börsenvereins an seine Mitgliedsverlage forciert worden war.
Die stärkste Konkurrenz zu Leipzig formierte sich durch die internationalen Buchmessen, die seit 1949 in Frankfurt am Main und ab 1956 in Warschau stattfanden. Nur wenige Jahre nachdem die erste polnische Bücherschau eröffnete - die sich zur wichtigsten Messe für den Ostblock entwickeln sollte -, begann man in der DDR, die Leipziger Stellung auf dem internationalen Parkett auszuloten. Im Vergleich zu den beiden anderen hatte die Buchmesse an der Pleiße nicht mehr genügend internationale Anziehungskraft und drohte in die Bedeutungslosigkeit abzurutschen - selbst die sozialistischen Verlage fuhren lieber an den Main als in das enge, unrepräsentative Hansahaus. Börsenverein und Buch-Export brachten diverse Ideen zur "Neugestaltung" vor. Mit zugkräftigen Veranstaltungen und Preisverleihungen nach dem Vorbild des Frankfurter Friedenspreises des Deutschen Buchhandels sollte Leipzig wieder an Bedeutung gewinnen. Ein zähes Ringen begann vor allem um die Frage größerer Räumlichkeiten. Am Ende stellte das Leipziger Messeamt einen Neubau in Aussicht, der zur Herbstmesse 1963 tatsächlich eröffnete: das Messehaus am Markt. Dieses modernste Messehaus seiner Zeit wurde dankbar und staunend von der Branche, den Gästen und dem Publikum in Besitz genommen. Über das Ende der DDR hinaus prägte es das Gesicht und die Atmosphäre der Buchmesse.
Als das Verlagsschaffen auf den vier Etagen am Leipziger Markt endlich ein würdiges Domizil gefunden hatte, entwickelte die Buchmesse ein neues Selbstverständnis. Sogar Walter Ulbricht nebst Gattin interessierte sich nun für die Neuerscheinungen der DDR-Verlage. Rein flächenmäßig reichte man wieder an Warschau heran, doch Frankfurt hatte Leipzig längst hinter sich gelassen: Das Messehaus am Markt bot 8000 Quadratmeter Ausstellungsfläche, wohingegen in Frankfurt schon 1963 rund 22 000 Quadratmeter zur Verfügung standen.
Die Zahl der Aussteller pegelte sich auf etwa 180 ein; durch die vielen Kollektivstände waren aber mehrere hundert Verlage präsent. Dennoch zeichnete sich immer deutlicher ab, dass die internationale Buchbranche den Leipziger Herbsttermin wegen der zeitlichen Nähe zu Frankfurt nur schlecht besuchte. Endlich setzte man die schon Ende der 1950er Jahre erwogenen Veränderungen um: Von 1973 an fand die Buchmesse nur noch im Frühjahr statt, und man erreichte gleich einen Rekord an ausstellenden Verlagen. Allerdings zeigte sich bald eine typische Begleiterscheinung der Buchmesse: der Kampf um die 5. Etage. Das Messehaus am Markt war zwar den Büchern vorbehalten, doch brachte das Messeamt im obersten Stockwerk Uhren und Jagdwaffen unter. Das Interesse der Aussteller an der Messe wuchs, sodass die Verlage aus der DDR zunehmende Standflächenkürzungen hinnehmen mussten, damit internationale und vor allem westliche Verlage - für den Ruf und für die Kasse - Platz fanden. Der Expansion der Buchmesse waren schlicht bauliche Grenzen gesetzt.
Gleichzeitig blieb ein widersprüchliches Problem bestehen: Es gehörte zur Tradition der Messe, dass das Ministerium für Außenhandel nicht ausreichend finanzielle Mittel bereitstellte, damit der Buch-Export die ausgestellten Bücher ankaufen und Gegengeschäfte mit westlichen Partnern abschließen konnte. Ein Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit (IM), leitender Genosse des Buch-Exports, schrieb zur Messe 1979 resignierend: "Damit steht fest, dass am Ende des 4. Messetages für den Ankauf von Messeexponaten aus dem Bereich NSW - außer BRD/WB - keine einzige Valutamark zur Verfügung steht."
"Leseland"-Hygiene
Die Staatsführung nahm in Kauf, dass mit den auswärtigen Ausstellern auch unerwünschte Ideen ins Land kamen. Doch versuchte sie diese unter Kontrolle zu halten, indem sie die Exponate der Verlage aus der Bundesrepublik und den "kapitalistischen Ländern" zensierte. Über die Jahre etablierte sich dafür ein wirksamer Apparat: Mitarbeiter der Zollverwaltung und des Buch-Exports sortierten das Ausstellungsgut vor. Dabei konnte man sich auf die Expertise des dafür abgestellten Personals nicht unbedingt verlassen. Entsprechend informierte der IM "Lektor", der als einziger beruflicher Lektor bei dieser Gruppe mitwirkte, die Staatssicherheit: "So konnte es zum Beispiel passieren, dass ein jüngerer Mitarbeiter (...) in völliger Unkenntnis einen Band des Hanser-Verlages (Marxismus-Leninismus) aussondern wollte, den der Verlag Hanser in Lizenz (DDR-Dietz-Verlag) verlegt hat. Der genannte Mitarbeiter nahm an, dass dieser Band eine Hetzschrift sei."
Anschließend nahm sich eine Gutachterkommission, bestehend aus ideologisch geschulten Genossen der HV, im Hauptberuf Zensoren, der kniffligen Fälle an und verfasste Berichte über die Tendenzen im "negativ-feindlichen" Ausstellungsgut. Danach erfolgte eine abschließende Nachkontrolle am Abend vor der Messeeröffnung, bei der die Gutachter auf einem Rundgang durch das Messehaus am Markt sicherstellten, dass sich kein unerwünschter Nachzügler in die Regale geschlichen hatte.
Wie eine Zensorin der HV heute berichtet, kannten die Kommissionsmitglieder die Schwerpunkte zu beschlagnahmender Literatur durch ihre berufsbedingte Rezeption der westdeutschen Presse. Von mehreren tausend Titeln aus der Bundesrepublik beschlagnahmte die Kommission je nach politischer Großwetterlage und Menge der unliebsamen Aussteller ein- bis zweihundert. Die in der Sprache des Zolls "unter Verfügungsverbot gestellten Bücher" erreichten 1973 mit 271 Titeln allein aus der Bundesrepublik einen Höhepunkt. Darunter fand sich Literatur über China und den Maoismus, Trotzkis Werke, Bücher von Wolf Biermann, Günter Grass und Alexander Solschenizyn.
Was die Kontrolle der ausgestellten DDR-Produktion angeht, so war sie bereits durch die erteilten Druckgenehmigungen auf Linie gebracht worden. Weil aber die Präsentationen der Verlage zu wünschen übrig ließen, führte die für die Messe zuständige Parteileitung der Abteilung Literatur und Buchwesen zur Frühjahrsmesse 1960 einen Wettbewerb um die beste Standgestaltung ein.
Eine weitere Tradition der Buchmesse, um eine wirkungsvolle Zurschaustellung des DDR-Verlagsschaffens zu gewährleisten, stellte die Abnahmekommission dar. Sie inspizierte auf einem Rundgang im Messehaus die ausgestellte Produktion der DDR-Verlage letztmalig vor der Eröffnung. Funktionäre aus den Abteilungen Wissenschaften und Kultur des ZK der SED, der Leiter der HV und verschiedene weitere Institutionen des Buchwesens gaben bei dieser Generalprobe letzte Anweisungen, etwa, Erich Honecker größer darzustellen oder die Marx-Titel stärker im Vordergrund zu platzieren. Denn die Messe sollte ihren Beitrag leisten "zur Darstellung der sozialistischen deutschen Nation, zur Verbreitung und Pflege ihres Erbes, zur Propagierung der marxistisch-leninistischen Weltanschauung und zur sozialistischen Lebensweise sowie zur Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie".
"Leseland"-Propaganda
Die Buchmesse war konzipiert als Leistungsschau der Errungenschaften des DDR-Verlagswesens. Damit die Welt davon Kenntnis nehmen konnte, fand seit 1958 traditionell immer am Vormittag des Messe-Montags eine Pressekonferenz statt. Einen Tag zuvor war in glanzvollem Rahmen und mit hochkarätiger Besetzung die feierliche Eröffnung über die Bühne gegangen. Im Verlauf der Messe folgten weitere Empfänge, auf denen sich das "Leseland" und die Buchstadt feierten.
Die Pressekonferenz, als deren offizieller Ausrichter der Börsenverein agierte, besuchten immer um die 200 Journalisten und Verlagsvertreter. Etwa ein Viertel der Anwesenden rekrutierte sich aus Abgesandten der Verlags- und Buchhandelsinstitutionen, des Ministeriums für Außenhandel und Innerdeutschen Handel, des Rates der Stadt, der SED und des Leipziger Messeamts. Weitere 20 bis 50 Teilnehmer kamen aus Westdeutschland. Dabei waren schon in den Anfangsjahren wichtige überregionale Tageszeitungen wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) präsent. Von Mitte der 1960er Jahre an schrieben die Blätter regelmäßig über die Buchmesse, wobei es nach und nach Usus wurde, im Feuilleton mindestens dreimal durch Korrespondenten aus Leipzig zu berichten: anlässlich der Eröffnungsveranstaltung oder der Pressekonferenz, zu den Neuerscheinungen und nach Ende der Buchschau. Aus dieser umfangreichen Notiznahme durch die westdeutsche Presse kann man schlussfolgern, dass die akkreditierten Journalisten die Buchmesse als kulturpolitisches Barometer nutzten. Auf der Pressekonferenz bot sich ihnen die Möglichkeit, den Verantwortlichen des Literaturbetriebs Fragen zu stellen, mal mehr und mal weniger kritische.
Schon die alljährliche Auswahl des Podiums verdeutlicht, welch standfeste ideologische Wand den Medienvertretern vorgesetzt wurde: der stellvertretende Minister für Kultur, der amtierende Vorsteher des Börsenvereins, wichtige Verleger wie die von Volk und Welt, Aufbau, Dietz oder des Akademie-Verlags, manchmal zusätzlich einige repräsentative Autoren. Ablauf und Themen der Konferenz erscheinen im Nachhinein monoton, wiederkehrend und politisch-standardisiert. Es hatte sich eingebürgert, dass der Börsenvereinsvorsteher zuerst die Bilanz des DDR-Buchschaffens und seine Ziele im kommenden Jahr vortrug: Zahlen zur Buch- und Titelproduktion, zu Lizenz- und Exportgeschäften, Details über die Programmschwerpunkte der aktuellen Verlagsproduktionen meist unter politischen Vorzeichen wie die Vorbereitung bestimmter Parteitage, DDR-Jahrestage und Jubiläen "sozialistischer Idole" wie Lenin, Ernst Thälmann oder Karl Marx, außerdem Ausführungen zum buchkünstlerischen Engagement, etwa während der Ausstellung der "Schönsten Bücher" oder bei einer der alle sechs Jahre stattfindenden "Internationalen Buchkunstausstellungen" (iba), weiterhin Informationen zu DDR-Buchausstellungen im Ausland und zu sonstigen Kooperationen mit den sozialistischen Ländern - eben alle aktuellen Eckdaten des "Leselandes".
Von 1973 an hatte Klaus Höpcke die Funktion des stellvertretenden Ministers für Kultur und Leiters der HV inne. Der "Buchminister" war bekannt für seine Rede- und Wortgewandtheit; davon legen auch die stenografischen Protokolle der Pressekonferenzen Zeugnis ab. Er nutzte diese Bühne, um die Verdienste der DDR in punkto Buch ausgiebig zu demonstrieren. Dass dabei Manipulation im Spiel war, verdeutlichen die in den Akten dokumentierten umfangreichen Vor- und Nachbereitungen der Veranstaltung: Von der ersten Pressekonferenz an verordnete der Börsenverein, abgesegnet von der HV bzw. deren Vorgängerinstitutionen, den Journalisten aus der DDR im Vorfeld Fragen, die sie während der Veranstaltung stellen sollten und die ausgesuchte, inhaltlich ergänzende Themen inszenierten.
Auf der Pressekonferenz der Buchmesse 1980 etwa fragten einige der DDR-Presse- und Rundfunkorgane trotz vorheriger Zusicherungen nichts, sodass die "Konzeption" der Veranstaltung platzte, weil wesentliche "Fragenkomplexe" unter den Tisch gefallen waren. Höpcke wartete, wie er in einem Brief an den stellvertretenden Leiter der Abteilung Agitation des ZK der SED, Klaus Raddatz, mitteilte, vergeblich auf eine Frage des Rundfunks zum Schaffen von Debütanten, "eine Frage, in deren Beantwortung wir mit Hinweisen auf eine ganze Reihe von Werken aus der Feder von Autoren jüngerer Jahrgänge belegen wollten, wie hier vom ideologisch-künstlerischen Gehalt her das Sozialistische im Werk der Älteren aufgegriffen und fortgeführt wird (was, wie Du weißt, politisch nicht unwichtig ist, um Spekulationen des Gegners auf die Jungen bei uns zurückzuweisen)."
Die selbstsicheren westdeutschen Fragesteller waren für die Pressekonferenz eine unberechenbare Unbekannte. Um auch auf deren Fragen vorbereitet zu sein, spionierte die Staatssicherheit in ihrem Umfeld mit IM, die Informationen zu geplanten Fragen der Journalisten und ihren etwaigen Übereinkünften zu ihrem Verhalten auf der Pressekonferenz sammelten. So hätten sich die Medienvertreter 1977 in Erwartung eines "große(n) kulturpolitische(n) Knall(s)" vorgenommen, provozierend zu Biermann zu fragen und damit das Präsidium der Pressekonferenz "in die Enge zu treiben"
Die DDR sollte also über das "Leseland" hinausweisend um jeden Preis und mit Unterstützung der inländischen Medien sowie der Staatssicherheit vor der internationalen, aber vor allem vor der westdeutschen Öffentlichkeit eine gute Figur machen. Trotz der politischen Vereinnahmung des Kommunikationsinstruments Pressekonferenz bot sie eine Plattform, um deutsch-deutsche Literaturprozesse ausloten zu können.
Schein und Sein
Dass die große Schau der DDR-Verlage in weiten Teilen nur ein Bluff war, zeigte die Menge an Blindbänden, die sich in den Regalen befanden, also Muster des fertigen Buches mit leeren Seiten. Auf der Frühjahrsmesse 1965 betraf das mehr als 800 Titel, die erst zur Herbstmesse im Original gezeigt werden konnten, zusätzlich zu 1900 Neuerscheinungen und weiteren rund 7000 Titeln aus der lieferbaren Produktion.
Über die Gründe wissen Verlagsmitarbeiter zu berichten, dass der Messetermin im März ungünstig im Jahresablauf lag. Denn erst im April bekamen die Verlage die Papierzuteilungen für das laufende Jahr, sodass im März noch keine Novitäten gedruckt werden konnten. Was an neuen Titeln in den Regalen stand, waren Phantome oder aber so genannte Überhänge, die im vergangenen Jahr nicht geschafft und dann im Januar und Februar gebracht wurden. Den Verlagsmitarbeitern blieb nichts anderes übrig, als mühevoll die Ausstellungsmuster zusammenzubasteln und den Hülsen noch kurz vor der Standabnahme die fertigen Schutzumschläge überzustreifen.
Trotz dieser Mängel in der Präsentation orderten die Buchhändler der DDR in großen Mengen, sodass die Vertriebsmitarbeiter der Verlage den ganzen Tag damit beschäftigt waren, Bestellungen zu schreiben. Diese Vormerker gingen in die Hunderttausende; von ihnen wurde anschließend nur ein Bruchteil tatsächlich gedruckt. In der Tat traten die literarischen Versorgungslücken auf der Messe deutlich zutage: Die Menge der überzeichneten Titel schwankte in den 1960er Jahren zwischen zwei- und dreihundert, mehrheitlich Belletristik. Die Buchhändler bestellten an den Messetagen auch mehr als geplant beim Kinderbuchverlag, aus dessen Neuerscheinungen und Nachauflagen 68 von 92 Titeln zur Herbstmesse 1969 überzeichnet waren.
Buchbeschaffung
Für das Publikum erfüllten sich in Leipzig Sehnsüchte, die vor allem jenseits der Mauern des "Leselandes" lagen. Die Buchmesse ist in der kollektiven Erinnerung zu einem "Fenster zur Welt" bzw. in den Westen geworden. Unbestreitbar stellte die Bücherschau einen der wichtigsten Kanäle neben der Deutschen Bibliothek, dem deutsch-deutschen Schmuggelverkehr und dem Postversand dar, um an Westbücher zu gelangen. Das Besondere an der Messe war, dass sich der westdeutsche Buchmarkt in seiner Vielfalt und vor allem in seiner Aktualität überblicken sowie haptisch erfahren ließ und jeder hier ohne große Umstände Zugang hatte - abgesehen von der Alterseinschränkung ab 14 Jahren. Von dieser günstigen Möglichkeit machten die Buchinteressierten ausgiebig Gebrauch: Zu den Erinnerungsmustern an die Messe zählen Menschenmassen, dichtes Gedränge und die Hitze im Messehaus am Markt. Aus der ganzen DDR reisten Besucher an und nahmen dafür sogar Urlaub. Obwohl dieser Ansturm für die geschäftlichen Kontakte manchmal lästig war, schränkte das Messeamt den Zutritt privater Besucher zugunsten von Fachbesuchertagen nie ein, wie beispielsweise in Frankfurt praktiziert.
Die Zahl der Verlage aus Westdeutschland rangierte seit Anfang der 1970er Jahre zwischen 30 und 40 Einzelausstellern, wobei zusätzlich mehrere hundert Verlage an wenigen Gemeinschaftsständen auftraten. Die Ausstellerstruktur zeigt, dass hauptsächlich wissenschaftliche und Fachverlage zu den Leipzig-Treuen zählten, denn die DDR investierte ihre Importdevisen vor allem dort und hatte für erzählende Literatur kaum finanzielle Mittel übrig. Doch besuchten auch die großen Belletristik- und Sachbuchverlage der Bundesrepublik die Messe, sodass sich dem DDR-Leser ein beeindruckender Querschnitt durch die westdeutsche Verlagslandschaft darbot. Häuser wie Rowohlt, dtv, Hanser, Luchterhand, Suhrkamp oder Bertelsmann gehörten zu den Attraktionen der Buchmesse. Oben erwähnter "Lektor" berichtete 1981, dass sich irrtümlicherweise am Stand von Gustav Fischer - Verlag medizinischer Fachliteratur - Menschentrauben gebildet hätten. Die Besucher seien der Annahme gewesen, es handele sich um den S. Fischer Verlag, der allerdings zu dieser Messe nicht zu den Ausstellern zählte.
Überdies zeigte das bundesrepublikanische Standpersonal viel Verständnis für die literarischen Bedürfnisse der neugierigen DDR-Leser: Legendär ist die westliche Toleranz gegenüber Buchdiebstählen, die meist in einem Atemzug mit der Messe genannt werden. Uwe Tellkamp thematisiert dieses Phänomen in seinem Roman "Der Turm". Dort beschreibt er den Buchmessebesuch der "Locusta bibliophilia", der ostdeutschen Bücherheuschrecke, die sich von Werken aus dem "Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet" ernährt. Diese literarische Darstellung offenbart stellvertretend für Zeitzeugenberichte die Planung, Ausrüstung, die Strategien, Angriffsarten, Ängste und die Beute der Bücher stehlenden Geschwader.
Etwas weniger als die Hälfte der Befragten einer qualitativen Untersuchung,
Autoren und Leser
In den qualitativen Interviews erinnern sich Zeitzeugen nur sehr selten an Lesungen, die während der Buchmesse stattfanden. Das literarische Rahmenprogramm der DDR-Buchmesse reichte keinesfalls an die Ausmaße von "Leipzig liest" heran. Spricht man heute von 1900 Veranstaltungen mit Zehntausenden Besuchern - man schmückt sich damit, größtes Lesefestival Europas zu sein -, waren es in den 1980er Jahren etwa 30 Veranstaltungen, zu denen um die 2000 Gäste kamen. Die öffentliche Wahrnehmung war damals vergleichsweise gering, zumal literarische Veranstaltungen vornehmlich nicht in Zusammenhang mit der Buchmesse gebracht wurden, sondern vielmehr zum Messekulturprogramm zählten, das Leipzig für seine Gäste auf die Beine stellte.
Zu den Ideen, die für die Neugestaltung der Buchmesse Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre eingebracht wurden, gehörten auch öffentliche Veranstaltungen. Die HV rief die Verlage in den Direktiven stets dazu auf, die Messe als wirkungsvolle Gelegenheit für "literaturpropagandistische Veranstaltungen" - eine Mischung aus Lese- und Absatzförderung - zu nutzen. Es fanden nicht nur Autorenlesungen und Buchvorstellungen statt, sondern auch Lichtbildpräsentationen, musikalisch-literarische Abende oder politisch-theoretische Vorträge zum Beispiel des Dietz Verlags "über die Bedeutung der Theorie von Karl Marx für das entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus in der DDR".
Auswärtige Messegäste berücksichtigte man beim Verkauf der Eintrittskarten bevorzugt. Entsprechend schwierig war es für den Durchschnittsbürger, begehrte Veranstaltungen zu besuchen. Bei einer Buchvorstellung mit Reiner Kunze Anfang der 1970er Jahre mussten sich Mitarbeiter des Reclam-Verlags mit aller Kraft gegen die Saaltüren stemmen, weil eine Menschenmasse ohne Karten auf Einlass drängte - sogar durch die Toilettenfenster. Diese Veranstaltungen waren ein begehrtes Austauschforum für Literaturbegeisterte; hier konnte man Autoren erleben, ihren Gedanken folgen und Fragen stellen. Lesungen beliebter DDR-Schriftsteller wie Erwin Strittmatter, Christa Wolf, Volker Braun, Stephan Hermlin oder Franz Fühmann gehörten zu den attraktivsten; ebenso wie die selten begrüßten ausländischen Autoren aus der Sowjetunion, der Schweiz oder Österreich wie Erich Fried oder Adolf Muschg. Vereinzelt stellten sich ab den 1970er Jahren sogar westdeutsche Schriftsteller dem DDR-Publikum vor. Veranstaltungen mit Rolf Hochhuth, Martin Walser oder Peter Härtling platzten aus allen Nähten.
Nach dem "Leseland"
Nach der Wiedervereinigung war auch die Buchmesse von der allgemeinen Neuordnung der Märkte betroffen. Während sie in der DDR die Funktion einer Ordermesse für den Buchhandel erfüllte, blieben die Sortimenter Anfang der 1990er Jahre fern, worüber die ausstellenden Verlage klagten. Im Börsenblatt kann man ihre Unzufriedenheit über die Messe nachlesen, deren wirtschaftlicher Erfolg "eine totale Katastrophe" gewesen sei.
Unter der finanziellen Federführung durch Club Bertelsmann hoben die Messemacher 1992 "Leipzig liest" aus der Taufe, was der Auftakt war für den noch heute mit der Buchmesse assoziierten intensiven Verlag/Autor-Leser-Kontakt. Daneben sollte sich das Leipziger Profil am Ende eines schwierigen Abgrenzungsprozesses gegenüber Frankfurt durch die folgenden Komponenten auszeichnen: der Termin als fester Buchhandels- und Branchentreffpunkt im Frühjahr, Brückenschlag nach Osteuropa, außerdem Wissenstransfer durch Fachtagungen. Dies alles setzte die 1991 gegründete Leipziger Messe GmbH in eigener Regie um. Der Börsenverein beschränkte sich per Vertrag 1994 in Leipzig allein auf eine ideelle Trägerschaft, im Gegensatz zur Frankfurter Messe, die er ausrichtet. Damit ersparte sich die Buchmesse im Osten langfristig einen möglicherweise komplizierten Interessenausgleich.
Erneut prophezeiten die Verlage den Messetod, als die Organisatoren 1997 den Umzug in die modernen Hallen des Neuen Messegeländes im Norden der Stadt ankündigten. Wieder dokumentiert ein Blick in das Börsenblatt die mehrheitliche Skepsis der Verlage: Sie wollten eine Verlegung nicht mittragen, weil sie mittlerweile das intime Ambiente des Messehauses am Markt und vor allem die praktische Innenstadtlage überaus schätzten. Doch erneut ging alles gut, die Verlage ließen sich überzeugen und die Buchmesse konnte in den Folgejahren expandieren, bis sie 2005 erstmals schwarze Zahlen schrieb. Mittlerweile kommen über 2000 Aussteller aus knapp 40 Ländern nach Leipzig und belegen mehr als 60 000 Quadratmeter Hallenfläche. Über die Jahre wandelte sich dabei der Charakter. Heute schätzen die Verlage Leipzig als wirksame Publikumsmesse. Indes, für die Besucher ist das Fiebern auf das Begehrte, das Risiko und der Reiz der Vielfalt weitgehend verschwunden.