Einleitung
Die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel (HV) im Ministerium für Kultur der DDR
Zensurentscheidungen hatten neben dem kulturpolitischen zugleich einen ökonomischen Aspekt. Die allgemeine Knappheit wirkte sich als permanenter Mangel an Papier und Devisen aus, und es war die Not, über deren Verwendung zu entscheiden, die offiziell die Zensur und das Druckgenehmigungsverfahren legitimierte. Aus diesem Grund ist es kaum sinnvoll, in der Darstellung die ökonomischen Zwänge vom Politischen zu trennen.
Die HV verwaltete, seit Anfang der 1970er Jahre im verwirrenden Wechselspiel mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und dem Deutschen Schriftstellerverband (DSV), zudem diverse Literaturpreise. Sie konnte Ausreiseanträge und Devisenprivilegien bewilligen, sie beeinflusste das Rezensionswesen und die Kommentare der Literaturführer. Sie entschied nicht nur über den Druck - gleichsam die literaturpolitische Schlüsselgewalt -, sondern auch über Auflagenhöhen und Bestsellerchancen, kurz: über das literarische Ranking. Sie verfügte also auf den ersten Blick in hohem Maß über das, was im bürgerlichen Literatursystem nach Pierre Bourdieu als "kulturelles Kapital" zu bezeichnen wäre. Trotzdem war ein literarischer Kanon von der HV zu keiner Zeit zu verordnen, sondern blieb grundsätzlich fremdbestimmt. Denn nicht alle Menschen lasen, was sie sollten, sondern schätzten tendenziell mehr das Verbotene, von der offiziellen Literaturpolitik Ausgegrenzte.
Die Konferenz "Der heimliche Leser in der DDR"
Druckgenehmigte Literatur
Die Literatur der DDR spiegelt sich in Zensurakten. Es ist ein weltweites Unikum, dass diese für eine ganze Landesliteratur nahezu vollständig erhalten sind. Im Bundesarchiv lagern die Druckgenehmigungsakten der HV. Fast zu allen in der DDR zwischen 1951 und 1989 erschienenen Titeln, ob es sich um Romane oder Geschichtsbücher, um Lyrikanthologien oder Lexika handelt, sind jeweils ein Antragsbogen sowie in der Regel zwei Gutachten überliefert. Allein für die Schöne Literatur ist von etwa 20 000 solcher Druckgenehmigungsvorgänge auszugehen.
Beim Zensursystem der DDR handelt es sich um ein Phänomen, für dessen Erforschung Anfang der 1990er Jahre noch keine wissenschaftlichen Routinen existierten. Das undurchsichtige bürokratische Geflecht aus Kompetenzbereichen und Interessenlagen nachzuzeichnen wurde zur Aufgabe einer systematischen Zensurforschung, die sich nicht auf die Präsentation der großen Zensurfälle von öffentlichem Interesse beschränken wollte. Letztlich half nur die zeitraubende wie staubintensive induktive Methode, aus einer Unzahl von Mosaiksteinchen ein Bild der alltäglichen Funktionsweise der Zensur zu entwerfen. Aus den Akten ließ sich lernen, zwischen harten, stets gültigen, und weichen, veränderlichen Tabus zu unterscheiden. Man konnte das Auf und Ab in der ideologischen Großwetterlage nachzeichnen und Zonen ideologischer Ungleichzeitigkeit identifizieren, etwa Verlage (wie Hinstorff oder Reclam), in denen zeitweise besonders mutige Bücher publiziert werden konnten. Wer in den Akten nach spannenden Fällen sucht, sollte darauf achten, wie viel Zeit vom Eingang des Druckgenehmigungsantrags bei der Zensurbehörde bis zur Erteilung der Druckgenehmigung verging, weil eine lange Bearbeitungsdauer den sicheren Hinweis auf mit dem Manuskript verbundene "ideologische Probleme" darstellt. Im Zensurjargon sprach man von "Schmorfällen". Buchverbote waren die Ausnahme, gebräuchlicher war, dass ein Verlag nach entsprechenden Hinweisen von sich aus ein "moralisch verschlissenes" Manuskript zurückzog, um einer "ideologischen Panne" vorzubeugen.
Für den Zensor enthielt der Druckgenehmigungsantrag genug Informationen, um über die Publikationswürdigkeit eines Manuskripts zu entscheiden. Er hatte nur in Ausnahmefällen die Zeit, es selber in Augenschein zu nehmen, und die Alternative, ein zusätzliches Gutachten einzuholen, war kostspielig. Für einen mitteldicken Roman betrug das Begutachtungshonorar, gestaffelt nach Schwierigkeitsgrad, zwischen 150 und 250 Mark. Diese Summe wurde nur investiert, wenn ein begründeter Verdacht bestand, sich der Verlag in anderen Fällen als unzuverlässig gezeigt hatte oder der Autor als heimtückischer Querulant galt. Doch oft gerieten auch parteitreue Autoren in die Mühlen, weil ihr einstmals "politisch richtiger" Text zum falschen Zeitpunkt eingereicht wurde und eine offizielle Auftragsarbeit inzwischen durch eine veränderte Beschlusslage überholt war. In diesem System reichte der gute Wille zur Selbstzensur keineswegs aus, man musste auch auf der Höhe des aktuellen ZK-Plenums schreiben können.
Wenn ein Manuskript bei der HV zur Druckgenehmigung eingereicht wurde, hatten solche Probleme bereits überwunden, die Texte druckreif zu sein. Der Hauptteil der Zensurarbeit am Manuskript wurde nicht erst in der Zensurbehörde, sondern bereits in den Verlagen geleistet, und die HV beschied sich mit Stichproben, mit einer Art Endabnahme- und TÜV-Funktion. Brisante oder verdächtige Manuskripte mit unzureichenden Gutachten wurden noch einmal in Augenschein genommen oder an zuverlässige anonyme Außengutachter weitergeleitet. Deren "Einwände" wurden als Änderungsauflagen dem Verlag übermittelt, der diese beim Autor zu vertreten hatte. Durch diese perfide, den sensiblen Verlagslektor quälende Methode gelang es der Zensur, mehr oder weniger unsichtbar zu operieren. Die Rolle der Selbstzensur in der DDR wird meist überschätzt. Diese war anders als in der Bundesrepublik kein moralisches Problem eines korrumpierten Autorengewissens, sondern Folge eines institutionell vermittelten Erziehungsprozesses, einer Konditionierung durch elektrische Stromschläge.
Insgesamt ist zu konstatieren, dass sich im Lauf von vier Jahrzehnten die Begutachtungskriterien zivilisierten und verwissenschaftlichten und dass sich die Toleranzspielräume erstaunlich erweiterten. Es ist unstrittig, dass in der DDR der Schönen Literatur, zumal der Gegenwartsliteratur von Autoren wie Christoph Hein, Erich Loest, Landolf Scherzer, Erwin Strittmatter oder Christa Wolf, die Funktion einer kritischen Öffentlichkeit zuwuchs, in der über die stalinistische Vergangenheit, über Umweltfragen, korrupte Parteifunktionäre und sogar über die Zensur selbst verhandelt werden konnte. Das wird plausibel damit erklärt, dass die gelenkte Presse für eine solche Funktion nicht in Betracht kam. Aber die Belletristik wurde streng zensiert, und zwar eher noch gründlicher als die Tagespresse, systematischer, im Vorfeld, langfristig. Was die Effektivität der Buchzensur angeht, definierte die DDR unangefochten das Weltniveau. Dass man in dieser Hinsicht selbst das große Vorbild, die sowjetische Zensur, übertreffen konnte, lag sowohl an dernotorischen preußisch-bürokratischen Gründlichkeit als auch an den ungleich schwierigeren Arbeitsbedingungen in einem geteilten Land mit faschistischer Vergangenheit, welche die DDR-Zensur zur unablässigen Verfeinerung ihrer Methoden und zur effektiven Zentralisierung zwangen.
Autoren wie Franz Fühmann, Stefan Heym, Stephan Hermlin, Hermann Kant oder auch Jürgen Kuczynski haben sich an der Zensur abgearbeitet. Aber es gab auch Autoren, die mit dem MfS kooperierten und womöglich dort ihren wohl wollenden Zensor anschwärzten.
Der verdeckte Primat der Ökonomie erklärt, weshalb in der DDR Zensurentscheidungen oft Kompromisscharakter trugen und weniger dekretiert als ausgehandelt wurden. Im Zweifelsfall waren alle Seiten bestrebt, auch politisch schwierige, "problematische" Titel zu "machen". Zensoren und politisch verantwortliche Lektoren taten gut daran, zu dokumentieren, dass sie es sich nicht leicht gemacht und Vorsicht hatten walten lassen. Deshalb glichen etliche Verlagsgutachten im Druckgenehmigungsantrag Verhandlungsprotokollen, in denen alle in den Gutachten erhobenen Einwände aufgeführt waren und jede im Verlag oder der Zensurbehörde durchgesetzte Änderung als Verhandlungserfolg verzeichnet wurde. Besonders gern griff man zu dem Argument, ein gefährliches Buch durch ein kommentierendes Nachwort stigmatisiert oder durch eine kleine Auflage marginalisiert zu haben. War das Buch einmal genehmigt, konnte man in der Nachauflage ein als peinlich empfundenes Nachwort wieder wegfallen lassen.
Die zensurerfahrenen Verlagslektoren verwalteten ein unerschöpfliches Repertoire an Krücken, mit denen sie die unwahrscheinlichsten Projekte ermöglichten. So enthält eine 1987 erschienene Bibliographie des Verlags Volk & Welt
Zum taktischen Repertoire gehörte es, suspekte Autoren nicht gleich mit ihren umstrittensten Werken, sondern zunächst an unauffälliger Stelle einzuführen. Als geeignetes Versteck für diskrete DDR-Premieren waren Anthologien beliebt. Hatte ein Autor auf diese Weise sein literarisches Aufenthaltsrecht erstritten, so konnte man sich an dessen berüchtigte Texte herantrauen. Diesem Muster entsprechend gelang es beispielsweise, von Henry Miller nach dessen Premiere in einer amerikanischen Prosasammlung ("Moderne amerikanische Prosa", 1965) und einem dezidiert unerotischen Taschenbüchlein ("Mademoiselle Claude", 1978) nach zwanzigjährigem Anlauf 1986 den "Wendekreis des Krebses" zu publizieren. Viele solcher Projekte erforderten langen Atem. Als sich eine Romanistik-Lektorin 1985 bei Volk & Welt daran wagte, endlich "Die Haut" von Curzio Malaparte durchzusetzen, musste sie im Gutachtenarchiv des Verlags feststellen, dass seit den 1950er Jahren schon drei ihrer Vorgänger an dieser Aufgabe gescheitert waren. "Stiller" von Max Frisch (1975) und drei Bände der Memoiren Ilja Ehrenburgs (1978) erschienen mit einer Verspätung von fünfzehn Jahren, nachdem diese Bücher Anfang der 1960er Jahre auf spektakuläre Weise vom ZK gestoppt worden waren.
Natürlich machte es einen erheblichen Unterschied, ob man es mit Texten von Weltautoren - die ein Zensor nicht gut ändern konnte - oder mit dem eigenen Schriftstellernachwuchs zu tun hatte, der vor allem im Mitteldeutschen Verlag in Halle einen Stützpunkt hatte. Hier arbeiteten die Lektoren intensiv mit am Text, was leicht zu legitimieren war, solange ein "Schreibender Arbeiter" auf Hilfestellungen angewiesen war. Ähnliche Einmischungen hätten sich Autoren der ersten Garde verbeten, die sich eher im Aufbau-Verlag versammelten. Wenn irgendwo ein so engagierter Literaturfreund wie Kurt Batt im Lektorat des Rostocker Hinstorff-Verlages am Werk war, sprach sich das herum, und eher ausgegrenzte Autoren wie Klaus Schlesinger und Ulrich Plenzdorf fühlten sich angezogen.
Belletristik-Zensur in der DDR funktionierte von Verlag zu Verlag unterschiedlich. Selbst im Nachhinein ist das Zensursystem nicht leicht zu durchschauen, die Autoren blieben auf Gerüchte angewiesen. Der Zensurforscher kann durch sein Ex-post-Wissen, durch die Kenntnis der Institutionen, Kader und Hintergrundintrigen, der dominierenden ökonomischen Zwänge und des Wechselspiels der ideologischen Großwetterlage leicht das Wichtigste verfehlen: die bedrohliche Offenheit einer undurchschaubaren Situation. Dem im Nebel stochernden Autor stand eine bunte Palette taktischer Manöver zur Verfügung, um seinen Text durchzusetzen. Er konnte ein aktuelles Anliegen durch ein historisches Gewand tarnen oder auf unverfängliches Terrain ausweichen. Stefan Heyms "König David Bericht" hatte beispielsweise weniger mit der Bibel als mit der Geschichtspolitik Walter Ulbrichts zu tun. Um zu vermeiden, dass ihre exotischen Abenteuer der strengen Zensur durch das Außenministerium unterlagen, ließen Krimiautoren ihre Abenteuer nicht mehr in Indien oder China, sondern auf einem Ozeandampfer spielen. Besonders beliebt wurden abgelegene Gegenden wie Grönland. Als einer Verfasserin von Eskimo-Märchen trotzdem abverlangt wurde, die Vorzüge der sowjetischen Eskimo-Politik herauszustreichen, verlegte sie die Handlung kurzerhand ins 14. Jahrhundert. Ganze Genres sind auf diese Weise entstanden. So hing die Vorliebe von Autoren wie Franz Fühmann und Christa Wolf für die Romantik damit zusammen, dass die gefürchteten Gutachter des Instituts für Marxismus-Leninismus erst für die Zeit ab 1844 zuständig waren.
Es gab spielerische Versuche, subversive Passagen in Texte einzuschmuggeln. Irmtraud Morgner gelang es, die umstrittensten Passagen eines verbotenen Manuskripts in einem neuen Roman zu verstecken. Die Strategie, so genannte "weiße Elefanten" oder "Porzellanhunde" als Streichmasse in den Text zu schmuggeln, um die Aufmerksamkeit des Zensors auf sich zu ziehen - man zitierte also etwa Trotzki, um von der Kritik an der staatlichen Umweltpolitik abzulenken -, wurde auch von Lektoren empfohlen: "Geh bis zur äußersten Grenze. Tue Dir keinen Zwang an. Streichen können wir dann immer noch!"
Es gab provokative Versuche, aus dem Zensursystem auszuscheren. Kleinauflagen von Graphiken unter 100 Stück waren nicht dem Druckgenehmigungsverfahren unterworfen, eine Regelung, auf die der literarische Untergrund der 1980er Jahre seine subversiven, allerdings in der Wirkung beschränkten Praktiken stützte. Doch politische Wirksamkeit war nur über die großen Verlage zu erwarten. Hier ist ein bislang übersehenes Phänomen zu erwähnen, das entschieden zur Unterwanderung des Zensursystems beitrug. Es gehörte zum Berufsbild des Zensors, dass er als Kenner verbotener Literatur der Gefahr ideologischer Aufweichung und politischer Zersetzung durch dekadente, feindliche Einflüsse ausgesetzt schien. Deshalb griffen seine Vorgesetzten regelmäßig zu kaderpolitischen Sanktionen. Hauptsächlich als Folge von Strafversetzungen wurden schließlich beinahe alle großen Verlage von ehemaligen Zensoren geleitet. Sie erhielten, wie man sagte, einen Verlag als "Lehen" überreicht. Diese Strategie erwies sich als zweischneidig. Zwar kannten Verleger wie Günter Hofé vom Verlag der Nation, Jürgen Gruner von Volk & Welt, Gerhard Dahne vom Altberliner Verlag oder Eberhard Günther vom Mitteldeutschen Verlag die strengen Spielregeln, aber gerade wegen dieses Insiderwissens und ihrer Behördenkontakte waren sie in der Lage, nahezu jedes Buch durchzusetzen: Auf diesem Minenfeld wurde der erfahrene Zensor zum besten Verbündeten des Autors.
Schließlich kam es soweit, dass die Zensurbehörde daran ging, die Belletristik-Zensur abzuschaffen. Buchminister Höpcke und der Präsident des DSV Hermann Kant nutzten den Rückenwind des XI. Schriftstellerkongresses 1987, auf dem Christoph Hein die Zensur als "überlebt, nutzlos, paradox, menschenfeindlich, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar" gegeißelt hatte, um dem Chefideologen Kurt Hager im Politbüro die Aufhebung des Druckgenehmigungsverfahrens zum 1. Januar 1989 abzuringen. Hager stellte zwar die seltsame Bedingung, dass davon niemand erfahren dürfe - schließlich konnte man schlecht eine Zensur abschaffen, die offiziell gar nicht existiert hatte -, aber eine solche Sensation machte die Runde, und die Vermutung, dass die Abschaffung der Zensur das öffentliche Meinungsklima im Vorfeld der "Wende" entscheidend beeinflusst hat, ist kaum von der Hand zu weisen. Doch als endlich die lange erwarteten Bücher Stefan Heyms, Rainer Kunzes, Rudolf Bahros, Ernst Jüngers, Friedrich Nietzsches oder Alexander Solschenizyns erscheinen konnten, gab es keine DDR mehr. Wer interessierte sich 1990 noch für die "Fünf Tage im Juni", den einst sagenumwobenen vierten Band der Ehrenburg-Memoiren oder für Bahros "Die Alternative"? In jenem Jahr verdrängte im sterbenden Volksbuchhandel die westdeutsche Literatur die Bücher aus der DDR, deren mit Abstand interessantester Jahrgang sich schließlich auf der Müllkippe wiederfand.
Unerlaubte Literatur
Es ist naheliegend und wäre bequem, als DDR-Literatur nur jene Bücher zu betrachten, die in der DDR erscheinen konnten, also druckgenehmigt waren. Schon damit hätten die zuständigen Literaturwissenschaftler und interessierten DDR-Forscher genug zu tun, da es sich um weit über 300 000 Titel handeln dürfte. Dabei geht es um Bücher, Broschüren, Zeitschriften und Drucksachen aller Genres, die zum Teil von regionalen Stellen und Institutionen mit "genereller Druckgenehmigung" autorisiert worden waren; nicht nur um Belletristik, sondern um Kinder- und Kochbücher, um politische Literatur und Briefmarkenalben, Militaria und Comics, konfessionelle Kleinschriften und Reiseführer. Zu all diesen Genres finden sich interessante Zensurgeschichten.
Aus diesem Zusammenhang ergibt sich die hier durchgespielte Gegenüberstellung von genehmigter bzw. druckgenehmigter Literatur auf der einen und unerlaubter Literatur auf der anderen Seite. Unerwünschte Literatur war offiziell in der Regel nicht etwa verboten, sondern sie wurde nicht gedruckt, weil dafür angeblich das Papier oder die Devisen fehlten. Diese Fiktion, die kulturpolitischen Zwang als ökonomischen Mangel ausgeben konnte, ließ sich nicht mehr aufrecht erhalten, sobald sich der Leser seine unerlaubte Lektüre auf andere Weise zu beschaffen versuchte: in West-Berlin bis zum Mauerbau, aus den Giftschränken für Forschungsliteratur der großen Bibliotheken und Antiquariate, auf der Buchmesse, im befreundeten sozialistischen Ausland oder im Westen. Manche Bücher und Zeitschriften wurden an der Grenze kommentarlos einbehalten, der Besitz anderer zog Anzeigen oder gar Zuchthausstrafen nach sich. Als Baldur Haase nach der Lektüre von George Orwells "1984" verhaftet wurde, fand er besonders ungerecht, dass ein offizielles Verbot gar nicht bestand.
Die Mehrzahl suspekter Titel blieb nicht durchgängig ausgegrenzt. So erinnerte das internationale Verlagsprogramm von Volk & Welt in der Spätzeit an einen Verbotsindex der 1950er Jahre. Den entsprechenden Publikationen gingen zwar langwierige Zensurkämpfe voraus, aber selbst ein Autor wie Karl May, von dessen Werken der heimliche Leser Heinz Thümmler bis September 1979 an 2788 "Schreibtagen" 21 Bände mit insgesamt 11 933 Seiten eigenhändig abgeschrieben hatte, gehörte seit 1982 zum Kernbestand und wurde seit seiner literarischen Repatriierung vom Verlag Neues Leben gleich in riesigen Auflagen gedruckt.
Solche Titel waren indes kaum Objekte des volkssportartig betriebenen Massenschmuggels, von dem die Akten des Zolls und der Post berichten, wie ihn nach dem Mauerbau vor allem reisende Rentner betrieben. Diese wurden "von ihren Kindern und Enkeln rücksichtslos zu Schmugglern umfunktioniert", um die "regelrecht wie beim Buchhändler bestellte - in aller Regel politisch höchst harmlose - Konterbande durch den Zoll" zu bringen und sich so einen "Ehrenplatz in der Geschichte des deutschen Buchhandels" zu erwerben.
In allen Beschlagnahmungsstatistiken von Post und Zoll dominieren über die Jahrzehnte hinweg triviale Textsorten, vom Western- und Liebesroman bis hin zum Versandhaus-Katalog. Allerdings wurden auch diese Genres weniger aus ästhetischen als aus politischen Gründen ausgegrenzt. So wurde die Gefährlichkeit von "Micky-Maus"-Heften wie folgt begründet: "Sogenannte Jugendzeitschriften wie Micky-Maus und andere. Mit diesen Schriften soll insbesondere unsere Jugend von der gesellschaftlichen Arbeit abgehalten werden. Hiermit wird das Ziel verfolgt, in der DDR sogenannte Jugendklubs zu bilden, um so die Jugend vom Eintritt in die FDJ und dem Verband der Jungen Pioniere abzuhalten. Damit wird praktisch der erste Schritt getan, um unsere Jugend für die verbrecherischen Machenschaften der westlichen Machthaber zu gewinnen."
Der heimliche Leser interessierte sich für "Die Alternative", "Angélique", Autoatlanten und Astrologie, für Wolf Biermann, "Bild" und "Bravo", für Comics, China und Camus, für von Däniken, "Dr. Schiwago" und Dürrenmatts "Die Ehe des Herrn Mississippi", evangelische Erbauungsliteratur und Erotika, Fernsehprogrammhefte und die FAZ, Grass und Gulag-Literatur, Hetzliteratur und Havemann, Illustrierte und Ionesco, James Bond und Ernst Jünger, für Künstlerbücher, Konsalik, den "Kicker" und Reiner Kunze, Konrad Lorenz und Wolfgang Leonhard, Militaria und Modejournale, Nietzsche und die "Neue Revue", Orwell und den Otto-Versand, Punk-Zeitschriften und den "Playboy", für die "Quick" und Quelle-Kataloge, Reisebücher und rororo, den "Spiegel" und den "Stern", Trotzki und Luis Trenker, die Umweltbibliothek und Underground, Vertriebenenblätter und den "Wachtturm", für den "Tag X" Stefan Heyms, Yoga-Bücher und amerikanische Zukunftsschmöker. In größerem Stil geschmuggelt wurde konfessionelle Literatur aller Kirchen. In einem einzigen VW-Bus hatten die Zeugen Jehovas über 44 000 Exemplare des "Wachtturm" eingeschweißt. Einer Zollstatistik zufolge wurden 1979/1980 in anderthalb Jahren 140 600 Grobsendungen und Päckchen mit konfessioneller Literatur kontrolliert, wovon 28 437 komplett, 4302 teilweise eingezogen und 561 in den Westen zurückgeschickt wurden.
Welche politische Rolle wäre dem heimlichen Lesen von unpolitischer Gebrauchsliteratur als Massenphänomen zuzumessen? Aus heutiger Sicht einer im Wesentlichen frei zugänglichen Informationsflut gegebene Beliebigkeit besteht eher die Neigung, die Gefährlichkeit, die einem Text zuwachsen kann, zu unterschätzen. Doch in einem Zensursystem wurden die unterschiedlichsten Texte durch staatliche Billigung wie auch umgekehrt durch Ausgrenzung politisch aufgeladen und gewannen an Sprengkraft. So kommt dem heimlichen Lesen als der einfachsten Form der Demonstration von "Eigensinn" ein symbolischer Wert an sich zu.
Staatliche Ökonomie des heimlichen Lesens
Was geschah mit den konfiszierten Büchern und Zeitschriften? Sie wurden verwertet. Die nahe liegende Vermutung, dass die Zöllner sie zunächst selbst lasen, lässt sich aus den Akten naturgemäß nur in Ausnahmefällen belegen. Um dem vorzubeugen, wurden die Objekte weitergereicht und landeten, soweit es sich um Massenliteratur handelte, in plombierten Säcken bei der Altpapierverwertung. Wertvollere Literatur wurde vermutlich sogar über das Zentralantiquariat reexportiert, soweit es sich um häufige Dubletten handelte. Um Unikate stritt sich die Deutsche Bücherei mit der Staatsbibliothek und mit der Bibliothek der Zensurbehörde, die schließlich wissen musste, was zu verbieten war. Der Wissenschaftsverleger Klaus G. Saur berichtet von einem Kollegen, der Jahr für Jahr zehn Exemplare eines verbotenen Buches über die Ungarn-Flüchtlinge von 1956 zur Leipziger Messe mitbrachte, das dort regelmäßig beschlagnahmt wurde, wonach dem Eigentümer der Preis von 298 DM pro Stück ersetzt werden musste: "Nachdem das Buch schon einige Jahre auf diese Weise langsam, aber sicher abgeflossen war, kam an einem Messe-Eröffnungstag am Sonntag der Vertriebsleiter des Verlags an den Stand und sah ganz erschrocken, dass diese fünf Bücher noch am Stand waren. Man wusste, dass die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes im dritten Stockwerk ihr Büro hatten. Er ging dorthin und fragte nach, was denn nun los sei, warum die Bücher nicht beschlagnahmt worden seien. Ihm wurde dann treuherzig erklärt, das Thema sei nicht mehr so brisant und man hätte auch schon so viele Exemplare. Er bat händeringend darum, das Buch noch einmal zu beschlagnahmen, und man verständigte sich dann darauf, die Bücher noch einmal zu übernehmen, unter der Bedingung, dass sie zur nächsten Messe dann nicht mehr mitgebracht würden."
Im ZK der SED waren zwar nicht die Abteilungen für Propaganda und Agitation, aber dafür umso mehr die für die Parteibetriebe zuständige Finanzabteilung an ökonomischen Gesichtspunkten interessiert, zumal die Parteikasse auf die Einnahmen aus den Papierfabriken, Druckereien und Zeitungsverlagen der Parteiholding Zentrag angewiesen war. Seit 1963 waren der vormals parteieigene Volksbuchhandel und die größten Buchverlage der HV nachgeordnet, die jährlich dreistellige Millionenbeträge an die SED abführte. Die im Buchhandel erwirtschafteten Gelder flossen im Wesentlichen der SED zu, und dieser Umstand führte zu paradoxen Entwicklungen. Erste größere Zugeständnisse an den Lesergeschmack etwa erfolgten nach dem 17. Juni 1953, als einige der fortan beliebtesten DDR-Zeitschriften wie "Das Magazin", die Modezeitschrift "Sibylle", der "Eulenspiegel" und, als Gegengift gegen die amerikanische Comicflut, das "Mosaik" gegründet wurden. Die Zensur erlaubte auch kulturvolle Krimis, Science-Fiction und Heimatliteratur. Alle diese massenhaft produzierten und bestens verkäuflichen Kultartikel waren als Gegengewicht zu den damals in West-Berlin leicht zugänglichen Verlockungen von "Schmutz und Schund" konzipiert, die "Wochenpost" beispielsweise als sozialistische Antwort auf die "Grüne Post".
Bereits 1955 war registriert worden, dass Massen unverkäuflicher sowjetischer Belletristik wie Blei in den Lagern ruhten, ein peinliches Politikum, das die Parolen von der deutsch-sowjetischen Freundschaft konterkarierte. Beginnend mit Ilja Ehrenburgs "Tauwetter" verbesserten sich indes mit den Jahren die Absatzchancen für solche Titel, die in der Sowjetunion oder bei der DDR-Zensur als politisch umstritten galten; so profitierte Galina Nikolajewas "Schlacht unterwegs" vom Spitznamen "Unterwegs geschlachtet". Die Stalin-Kritik Jewgeni Jewtuschenkos, Konstantin Simonows und Michail Bulgakows, der im Rias verlesene Alexander Solschenizyn, schließlich die Gedichte von Anna Achmatowa, Ossip Mandelstam und Boris Pasternak bei Reclam und Volk & Welt, nicht zuletzt die Romane Juri Trifonows, Bulat Okudschawas, Tschingis Aitmatows und Walentin Rasputins, welche die Gorbatschow-Ära einläuteten: Diese sowjetische Literatur wurde breit rezipiert, weil sie dem Geschmack der heimlichen Leser entgegenkam, als subversiv galt und manchmal noch nicht einmal in der Sowjetunion zu haben war.
Während in der Bundesrepublik für ein Buch in der Regel massives Marketing notwendig ist, hatten es die Büchermacher der DDR in dieser Hinsicht einfach: Buchverbote und Tabus lieferten den Verlegern die zuverlässigsten Leitplanken, die Zensur bot den zuverlässigsten Kompass. Die in der DDR erscheinende internationale Literatur von Aufbau und Volk & Welt war im Volksbuchhandel meist schlagartig vergriffen. Lizenztitel aus dem Westen wurden in weit überhöhten Auflagen gedruckt. Die 1991 aufgedeckte Plusauflagenpraxis war kriminell, verweist jedoch eindringlich auf das riesige Bedürfnis nach westlicher Literatur. So betrug die reale Auflage von Raymond Chandlers "Die Tote im See" nicht, wie im Vertrag und in offiziellen Statistiken angegeben, 30 000, sondern 240 000 Exemplare, "Der kleine Prinz" von Antoine de St. Exupéry erschien nicht 98 000-, sondern 388 000-mal.
Am Ende der Zensur
Jene Verlage, deren Lektoren zielstrebig, geduldig und fintenreich seit Mitte der 1960er Jahre an der Erweiterung der Publikationsspielräume gearbeitet hatten, erfreuten sich zumal bei den bemerkenswert zahlreichen literaturkundigen Bewohnern des "Leselandes", welche die Spielregeln kannten, großer Beliebtheit und einer gewissen Bewunderung, die zwar im Konsumverhalten der unmittelbaren Nachwendezeit kaum zu spüren war, aber offenbar überlebt hat. Dafür spricht das empörte Presseecho auf die Schließung von Volk & Welt und Reclam Leipzig, auf das drohende Ende von Henschel, Aufbau und Kiepenheuer. Diese Verlage verfügten bis 1990 bekanntlich über zahlreiche sorgfältig arbeitende Lektoren und Übersetzer, die sich ein unter Marktbedingungen operierender Verlag nicht leisten konnte. Die Male ihrer Triumphe, die mühsam erstrittenen Westtitel, fielen zudem an die Lizenzgeber zurück und durften nicht mehr verlegt werden. Es berührt bitter, dass ausgerechnet jene Verlage ein Opfer der Nachwendezeit wurden, welche die Ereignisse von 1989 mit tapferen, über Jahre hinweg verbotenen Büchern vorbereiten geholfen hatten.
Die heimlichen Leser lasen durchaus auch erlaubte Bücher. Das Selbstverständnis, die DDR sei ein "Leseland", oder besser, im Sinne Johannes R. Bechers, eine "Literaturgesellschaft", war keineswegs aus der Luft gegriffen, aber die Lesefreudigkeit der Bevölkerung war nicht nur auf die systematische staatliche Leseförderung, sondern auch auf den Wunsch nach von der Zensur vorenthaltener Literatur zurückzuführen. Die westdeutschen Bücherfreunde sollten zwanzig Jahre nach der "Wende" endlich verstehen lernen, warum DDR-Bürgerinnen und -Bürger ihre Bücher liebten. Denn nach dem Untergang ihrer wichtigsten Verlage und der Entsorgung von zehntausend Bibliotheken sind die Bücher selbst vom Zerfall bedroht. Das Papier ist so schlecht, dass ohne eine baldige, großzügige Rettungsaktion und systematische Entsäuerung die Bücher aus der DDR das nächste Jahrhundert nicht überleben werden.