Einleitung
Wo die Politik Machtworte spricht, sucht die Kunst nach dem authentischen Ausdruck, der sich hinter den Fassaden der Propaganda in den Schicksalen der Menschen verbirgt. Christa Wolf hat in ihrem Werk, das einen Zeitraum von nahezu einem halben Jahrhundert umfasst, diese existenzielle Erfahrung auf vielfältige Weise gestaltet. Sie hat Konfrontationen und Widersprüche, Krisen und Umbrüche, die das vergangene Jahrhundert geprägt haben, als Zeitzeugin erfahren und eindringlich zur Sprache gebracht. Sie hat sich im Erfahrungsraum der Geschichte, der ihr Leben bestimmt hat, verändert und ist sich dabei in ihrem Werk auf der Suche nach "subjektiver Authentizität"
Als "öffentliche Person" hat sie in der DDR eine Bedeutung erlangt wie unter den Schriftstellern in der Bundesrepublik nur Heinrich Böll und Günter Grass. Sie alle haben den Beifall der Mächtigen nur selten gefunden, waren sie doch auf der Seite der kleinen Leute, jener stillen Helden, die gegen den Verfügungsanspruch politischer Ordnungssysteme nach Auswegen eigensinniger Selbstbehauptung suchten und sich nicht damit abfinden mochten, historische Prozesse als bloße Objekte zu erfahren, sondern durch eingreifendes Denken sich selbst als Person zu entdecken.
Fluchtversuche
Als Christa Wolf mit ihrer Erzählung "Der geteilte Himmel" im Herbst 1963 in ganz Deutschland Aufsehen erregte, trennte die Berliner Mauer nicht nur zwei Staaten, sondern blockierte auch die Begegnung zwischen den Menschen. Dieses Thema bestimmt Christa Wolfs Geschichte von Rita Seidel und Manfred Herrfurth, die sich zur Darstellung eines politischen Konflikts und einer schmerzlichen persönlichen Entscheidung ausweitet: Der begabte Chemiker Manfred kapituliert Monate vor dem Mauerbau vor den Hemmnissen und Widerständen bornierter Funktionäre und wählt während eines Kongressaufenthaltes die Flucht nach West-Berlin.
Das Gespräch mit Manfred, das Rita am Sonntag vor dem 13. August 1961 zu ihm nach West-Berlin reisen lässt, handelt von der Traurigkeit des Abschiednehmens, aber auch von der Zerrissenheit eines Landes, das diesen Zwiespalt der Gefühle bedingt. Als Manfred Ritas Heimatsehnsucht spürt, klingt das deutsche Dilemma an: "Hör bloß mal ein paar Namen: Schwarzwald, Rhein, Bodensee. Sagt dir das nichts? Ist das nicht auch Deutschland? (...) Ist es nicht unnatürlich, wenn du gar keine Sehnsucht danach hast?" Von Rita heißt es, "die Sehnsucht nach allen Orten, an denen er von jetzt an sein würde, vernichtete sie fast. Wer auf der Welt hatte das Recht, einen Menschen - und sei es einen einzigen! - vor solche Wahl zu stellen, die, wie immer er sich entschied, ein Stück von ihm forderte?"
Der Himmel, der dem Buch den Titel gibt - "Dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer" - wird zur Metapher für getrennte, unüberbrückbare Lebenswelten, und Rita erkennt: "Der Himmel teilt sich zuallererst."
Weil Christa Wolf im Waggonwerk Ammendorf (bei Halle) einige Monate mit einer Brigade zusammengearbeitet und dort auch gemeinsam mit ihrem Mann einen "Zirkel Schreibender Arbeiter" geleitet hatte, galt "Der geteilte Himmel" den Kulturfunktionären der SED als Exempel für den von Walter Ulbricht 1959 propagierten Bitterfelder Weg, der Literatur und Arbeitswelt miteinander verbinden sollte. Dieses Engagement war auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 mit der Aufnahme als Kandidat ins Zentralkomitee (ZK) der SED belohnt worden. Mit diesem Rückhalt wagte sie sich auf vermintes politisches Terrain. Auf einem internationalen Schriftstellerkolloquium in Frankfurt am Main griff Christa Wolf das Thema der Teilung erneut auf. Sie erinnert sich, dass sie in der Goethestadt nach einer Lesung aus dem "Geteilten Himmel" gefragt wurde, ob sie die Verhältnisse in der DDR nicht doch grundsätzlich kritisiere, sich aber nicht offen äußern könne: "In diesem Moment dachte ich an den Ärger, den ich zu Hause habe. Ich dachte daran, daß ich mich oft über Engstirnigkeit ärgere - ärgere ist ein sehr schwaches Wort -, über Gängelei, Banausentum, über falsche Anforderungen, die an Literatur gestellt werden, über falsches Lob, falschen Tadel, mangelnde Weltoffenheit, über mangelnde Veröffentlichung von Büchern, deren Veröffentlichung ich für unerlässlich halte (...), und ich verteidigte, dies alles nicht vergessend, mit meiner ganzen Überzeugungskraft und Beredsamkeit in diesem Frankfurter Forum die DDR."
Ist ihre Schlussfolgerung logisch oder nicht vielmehr nur psychologisch zu erklären? Man sollte sich erinnern, dass zu jener Zeit in Frankfurt der Auschwitz-Prozess stattfand, den Christa Wolf während ihres Aufenthalts auch besucht hat. Es war vor allem die Gründungslegende der DDR vom antifaschistischen Neubeginn, die ihre Wahl für den Staat der Antifaschisten trotz irritierender Erfahrungen in der Erziehungsdiktatur erklärbar macht.
Kahlschlag und Selbstbehauptung
Die Reglementierungen der Künstler in der DDR, von denen Christa Wolf in Frankfurt freimütig gesprochen hatte, sollten sich 1965 massiv verschärfen. Sie richteten sich in erster Linie gegen die Filmproduktion der DEFA, von der nicht weniger als zehn Titel verboten wurden, doch waren auch Schriftsteller und bildende Künstler von den hasserfüllten Polemiken betroffen, die auf dem "Kahlschlagplenum" des ZK der SED im Dezember 1965 unter Ulbrichts Regie vor allem von Erich Honecker und Kurt Hager vorgetragen wurden. Honecker hielt Schriftstellern und Filmregisseuren eine "Ideologie des spießbürgerlichen Skeptizismus ohne Ufer" vor. Es muss wie eine Drohung gewirkt haben, als der für Kultur zuständige ZK-Sekretär Hager unmissverständlich erklärte: "Louis Fürnberg schrieb das schöne Lied Die Partei hat immer recht. Das gilt für die Vergangenheit, und das gilt für die Gegenwart und die Zukunft."
Die Szene, die zum Tribunal gerät, wird für Christa Wolf zur eindrucksvollen Mutprobe in aufgeheiztem Klima. Sie wendet sich gegen eine engstirnige Kulturpolitik, gegen Sichtweisen, die "jede kritische Äußerung an irgendeinem Staats- oder Parteifunktionär als parteischädigend ansehen. (...) Es ist nicht richtig (...), die Schriftsteller in eine Defensive zu drängen, so daß sie immer nur beteuern können: Genossen, wir sind nicht parteifeindlich." Mehr noch als diese Kritik an der Kulturpolitik beeindruckt ihre entschiedene Verteidigung von Werner Bräunigs Wismut-Roman "Rummelplatz", dessen auszugsweiser Vorabdruck in der "Neuen Deutschen Literatur" die Empörung der Parteimandarine ausgelöst hatte: "Meiner Ansicht nach zeugen diese Auszüge in der NDL nicht von antisozialistischer Haltung, wie ihm vorgeworfen wird. In diesem Punkt kann ich mich nicht einverstanden erklären. Das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren."
Es kann als sicher gelten, dass ein solcher Satz in diesem Gremium niemals zuvor gefallen war. Hier meldete sich ein Gewissen zu Wort gegen die geforderte Disziplin und Unterwerfung gegenüber einer Parteiführung, die erneut unmissverständlich für sich reklamiert hatte, immer Recht zu haben. Das Gewissen ist der Kern der persönlichen Integrität, und wer die Fähigkeit und Leidenschaft Christa Wolfs kennt, die Psyche einer Person zu erfassen, wird nicht überrascht sein, wenn sie die Erfahrung des "Kahlschlagplenums" als Zäsur in ihrer Biografie benennt.
Selbsterkundung
Einen wesentlichen Impuls für Christa Wolfs künstlerische Entwicklung vermittelt 1966 das Werk Ingeborg Bachmanns. Auf Bachmanns programmatisches Diktum: "Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar" reagiert sie mit dem Essay "Die zumutbare Wahrheit", dessen Schlüsselworte "Selbstbehauptung als Prozess" heißen.
"Nachdenken über Christa T." kann als Kulminations- und Wendepunkt in der DDR-Literatur am Ausgang der 1960er Jahre bezeichnet werden,
Christa T. hat sich den Anforderungen gesellschaftlicher Funktionalisierung kategorisch entzogen. Stattdessen hat sie versucht, ihre "Selbstbehauptung und Selbstentdeckung"
So weit ging die Zensurpraxis im Jahr, als die Träume von einem Sozialismus "mit menschlichem Antlitz" durch die sowjetische Okkupation der CSSR brutal ausgelöscht wurden, dann doch nicht, obwohl sich der Mitteldeutsche Verlag nachträglich von dem Buch distanzierte und damit 1971 Christa Wolfs Wechsel zum Aufbau-Verlag bewirkte. "Nachdenken über Christa T." erschien Ende 1968 schließlich in einer verschwindend kleinen Auflage im Volksbuchhandel als "Bückware". Die Irritationen, die das Buch ausgelöst hatte, fasste Max Walter Schulz auf dem VI. Schriftstellerkongress Ende Mai 1969 mit den abwehrenden Worten zusammen: "Sozialistisch-realistische Literatur verfügt weder über den inneren noch über den äußeren Auftrag, dem Individualismus auf ihrem gesellschaftlichen Gelände sonst wie schöne Denkmäler zu setzen."
Nach dem erzwungenen Rücktritt Ulbrichts schlug Honecker zunächst eine neue, überraschende Tonlage an. Seine Formeln von der "Breite und Vielfalt" und von der "Suche nach neuen Formen" die er auf dem VIII. SED-Parteitag im Juni 1971 verwendete, mehr noch seine im Dezember 1971 getroffene Feststellung, es solle "keine Tabus" geben, wurden voreilig in illusionärem Optimismus von all jenen falsch verstanden, die übersehen hatten, dass der neue Parteichef seine Avancen an die Kunstschaffenden mit einer entschiedenen Einschränkung versehen hatte: Das sollte gelten, wenn man "von der festen Position des Sozialismus ausgeht".
Die Gegenwart der Vergangenheit
"Kindheitsmuster" erscheint 1976 mit einer Startauflage von 60 000 Exemplaren. Die Frage, ob und wie sich die ideologische Indoktrination und die politischen Disziplinierungsakte in der Zeit des Nationalsozialismus als lebensgeschichtliche Prägungen auch auf die Menschen auswirkten, die in der DDR lebten, galt der SED als abwegig, seit sie die DDR auf die Seite der "Sieger der Geschichte" geschlagen hatte und dem Westen auch die mentalen Hypotheken des Nationalsozialismus allein anlastete. Dieser Sicht mochte Christa Wolf nicht folgen, nachdem das Bedürfnis entstanden war, "sich noch einmal in einer tieferen und auch psychologisch fundierten Weise mit der eigenen Entwicklung auseinanderzusetzen",
Das Buch wurde von der Literaturkritik der DDR zunächst fast vollständig verschwiegen,
Die 1979 publizierte Erzählung "Kein Ort. Nirgends" lässt sich in verschiedene Deutungshorizonte einordnen. Es ist die Geschichte einer erfundenen Begegnung zwischen Heinrich von Kleist und Karoline Günderrode im rheinischen Ort Winkel. In einem fiktiven Gespräch treffen sich zwei Außenseiter, denen im Leben nicht zu helfen war, weil sie an den Konventionen der Zeit zerbrachen. Es ist ein Text, in dem sich ein pessimistisches Lebensgefühl deutlich akzentuiert. Der Zusammenhang mit der Zeitstimmung der Autorin ist unverkennbar: "Das habe ich nach der Biermann-Affäre geschrieben. Und da war mein Lebensgefühl wirklich sehr deprimiert und pessimistisch. (...) Kein Ort. Nirgends, auch dieser Titel, ist ein Reflex auf eine Situation. Ohne Alternative zu leben. Das war eigentlich mein Grundgefühl nach 1976."
Dass Christa Wolf in ihrer fiktiven historischen Geschichte Kleist als Protagonisten gewählt hat, mag nicht nur mit der Missachtung zusammenhängen, welche die SED-Literaturpolitik der Romantik als einer Form des schrankenlosen Subjektivismus entgegenbrachte, sondern auch mit einer Kontroverse, die im Jahr des 200. Geburtstages von Heinrich von Kleist (1975) Günter Kunert veranlasst hatte, sein "Pamphlet für K." in "Sinn und Form" zu veröffentlichen. Kunert wendet sich darin gegen eine "dogmatische Literaturverkennung", in der die Leiden des Autors an der Gesellschaft als krankhaft abgetan werden und die Gesellschaft als gesund erscheine. Wer so denke, bewege sich in der "Welt des Faschismus".
Der Georg-Büchner-Preis, den Christa Wolf 1980 als erste in der DDR lebende Autorin erhält,
Die Hinwendung zu vorantiken Mythen, die zu antiken Dichtungen geworden sind, ist charakteristisch für zwei herausragende Werke, die Christa Wolf vor und nach dem Epochenjahr 1989 vorgelegt hat. 1983 erscheint "Kassandra", 1996 folgt "Medea". Kassandra, die Seherin, die vor den schrecklichen Folgen des Trojanischen Krieges warnt und erleben muss, dass sie das Unheil nicht aufzuhalten vermag, entsteht in einer Zeit, in der die Supermächte in einer neuen Spirale der Hochrüstung verfangen sind, als dramatisches Menetekel, das sich gleichermaßen an die Protagonisten der konkurrierenden Weltsysteme richtet, um dem Wahnsinn des Wettrüstens Einhalt zu gebieten.
Indem Christa Wolf das propagandistische Klischee von Gut und Böse ausschließt und die Massenvernichtungswaffen beider Seiten als lebensbedrohlich benennt, weckt sie die Arglist der Zensoren. In der DDR-Ausgabe des Kommentarbandes zu "Kassandra", der unter dem Titel "Voraussetzungen für eine Erzählung" aus einer Frankfurter Vorlesungsreihe hervorgegangen ist, muss neben zwei anderen Textstellen eine kurze Passage entfallen, die explizit beide Seiten für die Bedrohungslage verantwortlich macht.
Im Werk von Christa und Gerhard Wolf zeigt sich von Ende der 1960er Jahre an eine Faszination vom "Projektionsraum Romantik", der Persönlichkeit von Dichtern und Dichterinnen, die "ihre Stirnen an der gesellschaftlichen Mauer wund rieben"
Christoph Hein hat diese Vorahnung 1989 in seinem Stück "Die Ritter der Tafelrunde" als beklemmendes Endspiel einer ideologisch bornierten Gerontokratie Monate vor der friedlichen Revolution in Szene gesetzt. An diesem Prozess, der mit dem Anspruch der Menschen auf Volkssouveränität ernst macht, nimmt Christa Wolf mit der Macht des Wortes entschieden Anteil. Bei der Kundgebung auf dem Alexanderplatz erklärt sie am 4. November 1989: "Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache. Was bisher so schwer auszusprechen war, geht nun auf einmal frei über die Lippen. (...) Die Sprache springt aus dem Ämter- und Zeitungsdeutsch heraus, in das sie eingewickelt war, und erinnert sich ihrer Gefühlswörter. Eines davon ist Traum. Also träumen wir mit hellwacher Vernunft."
Das Eigene und das Fremde
Im Frühjahr 1990 veröffentlicht Christa Wolf die Erzählung "Was bleibt", ein Text, der persönliche Erfahrungen mit den Praktiken des Überwachungsstaates thematisiert. Er handelt von Angst und Ohnmacht, der Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit und Solidarität und von der Schwierigkeit, in den Bedrückungen und Alpträumen der eigenen Existenz eine authentische Sprache zu finden. Die Erzählung ist 1979 entstanden und offensichtlich ein Paralleltext zu "Kein Ort Nirgends". Dass Christa Wolf diesen Text im Jahr seiner Entstehung in der DDR nicht publizieren konnte, ist nachvollziehbar. Missverständnisse löste ihr Vermerk aus, dass sie den Text im Sommer 1990 überarbeitet habe (was stilistisch, nicht inhaltlich gemeint war). Die Frage nach der Klarheit und Wahrheit der Geschichte, die Christa Wolf erzählt, verwandelte sich rasch in eine Frage nach der Konsequenz und Wahrhaftigkeit ihrer politischen Haltung, die sie in 40 Jahren DDR eingenommen hatte. Über den "Literaturstreit", der damit ausgelöst wurde und der im Vorwurf der "Gesinnungsästhetik" (Ulrich Greiner) sein denkwürdiges Stichwort gefunden hat, ist so viel geschrieben worden,
Christa Wolf hatte 1961 mit der "Moskauer Novelle" ihr erstes literarisches Werk publiziert. Zuvor war sie nach dem Abschluss des Germanistikstudiums 1953 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Schriftstellerverband, seit 1956 als Cheflektorin im Verlag "Neues Leben", 1958/59 als Redakteurin der Zeitschrift "Neue Deutsche Literatur" und bis 1962 als freischaffende Lektorin für den Mitteldeutschen Verlag in Halle tätig. Danach zog die Familie mit zwei Töchtern nach Kleinmachnow, wo Christa Wolfs literarische Karriere ihren Anfang nahm. Einbezogen in den kulturellen Funktionsbereich war sie von der Staatssicherheit am 24. März 1959 als "Gesellschaftliche Informantin" (GI) geworben und unter dem Decknamen "Margarete" geführt worden, wie ihr einziger handschriftlicher Bericht ausweist. Dass Christa Wolf die Mitarbeit unangenehm war, zeigen zwei Fakten: Sie hat wiederholt Termine ausfallen lassen und sich geweigert, Begegnungen in konspirativen Wohnungen zu vereinbaren. Insgesamt sind sieben Gespräche mit einem Mitarbeiter der Staatssicherheit dokumentiert, davon drei in Berlin, die vermutlich mit ihrer Tätigkeit als Redakteurin der NDL zusammenhingen, und vier Gespräche in Halle, in ihrer eigenen Wohnung im Beisein von Gerhard Wolf - ein Verstoß gegen die Regel der Konspiration. Als am 21. Januar 1993 die "Berliner Zeitung" den Vorgang aufgedeckt hatte, eskalierten Verdächtigungen und Vorwürfe, voran "Bild", "Die Welt" und "Der Spiegel". Nachdem Christa Wolf - als Beschuldigte wurden ihr die Akten später zugänglich als den Medien - von dem Sachverhalt im kalifornischen Santa Monica erfahren hatte, initiierte sie die Publikation des Vorgangs.
Nach Kenntnis der Fakten musste die Vehemenz der Attacken, denen Christa Wolf ausgesetzt war, erstaunen und befremden. Obwohl die Autorin auch einfühlende Deutungen des Vorgangs lesen konnte, wirkte vor allem das Pathos irritierend, mit dem sich Fritz J. Raddatz in der "Zeit" über Christa Wolf und - den mit unbewiesenen Vorwürfen mitverdächtigten - Heiner Müller entrüstete: "Mir scheint, beide haben nicht nur ihrer Biographie geschadet; sie haben ihr Werk beschädigt."
Dass Christa Wolf irritiert und verbittert reagierte, lässt sich nachvollziehen. Nach Lektüre der Akten gewann sie im Gespräch mit Günter Gaus die Einsicht: "Ein fremder Mensch tritt mir da gegenüber. Das bin nicht ich. Das muß man erst einmal verarbeiten. (...) Wer war ich eigentlich damals? Es ist ein schreckliches Entfremdungsgefühl, was mich überkommt, wenn ich das lese."
Wildes Denken
Mit "Medea" (1996) hat Christa Wolf die Mythenerkundung zu einem eindrucksvollen Abschluss geführt, in dem eine weit zurückblickende Spurensuche bis in die vorantike Überlieferung mit existenzieller Selbstreflexion sinnfällig verschränkt erscheint. "Medea" ist uns aus der Tragödie des Euripides als doppelte Kindsmörderin überliefert; sie war mit Jason und dem vom Vater geraubten Goldenen Vlies der Argonauten aus Kolchis in das ferne Korinth geflohen, bevor sie aus Eifersucht über die verratene Liebe Jasons als wilde Fremde einen unbegreiflichen Racheakt vornimmt.
Das Drama einer unmenschlichen Untat wird für Christa Wolf zur Grundfrage nach den Mechanismen, mit denen Schuldzuweisungen konstruiert und "Sündenböcke" produziert werden. Ihre Zweifel an der Wahrheit des von Euripides berichteten Geschehens führen sie zu der sicheren Überzeugung, dass der Ursprung der Geschichte ganz anders war und erst Machtinteressen und Gewaltfantasien eine Figur hervorgebracht haben, die der Gesellschaft als Entlastung für eigenes Fehlverhalten dient.
Die Tatsache, "daß eine Frau zum Sündenbock gemacht wird", ist nach Christa Wolf auch damit zu erklären, "daß die Autorin eben dieses Problem in dieser Zeit selbst sehr stark empfunden hat",
Mit "Medea" scheint ein Prozess abgeschlossen, in dem Christa Wolf sich selbst gefunden hat, auch wenn ihr vieles in der Lebenswelt des vereinten Deutschlands fremd geblieben ist: "Wildes Denken", das sie sich im Prozess des Schreibens angeeignet hat, weitet den Blick und lässt die Trauer über verlorene Utopien ertragen, ohne zu resignieren. So konnte sich Christa Wolf "Leibhaftig"(2002) nicht nur an Schmerz und Krankheit, sondern auch an die Paradoxien des Lebens in der DDR erinnern und viele neue Freunde in jenem Land gewinnen, das nun auch das ihre ist.
In einem einfühlsamen Text zu "Medea" hat die Turiner Germanistin Anna Chiarloni vor zwölf Jahren eine Erkenntnis formuliert, die heute ein Wunsch von Christa Wolf zu ihrem 80. Geburtstag sein könnte: "In der Mitte Europas hat plötzlich die Wende zwei Kulturen zusammengeworfen. Wichtig wäre es, daß jeder dem anderen die Möglichkeit gäbe, seine eigene Geschichte zu erzählen. Damit eine Erinnerungsgemeinschaft entsteht, die differenzierte Erfahrungen unterscheidet, erduldet und aufbewahrt."