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Der weite Weg zur "Zivilgesellschaft" | Kaukasus | bpb.de

Kaukasus Editorial Die Georgienkrise als weltpolitisches Thema Der weite Weg zur "Zivilgesellschaft" Schwelende Konflikte in der Kaukasus-Region Der Kaukasus zwischen Minderheiten- und Machtpolitik Ein Blick in die Geschichte Kaukasiens Aus den Augen - aus dem Sinn: Der Kaukasus in den Medien

Der weite Weg zur "Zivilgesellschaft"

Walter Kaufmann

/ 15 Minuten zu lesen

Im Südkaukasus sind in den vergangenen 15 Jahren zahlreiche Nichtregierungsorganisationen entstanden. Daraus aber auf die Existenz funktionierender Zivilgesellschaften zu schließen, wäre ein Irrtum.

Einleitung

Der Begriff "Zivilgesellschaft" ist seit Langem Gegenstand kontroverser Debatten in der politischen Wissenschaft. Bislang gibt es keine allgemein anerkannten Definitionen, die ihn von seiner terminologischen Unschärfe befreien würden. Hinzu kommt, dass gerade dort, wo der Begriff in den vergangenen 15 Jahren als politisches Schlagwort oder als Allgemeinbegriff für die Förderpraxis westlicher Geberorganisationen zu höchster Konjunktur gelangt ist - in den sogenannten postsozialistischen "Transformationsstaaten" - sich nur wenige die Mühe machen zu erklären, was sie eigentlich damit meinen.



Für die nun folgenden Ausführungen gehe ich von einer normativen Beschreibung von "Zivilgesellschaft" aus als "Sphäre kollektiven Handelns und öffentlicher Diskurse, die zwischen Privatbereich und Staat wirksam ist" und deren nicht-staatliche Akteure eine von Gewaltfreiheit und Toleranz gekennzeichnete Wertebasis teilen. In einer Demokratie bündeln zivilgesellschaftliche Initiativen Interessen und Themen und transportieren sie in den öffentlichen Diskurs. Sie bieten Zugänge für die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an gesellschaftspolitischen Reformprozessen und ergänzen die parlamentarische Kontrolle der Regierung durch eine gesellschaftliche. Außerdem übernehmen sie Aufgaben für das Gemeinwohl, oft an Stelle, aber mit Unterstützung des Staates. "Zivilgesellschaft" verfügt also über einen unmittelbaren Bezug zur Politik, auch wenn sie ihren Einfluss nicht über die Erringung politischer Macht, sondern über die Kontrolle derselben und die Beeinflussung der öffentlichen Meinung auszuüben versucht.

Wie in nahezu allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion waren die Ausgangsbedingungen für das Entstehen authentischer zivilgesellschaftlicher Initiativen auch in den drei neuen Staaten des südlichen Kaukasus (Georgien, Armenien und Aserbaidschan) schlecht. Zum einen wog das Erbe des überbordenden paternalistischen Staates schwer, der jede Form unabhängiger gesellschaftlicher Initiative zu erdrücken versucht und zugleich durch die vielen verordneten Formen "freiwilligen öffentlichen Engagements" die Idee ehrenamtlicher Arbeit nachhaltig diskreditiert hatte. Zum anderen hatten die Gesellschaften dieser Länder trotz oder gerade wegen der sowjetischen Zwangsmodernisierung viele traditionelle patriarchale Züge bewahrt. In Clans (modern "Netzwerke" genannt), die sich auf familiäre, landsmannschaftliche und freundschaftliche Bande stützten, verschlossen sich viele gegenüber dem Staat, aber zugleich auch gegenüber jeder Form politischer Öffentlichkeit.

Den größten Freiraum für unorthodoxes oder gar oppositionelles Denken, Schreiben und Handeln boten in der sowjetischen Phase Wissenschaft, Literatur und Kunst - Freiraum, der in den Hauptstädten der Peripherie (z.B. Tbilissi bzw. Tiflis und Eriwan) größer war als im Zentrum Moskau. So kamen auch die meisten Anführer der nationalen Unabhängigkeitsbewegungen in Georgien, Armenien und Aserbaidschan, die Ende der 1980er Jahre die Gesellschaften in einem zuvor ungeahnten Ausmaß politisch mobilisierten, aus dem Milieu von Wissenschaft und Kunst: Orientalisten, Regisseure, Biologen, Schriftsteller und Dichter wurden zu den (durchweg männlichen) Leitfiguren von Massenbewegungen, denen zu Beginn neben nationalen bzw. nationalistischen Motiven durchaus auch demokratische, liberale und ökologische Anliegen zugrunde lagen. Sehr verkürzt lässt sich sagen, dass die Tragik der Entwicklung in den frühen 1990er Jahren in allen südkaukasischen Staaten darin bestand, dass die demokratischen und zivilgesellschaftlichen Elemente der Unabhängigkeitsbewegungen im Zuge der militärischen Eskalation der ethnopolitischen Konflikte um Berg-Karabach (1991 - 94), Südossetien (1991/92) und Abchasien (1992/93) nahezu vollständig marginalisiert wurden.

Als 1994 die offenen militärischen Konfrontationen in allen drei Konflikten durch Waffenstillstandsabkommen (vorläufig) beendet wurden, hatten sich die Ausgangsbedingungen für das Entstehen von zivilgesellschaftlichen Initiativen noch deutlich verschlechtert: Aus allen drei Ländern war bis zu einem Drittel ihrer Bevölkerung emigriert, darunter viele Angehörige der städtischen Bildungseliten. In Armenien hatte sich eine autoritär regierte Kriegsgesellschaft formiert, die trotz dramatischer Energie- und Wirtschaftskrise einen militärischen Sieg über das viel größere und reichere Aserbaidschan davongetragen hatte, sich nun aber im Dauerkonflikt mit ihren direkten Nachbarn im Osten und Westen befand. In Aserbaidschan lagen nach chaotischen innenpolitischen Turbulenzen und der militärischen Niederlage im Karabach-Konflikt die Zügel nun wieder fest in der Hand des langjährigen KP-Chefs Gejdar Alijew, der nun begann, das Land zu einem international hofierten, straff autoritär geführten Ölrentenstaat umzubauen. Und Georgien war ein "Paradies in Trümmern", das nach Bürgerkrieg und zwei verlorenen Sezessionskriegen mit großen Flüchtlingsproblemen konfrontiert war. Sein einziges Pfand bestand im internationalen Renommee und den West-Beziehungen seines "heimgeholten" Präsidenten und früheren sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse.

Wenn man von heute aus zurückblickt, wird deutlich, wie stark diese unterschiedlichen Ausgangsbedingungen die Entwicklung von "Zivilgesellschaft" in den vergangenen zwölf bis 15 Jahren geprägt bzw. behindert haben. Um Zustand und Funktion von "Zivilgesellschaft" in den einzelnen Ländern zu verstehen, sollen nach einer kurzen Beschreibung der gegenwärtig wichtigsten Arbeitsfelder zivilgesellschaftlicher Organisationen einige wesentliche Charakteristika der im Südkaukasus tätigen NGOs genannt werden. Die zum Teil sehr großen Unterschiede zwischen Armenien, Aserbaidschan und Georgien werden dabei eher kursorisch behandelt; sie im Detail zu beschreiben und zu analysieren, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.

Wichtige Arbeitsfelder

Gleich zu Beginn sei festgehalten, dass eine "Zivilgesellschaft" im Sinne der anfangs genannten Definition bis heute in keinem der südkaukasischen Staaten besteht: Wer hier von "Zivilgesellschaft" spricht, meint in der Regel nur den "NGO-Sektor", also die Gesamtheit der in den verschiedenen Ländern nach der jeweiligen Rechtslage registrierten Nichtregierungs- bzw. "gesellschaftlichen Organisationen". Dabei übersteigt nach Schätzungen in allen drei Staaten die Zahl der statistisch erfassten und registrierten Organisationen die Zahl der tatsächlich im Sinne kontinuierlicher Arbeit, Personal und Infrastruktur bestehenden NGOs um bis das Zehnfache. Der Begriff "NGO-Sektor" bringt auch einige zentrale Wesensmerkmale besser zum Ausdruck, die für die Entwicklung und die heutige Eigenschaft zivilgesellschaftlicher Initiativen im Südkaukasus kennzeichnend sind: Die meisten Organisationen arbeiten nicht auf ehrenamtlicher, sondern auf professioneller Basis, das heißt, sie verfügen über einen festen Mitarbeiterstab, der für seine Leistungen in verschiedenen Projekten finanziell honoriert wird. Zwar muss eine juristisch registrierte NGO ähnlich wie in Deutschland über eine Satzung, über Vereinsstrukturen, über Gründungsmitglieder und über einen ehrenamtlichen Vorstand verfügen, aber aktive Vereinsmitgliedschaft und Entscheidungshoheit der Mitgliederversammlung spielen nur bei einigen wenigen Organisationen eine Rolle.

"NGO-Sektor" transportiert auch deutlicher die untrennbare Verbindung des übergroßen Anteils von Nichtregierungsorganisationen mit der Förderpraxis und -agenda westlicher Geberorganisationen. Ohne die finanzielle Förderung, den Wissenstransfer und die politische Unterstützung durch westliche Förderprogramme seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wären die meisten der heute bestehenden Nichtregierungsorganisationen nicht existent. Dieser Umstand delegitimiert sie jedoch in keiner Weise: Um 1995 waren weder politisch, wirtschaftlich noch personell die notwendigen Voraussetzungen für den Aufbau staatsunabhängiger Organisationen ohne externe Hilfe gegeben. Auch wenn sich der NGO-Sektor in Georgien aus verschiedenen Gründen (s. u.) schneller und dynamischer entwickelte, so bestehen heute auch in Armenien und Aserbaidschan zahlreiche etablierte Nichtregierungsorganisationen. Ein Teil von ihnen arbeitet als nationale Ableger internationaler Organisationen, wie Amnesty International, Transparency International, Human Rights Watch oder der World Wildlife Fund. Bedeutende NGOs haben sich vor allem auf folgenden Arbeitsfeldern etabliert:

  • Menschenrechts-Monitoring, Rechtsberatung und Durchsetzung des Rule of Law, Minderheitenrechte (v. a. Georgien);

  • Korruptionsbekämpfung und Durchsetzung der Transparenz politischer Entscheidungsprozesse, Monitoring internationaler Konventionen;

  • Aufbau unabhängiger Medien, Journalistenausbildung;

  • Durchsetzung von Frauenrechten und Förderung der politischen Partizipation von Frauen;

  • Umwelt- und Naturschutz;

  • Konfliktbearbeitung.

Eine Sonderform bilden sogenannte Think-Tanks, also NGOs, deren Arbeit im Wesentlichen in der wissenschaftlichen Analyse politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen besteht. Häufig verbinden sie ihre Forschungs- und Publikationstätigkeit mit Ausbildungsangeboten für junge Akademiker. Außerdem besteht eine Vielzahl kleinerer NGOs, die Trainings- und Qualifizierungsprogramme für unterschiedliche Zielgruppen durchführen (oft im Rahmen von Förderprogrammen internationaler Geberorganisationen, etwa zur ländlichen Entwicklung oder der Integration von Flüchtlingen). Worin bestehen nun die spezifischen Charakteristika von Nichtregierungsorganisationen im Südkaukasus? Worin liegen ihre größten Potentiale, und wie begründen sich ihre Defizite? Im Folgenden sollen vier Aspekte beschrieben werden, die mir wesentlich erscheinen, auch wenn sie nur einen Teil der komplexen Realität erfassen können.

"Zivilgesellschaft" als exklusives Berufsfeld junger städtischer Eliten

Ein erster, für das Verständnis von Stärken und Schwächen des NGO-Sektors im Südkaukasus hilfreicher Erklärungsansatz besteht darin, seine Bedeutung als Berufsfeld junger, meist den städtischen Bildungseliten entstammender Akademiker zu betonen. Die meisten heute aktiven Nichtregierungsorganisationen wurden in den vergangenen zehn bis 15 Jahren von Akademikern gegründet, die angesichts der Krise an Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen nach neuen bzw. zusätzlichen inhaltlichen und materiellen Perspektiven suchten. Mit dem relativ raschen Anwachsen einiger NGOs seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre und der sie stützenden westlichen Förderprogramme entstand ein begrenzter, aber sehr attraktiver Arbeitsmarkt für junge Universitätsabsolventen mit Computer- und Fremdsprachenkenntnissen. Vor allem in Georgien boten einige der größeren NGOs die - nach Botschaften, internationalen Organisationen und Stiftungen - attraktivsten Arbeitsplätze in Bezug auf Qualifizierungsmöglichkeiten,internationale Kontakte, Reisen und Gehalt. Anders war die Situation in Aserbaidschan: Hier wurden die rechtlichen und politischen Arbeitsmöglichkeiten für NGOs wesentlich stärker eingegrenzt, während der sich im Zuge des beginnenden Ölbooms rasant wachsende Banken- und Immobiliensektor die stärkste Anziehungskraft auf qualifizierte Nachwuchskräfte ausübte. Insgesamt zog der NGO-Sektor in allen drei Ländern deutlich mehr Frauen als Männer an, was vermutlich auf die tradierten Geschlechterrollen und das häufig eher sozialwissenschaftlich und philologisch ausgerichtete Ausbildungsprofil von Frauen zurückzuführen ist.

Eine positive Wirkung des "Berufsfeldes NGO" besteht für Georgien und Armenien darin, dass für die kleinen Eliten dieser Länder ein spürbarer Qualifizierungseffekt von den NGOs ausgeht. Die Professionalität, Präzision und Kommunikationsfähigkeit der meist jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter führender NGOs wie der Georgian Young Lawyers Association oder des armenischen Freedom of Information Center beeindruckt. Sie haben gelernt, vor Gericht erfolgreiche Musterprozesse zu führen und Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof zu vertreten, Wahlfälschungen durch kritisches Monitoring deutlich zu erschweren oder kaukasische Anliegen in internationalen Netzwerken zur Geltung zu bringen. Darüber hinaus gibt es mittlerweile zahlreiche sehr professionell, schnell und vielsprachig arbeitende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Verwaltungen, Banken und Universitäten, und zumindest ein Teil von ihnen hat aus der persönlichen NGO-Vergangenheit auch eine mentale "Demokratisierung" mitgebracht.

Die negative Seite des "Berufsfeldes NGO" besteht darin, dass die inhaltliche Bindung vieler NGO-Akteure an die Mission ihrer Organisation oft recht schwach ist und eine "NGO-Station" vor allem als positiver Aspekt für den eigenen Lebenslauf gesehen wird. Außerdem wirken die professionellen Anforderungen exklusiv: Menschen ohne Computer- und Fremdsprachenkenntnisse finden allenfalls als Zielgruppe Zugang zum NGO-Sektor, der sich zudem auf die Hauptstädte konzentriert. Originäre Selbsthilfeinitiativen oder ehrenamtliche Vereine, die auch ohne Grant (finanz. Förderung) ihrer Tätigkeit nachgehen, bilden die Ausnahme von der Regel. Zwischen derartigen Gemeinweseninitiativen und den großen Hauptstadt-NGOs besteht ein sehr großer Niveauunterschied im Hinblick auf Ressourcen, Know-how und Kontakte. Einige der wichtigsten Hauptstadt-NGOs versuchen über eigene Filialen, Trainingsprogramme und die Vermittlung zu Geldgebern den Rückstand regionaler NGOs zu verringern, doch bleiben diese auch wegen der jenseits der Hauptstädte noch weit repressiveren politischen Bedingungen grundsätzlich benachteiligt.

"Zivilgesellschaft" als Oppositionsersatz

Ein zweiter wichtiger Grund für die Bedeutung und zugleich die strategische Schwäche zivilgesellschaftlicher Organisationen im Südkaukasus liegt im Fehlen einer wirksamen politischen Opposition im Sinne oppositioneller Parteien und Parlamentsfraktionen. Wie in den meisten postsowjetischen Staaten konsolidierten sich auch Georgien, Armenien und Aserbaidschan als semi-autoritäre Präsidialregimes ohne Gewaltenteilung, starke Parlamente und unabhängige Justiz. Allen gegenteiligen Deklarationen zum Trotz fanden keine freien und fairen Wahlen statt, elektronische Medien wurden strenger Kontrolle unterworfen, und politische Opponenten wurden entweder systematisch aus dem politischen System ausgegrenzt oder durch das Angebot lukrativer Posten im System kooptiert. Daher blieb vielen oppositionellen Akteuren für ihren politischen Kampf gegen die Regierung nur die "Nische Zivilgesellschaft": Sie begannen nun, auf den Themenfeldern Menschenrechte, freie Wahlen, freie Medien etc. ihre jeweilige autoritäre Regierung zu attackieren und dafür ihren Zugang zu internationalen Organisationen (Europarat, OSZE u.a.) zu nutzen. Das zumindest war genau die Wahrnehmung der örtlichen Regierungen, die sich jeder Zusammenarbeit mit den als oppositionell eingestuften NGOs verweigerten, diesen zahlreiche administrative und steuerliche Hürden in den Weg stellten und sie über die staatseigenen Medien nach Kräften diskreditierten. Ein weiteres probates Mittel war, den angeblich oder tatsächlich mit der politischen Opposition liierten Menschenrechts-NGOs (im Expertenslang auch bezeichnet als "ONGOs" - opposition owned NGOs) eigene, regierungsnahe "GONGOs" (governmental owned NGOs) entgegenzustellen. Ein im übrigen gern genutztes Instrument, um die Unbedarfteren unter den westlichen Geberorganisationen in die Irre zu führen.

Während es den durch wichtige politische und ökonomische Ressourcen "starken" Regimes in Aserbaidschan und Armenien gelang, auf diesem Weg den NGO-Sektor klein zu halten und politisch zu neutralisieren, war die georgische Regierung um Präsident Schewardnadse wesentlich angreifbarer: Innenpolitisch durch ausufernde Korruption nahezu handlungsunfähig, bestand ihre wichtigste politische und ökonomische Ressource in dem durch Schewardnadse verkörperten Image einer prowestlichen, demokratischen Orientierung. Dadurch - und durch die Konzentration westlicher Fördergelder auf Georgien - entfaltete sich der NGO-Sektor quantitativ und qualitativ in Georgien viel dynamischer als in den Nachbarstaaten.

Die "Rosenrevolution" im November 2003, für deren Erfolg das kritische Monitoring von Wahlen, die Antikorruptionskampagnen, die Berichte zur Menschenrechtssituation und die internationale Lobbyarbeit führender NGOs eine wichtige Rolle spielten, stürzte jedoch den georgischen NGO-Sektor bald nach dem Triumph in eine tiefe Krise: Viele Akteure verließen die NGOs, um unter der neuen, "eigenen" Regierung staatliche oder politische Funktionen zu übernehmen.

Eine der kritischsten Menschenrechtsorganisationen, das Liberty Institute, wandelte sich in kürzester Zeit zu einem regierungsnahen Think-Tank, der repressive Maßnahmen der neuen Machthaber rechtfertigte. Der zuvor oppositionell eingestellte private TV-Sender Rustavi 2, bis dahin wichtigste Bühne der NGOs, wurde zum Verlautbarungs-Organ der neuen Regierung unter Michail Saakaschwili. Und schließlich reduzierten westliche Geberorganisationen die Unterstützung für NGOs, um stattdessen direkt in die Reformprogramme der neuen "demokratischen" Regierung zu investieren. Leider setzte diese zur Konsolidierung des Landes jedoch auf einen eher autoritären, zentralistischen Stil; tatsächliche Gewaltenteilung, Medienfreiheit und Dezentralisierung blieben uneingelöste Versprechen. Saakaschwili half sein prowestliches Image mehr als vier Jahre lang, politische und zivilgesellschaftliche Opposition nicht zu Wort kommen zu lassen, ohne dafür international kritisiert zu werden. Diejenigen NGOs, die auch gegenüber der neuen Regierung Unabhängigkeit und kritische Distanz wahrten, wurden von dieser als "oppositionell" oder gar "verräterisch" gebrandmarkt und aus politischen Konsultationsprozessen ausgeschlossen. Die Folge war eine erhebliche Polarisierung und Schwächung des NGO-Sektors, die bis heute nicht überwunden ist.

"Zivilgesellschaft" als West-Import

Von konservativen nationalistischen Kräften in allen südkaukasischen Regionen wird oft versucht, zivilgesellschaftliche Initiativen insgesamt als West-Import zu diskreditieren. Argumente dafür finden sich leicht - von der hohen finanziellen Abhängigkeit von westlichen Gebern und der damit verbundenen mittelbaren Abhängigkeit von deren Agenda bis zur nicht selten erfolgreichen Imitation von NGO-Tätigkeit durch Akteure, die vor allem an die westlichen Fördergelder gelangen wollen.

Doch sollen mit diesem Argument meist gerade diejenigen Initiativen getroffen werden, denen es dank mutigen gesellschaftspolitischen Engagements ihrer Mitglieder, ihrer in jahrelanger Arbeit aufgebauten Qualifikation, ihrer internationalen Vernetzung sowie der langjährigen Unterstützung durch westliche Partner tatsächlich gelungen ist, effektiven Druck zur Durchsetzung ihrer Anliegen aufzubauen bzw. wichtige Beratungs- und Serviceleistungen für ihre Zielgruppen zu erbringen. Menschenrechtsorganisationen wie das Institut für Frieden und Demokratie (Baku) hätten als "West-Import" niemals die ihnen mittlerweile zukommende Autorität erringen können.

Zur Imitation geradezu verführt werden südkaukasische NGOs aber des Öfteren durch die Art und Weise, in der Geberorganisationen ihre eigenen Agenden und Regelwerke importieren, ohne sich ernsthaft mit den Prioritäten ihrer lokalen Partner auseinanderzusetzen. Die Gefahr der Imitation ist umso größer, je stärker die verwendeten Terminologien westlichen oder internationalen Diskursen entstammen, die in den lokalen Öffentlichkeiten (noch) keine Aufnahme gefunden haben.

"Zivilgesellschaft als Konfliktlösungselement"

Eine besondere Rolle kommt zivilgesellschaftlichen Initiativen in der Krisenregion Südkaukasus bei der zivilen Bearbeitung der ethnopolitischen Konflikte zu. In diesem Themenfeld halte ich den Begriff "zivilgesellschaftliche Initiative" tatsächlich für angebracht. Für wirksame Beiträge zur Konfliktbearbeitung sind authentisches Engagement und persönlicher und politischer Mut notwendig. Solche Aktivitäten werden meist mehr von konkreten Personen als von Organisationen geprägt. Zivilgesellschaftliche Initiative ist für die Förderung von Friedensfähigkeit und den Aufbau von Vertrauen auf mehreren Ebenen notwendig:

  • Nach innen - in der jeweils eigenen Gesellschaft - durch die öffentliche Auseinandersetzung mit den dominanten nationalistischen Ideologien und den von ihnen gestützten Narrativen und Tabus, durch die Erarbeitung und Diskussion kompromissfähiger Vorschläge und Positionen, durch das Schaffen von Transparenz und Öffentlichkeit zu den Verhandlungsprozessen und durch die Einbeziehung der am meisten vom Konflikt Betroffenen (Flüchtlinge, Veteranen etc.).

  • Zwischen den Konfliktparteien durch die Anbahnung informeller Kontakte und die Organisation regelmäßiger Dialoge, bei denen beide Seiten gleichberechtigt und unbelastet von ungelösten bzw. unlösbaren Statusfragen ihre Positionen darstellen können; durch die Organisation von Medienbrücken über die bestehenden Informationsblockaden hinweg, und schließlich durch die Erarbeitung gemeinsamer Vorschläge für eine realistische Politik der Deeskalation.

  • Durch kritische Begleitung der Arbeit internationaler Vermittler, die auf Feedback aus den betroffenen Gesellschaften angewiesen sind und deren Arbeit nur dann Erfolg haben kann, wenn sie auf ein Mindestmaß an Akzeptanz bei den Konfliktparteien stößt.

Eine wichtige Voraussetzung für zivilgesellschaftliche Vermittlungsinitiativen in den südkaukasischen Sezessionskonflikten besteht darin, dass sich auch in den nicht anerkannten De-facto-Staaten regierungsunabhängige Initiativen entfalten können. Im bevölkerungsarmen, von Russland repressiv kontrollierten Südossetien ist das praktisch nicht der Fall, während sich in Berg-Karabach ansatzweise und in Abchasien ausgeprägt ein vitales NGO-Milieu herausgebildet hat. Seine Akteure unterstützen zwar jeweils den Standpunkt der Unabhängigkeit ihrer Region, wollen diese Unabhängigkeit aber demokratisch ausgestaltet sehen und haben darüber hinaus ein starkes Interesse an Kontakten in die Europäische Union. Die Besonderheit dieser Initiativen in Abchasien liegt darin, dass sie ihre Arbeit zu Menschenrechten, Medienfreiheit, Integration Behinderter oder Jugendbildung zehn Jahre lang ohne jede finanzielle Unterstützung von außen und unter extremen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen (Isolation, Wirtschaftsblockade, Kriegszerstörungen) entwickelten. Gegen Widerstand und Misstrauen aus der eigenen Gesellschaft beteiligten sie sich über viele Jahre an verschiedenen georgisch-abchasischen oder gesamtkaukasischen Dialogformaten. Damit öffneten sie für ihre Gesellschaften zugleich ein "Fenster zur Außenwelt" bzw. "zum Westen", das für den politischen Dialog mit den ansonsten isolierten bzw. einseitig auf Russland ausgerichteten Sezessionsrepubliken von hoher Bedeutung ist.

Fazit

Trotz zahlreicher, teilweise sehr engagiert und erfolgreich arbeitender Nichtregierungsorganisationen gibt es bis heute in keinem der südkaukasischen Länder eine funktionierende "Zivilgesellschaft". Das liegt in erster Linie an den fehlenden politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen, die für einen pluralistischen öffentlichen Diskurs und echte Partizipations- und Kontrollmöglichkeiten politisch engagierter Bürgerinnen und Bürger erforderlich sind. Doch auch der in allen Regionen des Südkaukasus bestehende, unterschiedlich ausgeprägte NGO-Sektor muss sich weiterentwickeln, um einen wirklich effektiven Beitrag für das Entstehen von "Zivilgesellschaft" zu leisten: Notwendig sind unter anderem die Konzentration auf die relevanten politischen und sozialen Prozesse im Innern statt auf die Agenda internationaler Geber von außen, Transparenz und Demokratie in der eigenen Organisation, die Suche nach Mitstreitern statt Abgrenzung gegenüber möglicher Konkurrenz sowie die Öffnung gegenüber der "einfachen Bevölkerung" statt elitärer Abkapselung - dies sind nur einige Stichworte, um die Richtung aufzuzeigen.

Zivilgesellschaftliche Initiativen im Südkaukasus sollten nicht zur Projektionsfläche unrealistischer Erwartungen gemacht werden. Sie alleine können die massiven Demokratiedefizite nicht beheben. Doch wird es umgekehrt ohne sie nicht gelingen, politischen Pluralismus zu verwurzeln, politische Entscheidungsprozesse transparent zu machen, Rechtssicherheit zu erringen und sozial Benachteiligte zu integrieren. Deshalb bedürfen zivilgesellschaftliche Initiativen neben der finanziellen Unterstützung vor allem der langfristigen politischen Begleitung durch die "Mühen der Ebene". Erst wenn sie in der Lage sind, ihre Projekte nachhaltig zu verankern und gegenüber widrigen politischen Bedingungen zu verteidigen, werden sie auf längere Sicht Erfolg haben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Peter Thiery, Zivilgesellschaft, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Kleines Lexikon der Politik, München 20022, S. 593.

  2. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Elke Fein/Sven Matzke, Zivilgesellschaft. Konzept und Bedeutung für die Transformation in Osteuropa, Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin 7/1997.

  3. Gemessen am Stand der letzten sowjetischen Volkszählung von 1989.

  4. Naira Gelaschwili, Georgien - Ein Paradies in Trümmern, Berlin 1993.

  5. Schätzung von Alexander Iskandarian, Leiter des Kaukasus-Institutes Eriwan, Telefoninterview 22. 1. 2009.

  6. Aus Platzgründen kann hier auf das im Südkaukasus sehr dicht vertretene Spektrum westlicher Geberorganisationen nicht näher eingegangen werden. Als finanziell wichtigste Sponsoren für die Projekte von NGOs seien hier nur USAID und die von USAID finanzierte Eurasia Foundation, das National Democratic Institute, die Delegationen der EU-Kommission und die Open-Society-Stiftungen genannt.

  7. So zum Beispiel das Kaukasus-Institut Eriwan, das Kaukasische Institut für Frieden, Entwicklung und Demokratie in Tbilissi, die Georgische Stiftung für Strategische und Internationale Studien oder das Zentrum für Nationale und Internationale Studien in Baku.

  8. Neben "ONGOs" und "GONGOs" gibt es in diesem Jargon außerdem noch "BINGOs" (business owned NGOs) und "MANGOs" (mafia owned NGOs) - die Unterschiede wurden dem Verfasser in Aserbaidschan schon zu Beginn seiner Tätigkeit auseinandergesetzt.

  9. Es gibt zahlreiche Fälle zweifelhafter NGO-Gründungen als Reaktion auf die Ausschreibung westlicher Förderprogramme (siehe Anm. 8).

  10. Zum Beispiel Gender Mainstreaming, Globalization oder Good Governance.

  11. Exakter wäre der Begriff "Konfliktfähigkeit", verstanden als die Fähigkeit, konstruktiv und gewaltfrei mit den unvermeidlichen Interessens-, Wahrnehmungs- und Zielkonflikten in der kulturell, ethnisch und sprachlich extrem heterogenen Region Südkaukasus umzugehen.

  12. Ein positives Beispiel ist die Arbeit des Kaukasischen Hauses in Tbilissi, das sich in seiner Publikations- und Seminartätigkeit seit vielen Jahren kritisch mit den Ursachen der georgischen Sezessionskonflikte auseinandersetzt und sich vor allem der Anliegen der nichtgeorgischen Minderheiten annimmt.

  13. Als Beispiel seien hier die seit 1996 vom Citizens Peace Building Center der University of California/Irvine und der Heinrich-Böll-Stiftung (seit 2003) regelmäßig unter dem Titel "Aspekte des georgisch-abchasischen Konfliktes" organisierten Treffen von nichtstaatlichen Akteuren beider Seiten genannt. Vollständige Protokolle dieser Treffen, bei denen sehr offen über das gesamte Spektrum der mit dem Konflikt verbundenen Fragen diskutiert wurde, wurden in russischer Sprache veröffentlicht und auf beiden Seiten der Konfliktlinie breit verteilt (Siehe www.socsci.uci. edu/~cpb/progs/projpubs.htm, 28. 1. 2009).

  14. Am weitesten entfernt von diesen Bedingungen ist heute Aserbaidschan, während Georgien und Armenien sich auf einem von vielen Widersprüchen gekennzeichneten Reformweg befinden.

M. A., geb. 1966; Osteuropahistoriker, 2002 bis 2008 Leiter des Regionalbüros Südkaukasus der Heinrich-Böll-Stiftung in Tbilissi/Georgien, zuvor Osteuropa-Referent der Stiftung.
E-Mail: E-Mail Link: walter.kaufmann@gmx.eu